Mittwoch, 19. November 2014

Im Labyrinth des Schweigens

Mit seinem Spielfilmdebüt packt Giulio Ricciarelli ein Thema an, von dem die Nation in den ersten zwei Nachkriegsjahrzehnten nichts wissen wollte und an dem fast 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs erneut das Interesse offenbar erlahmt. In dem Kino, in dem ich das „Labyrinth des Schweigens“ sah, saß nur eine Handvoll alter Leute.

„Im Labyrinth des Schweigens“ erzählt die Geschichte von Johann Radmann (Alexander Fehling), der sich trotz völliger Unkenntnis der historischen Zusammenhänge als einziger Staatsanwalt der Frankfurter Justizbehörde mit dem Thema Auschwitz und den NS-Kriegsverbrechen beschäftigen will. Unterstützt wird er dabei nicht nur von dem Journalisten Thomas Gnielka (André Szymanski), sondern auch von Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (großartig der nach den Dreharbeiten verstorbene Gert Voss). 
Bauer selbst hat als Jude und Sozialdemokrat ein Lager überlebt und sagt Radmann auf den Kopf zu, dass die Nation kein Interesse an dem Thema hat und zudem in entscheidenden Positionen viele Alt-Nazis sitzen. Radmann wird bei seinen Ermittlungen auf ein Labyrinth stoßen, in dem alle schweigen, so Bauer. Tatsächlich werden sie aber nicht nur schweigen, sondern die von Radmann gesuchten NS-Kriegsverbrecher sogar decken oder aktiv unterstützen. Zu den Netzwerken gehören in Ricciarellis Film nicht nur die Polizeibehörden, sondern auch das BKA. Tatsächlich konnte man aber auch von den deutschen Nachrichtendiensten wenig erwarten. Der BND wurde erst ab Mitte der 1960er Jahre von Nazis gesäubert.

Der Nürnberger Prozess wurde von der Öffentlichkeit als ein Prozess der Alliierten wahrgenommen. In der Folge wurden zwar 50.000 weitere NS-Täter vor Gericht gestellt, aber nur wenige Urteile gefällt. Danach wollte die junge Republik nichts mehr von ihrer Vergangenheit wissen. Die Akten von 600.000 SS-Männern lagerten derweil in endlosen Regalgängen der US-Militärverwaltung. 

Ricciarelli zeigt die als Selbstverständlichkeit erlebte Immunisierung in seinem Film anhand von zwei exemplarischen Szenen: der Journalist Thomas Gnielka sucht mit dem Auschwitz-Opfer Simon Kirsch (Johannes Krisch) die Frankfurter Staatsanwaltschaft auf, um einen ehemaligen SS-Mann aus Auschwitz anzuzeigen, dem Kirsch zufällig begegnet ist. Der Mann unterrichtet unbehelligt an einer Schule. Die Staatsanwälte zeigen sich völlig desinteressiert. Die Anzeige landet im Papierkorb. Nur Radmann, der sich ausschließlich mit Verkehrsdelikten herumschlägt, wird zögern und das Schreiben wieder aus dem Abfall ziehen.
Später zeigt Ricciarelli, wie im Gerichtsgebäude zufällig Menschen angesprochen werden, darunter auch sehr junge Mitarbeiter der Justizbehörde: Was ist Auschwitz? Was passierte dort? Man sieht fragende Gesichter. Auschwitz war doch ein Schutzlager, sagt ein Kollege zu Radmann.
Wir sind im Jahr 1958.


Aspekte der Verdrängung

Damit zeigt Ricciarelli gleich am Anfang seines Films, dass die kollektive Verdrängung zwei Seiten hat: Einerseits gab es Täter und Mitläufer, die ein hohes Interesse daran hatten, dass ihre Schuld nicht öffentlich wurde, andererseits haben Ende der 1950er Jahre bereits viele junge Menschen de facto nichts über die Nazi-Verbrechen gewusst. Ist das authentisch? 

Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass ich in den späten 1960er Jahren in der Schule nur spärlich über den Holocaust informiert wurde und erst während des Studiums erfuhr, dass große Teile der Justiz, der Verwaltung und der Ermittlungsbehörden mit ehemaligen Parteigenossen besetzt waren. Sie hatten dank der umfassenden Entnazifizierung kaum etwas zu befürchten.

Andererseits, und das ist eines der größten Themen der Aufarbeitung geworden, sprachen die Väter nicht mit ihren Söhnen.

„Wollen Sie, dass alle Söhne ihre Väter fragen, ob sie Mörder gewesen sind?“, wird Radmann von Oberstaatsanwalt Walter Friedberg (Robert Hunger-Bühler) gefragt. „Ja, genau das will ich!“, antwortet Radmann.
Er wird am Ende der fünfjährigen kräftezehrenden Ermittlungsarbeit fast zusammenbrechen, als er erfährt, dass sein Vater ebenfalls ein Parteimitglied war. Der junge Jurist wusste dies nicht, nein, er konnte es sich nicht einmal vorstellen. Auch das ist eine Form der Verdrängung, die Giulio Ricciarelli psychologisch sehr glaubwürdig spielen lässt.

Überhaupt gelingen Ricciarelli in seinem Debütfilm bewegende Szenen: Radmanns Sekretärin Schmittchen (Hansi Jochmann) kann kaum noch den psychischen Druck der Grausamkeiten bewältigen, von denen sie beim Stenografieren der Zeugenaussagen erfährt. Und Kollege Haller (Johann von Bülow), der die Gerüchte über Auschwitz für ein arrangiertes Hirngespinst der Siegerjustiz hält und widerwillig als Verstärkung zu Radmanns Team hinzugezogen wird, wird bereits nach der ersten Akteneinsicht vom Saulus zum Paulus.

Überhaupt ist der Film durchgehend exzellent gut besetzt. Alexander Fehling („Goethe!“, „Wir wollten aufs Meer“) spielt den jungen Staatsanwalt als Simplicissimus, der nicht zu Unrecht als „Grünschnabel“ bezeichnet wird und sich das fehlende historische Wissen auf schmerzhafte Weise erarbeiten muss. Die Arbeit an den Fällen verändert ihn spürbar und macht ihn beinahe manisch, als er sich zu sehr auf die Jagd nach dem berüchtigten Auschwitz-Arzt Dr. Josef Mengele fokussiert.
Johann von Bülow ist die Rolle des Staatanwaltes Otto Haller wie auf den Leib geschrieben. Überragend die Interpretation von Gert Voss, der den Generalstaatsanwalt als altersweisen, aber beinahe schon resignierten Überlebenden des NS-Regimes spielt, dennoch aber eine beinahe unheimliche Energie bei der Unterstützung Radmanns aufbringt.
Friederike Becht als Radmanns Freundin Marlene bedient nicht nur das Love Interest des Films, sondern führt vor, dass Radmanns Arbeit zu einer psychischen Extremsituation führt, an der Beziehungen zerbrechen können. Becht funktioniert damit zwar als Plotvehikel, spielt die junge Moderschöpferin
aber glaubwürdig als intelligente Frau, die in die Zukunft blickt und nicht nach hinten schauen will und dabei ihre naive Arglosigkeit erst noch entdecken muss.
Richtig gut hat mir aber die tolle Hansi Jochmann gefallen, die in ihrer kleinen Rolle wenig zu sagen hat, aber durch ihre Körpersprache und Mimik mehr ausdrückt, als andere mit vielen Worten erklären können. Eine tolle, sehr gelungene Nebenrolle.

Auch formal kann „Im Labyrinth des Schweigens“ überzeugen. Kameraarbeit (Roman Osin, Martin Langer) und Schnitt (Andrea Mertens) vermeiden eine minimalistische Montage aus theaterhaften Totalen, wie ich es schon einigen Filmen mit diesem Sujet gesehen habe, lösen die Szenen aber nicht mit zu viel Tempo auf und sorgen damit für einen ruhigen Erzählfluss, der sein Tempo aus der zunehmend beschleunigten Entwicklung der Ereignisse bezieht. Schlicht, aber dadurch messerscharf ist die Montage, wenn sie auf die anfänglichen noch gezeigten Einlassungen der Beschuldigten gänzlich verzichtet und nur noch die Gesichter der Angeklagten aneinanderreiht: Es sind normale Männer. Aber sehen Monster anders aus? Eher nicht.


Überzeugende Rekonstruktion deutscher Geschichte

Die Arbeit von Fritz Bauer, Johann Radmann und dessen Kollegen (tatsächlich waren es damals drei Staatsanwälte) führt schließlich zur Festnahme von Robert Mulka, dem Adjutanten des Lagerkommandanten Rudolf Höß, und weiterer NS-Verbrecher. Real sind in dem Film neben den historischen Ereignissen und den zeitgeschichtlich bekannten Personen die Figuren des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, des Journalisten Gnielka und des Mitbegründers des Internationalen Auschwitz Komitees Hermann Langbein (Luhas Miko). Die meisten anderen Figuren sind fiktiv. 
1963 findet der erste von drei Auschwitz-Prozessen vor dem Landgericht Frankfurt am Mai statt. Einige Nebenprozesse mit eingerechnet, enden die Verfahren erst Anfang der 1980er Jahre.

Mit seinem Spielfilmdebüt hat Giulio Ricciarelli einen großen Wurf gelandet. „Im Labyrinth des Schweigens“ wird der beginnende Wandel der deutschen Nachkriegsjustiz mit präzisen, genau beobachteten und gut recherchierten Szenen zu einer durchweg spannenden, aber nicht künstlich dramatisierten, einzigartigen Rekonstruktion deutscher Geschichte und deren Be- und Empfindlichkeiten. Ricciarelli und Drehbuchautorin Elisabeth Bartel ist ein starkes Stück Kino gelungen, das auch die Frage hinterlässt, warum man so lange auf einen derartigen Film warten musste. 

Über die Figur des Johann Radmann hat Ricciarelli in einem Interview gesagt: „Auf einer Metaebene ist er die junge Republik, mit der Naivität am Anfang und dem Fast-Zerbrechen daran. Die Mengele-Figur, in die er sich verbeißt, hat auf der psychischen Ebene viel damit zu tun, denn es ist leicht, den Dämon zu hassen, aber was ist mit den Normalen, die, die z.B. das Zyklon B eingefüllt haben - sind die nicht dramatisch genug? Das ist auch ein Reifeprozess der Figur, sich der Normalität zu stellen.“

Möglicherweise eine Feststellung mit Schlüsselcharakter, denn es waren nicht nur die ‚normalen’ Täter (ein bezeichnender Euphemismus), sondern auch die stillen Mitläufer und Profiteure des NS-Regimes, die erfolgreich verdrängt haben. Aber zum Verdrängen gehörte eben nicht nur das Unterdrücken des eigenen unangenehmen Wissens, sondern auch dessen Nichtvorhandensein. Wer dies für paradox hält, sollte sich diesen Film einfach mal anschauen. Denn wer die eigene Geschichte nicht zur Kenntnis nimmt, auch wenn er nicht schuldhaft daran beteiligt war, sorgt für eine Haltung, die durchkreuzt werden muss. Gerade weil Viele mittlerweile glauben, dass nun endlich Schluss sein müsse.


Die historischen Hintergründe: Der Bock wird zum Gärtner gemacht

„Durch die Denazifizierung ist viel Unheil und viel Unglück angerichtet worden“ stellt Konrad Adenauer 1945 vor dem Bundestag fest und fügt hinzu, dass die Schuldigen bestraft werden müssen, aber man nicht länger zwischen zwei Klassen von Menschen in Deutschland unterscheiden soll. Die Unterscheidung zwischen politisch Einwandfreien und nicht Einwandfreien müsse verschwinden. 

Adenauer hatte dies formuliert, weil geheime Umfragen der Alliierten ein ernüchterndes Ergebnis präsentierten: Die Mehrheit der Deutschen hielt den Nationalsozialismus nach wie vor für eine gute Idee, die lediglich schlecht durchgeführt worden war. 

Rasch wird ein Gesetz eingebracht, das minderschwere Verbrechen aus der Nazizeit amnestiert. Eines der ersten Gesetze des Bundestages. Die Akten sollen nach Adenauers Vorstellung unter Verschluss bleiben, was leicht fällt, da die Amerikaner den Zugang kontrollieren, so wie es auch im „Labyrinth des Schweigens
dargestellt wird. 

Anfang der 1950er will Adenauers junge Republik dann wegen Personalmangels wieder auf hoch belastete Täter zurückgreifen, die von den Alliierten aus ihren Ämtern entfernt worden sind. Mit dem 131er-Gesetz (nach Art. 131 Grundgesetz) wird diese Tätergruppe nicht zugelassen, es sei denn, sie sind von Amtswegen beordert worden. Was wie die Formulierung einer Ausnahme klang, war indes der Normalfall.
Nun konnten über 50.000 NS-Beamte wieder in den Staatsdienst aufgenommen werden. Darunter auch belastete NS-Juristen, die nun darüber entscheiden konnten, ob gegen NS-Verbrecher Ermittlungen aufgenommen werden sollten.


1951 scheint nur ein Thema die Presse zu interessieren: die
Versorgungsansprüche und zu leistenden Abschlagssummen, die fällig werden bzw. an die neuen Staatsdiener gezahlt werden sollen. Die ZEIT schreibt am 13.12.1951: „Die verdrängten Beamten, die ihrem Unmut über das ihnen unverständliche Hinausziehen in zahllosen Protestschreiben an Behörden und Zeitungsredaktionen Ausdruck geben, haben Anspruch darauf, daß sich der Amtsschimmel wenigstens dort, wo man ihm schon die Hürden aus dem Weg geräumt hat, in Trab setzt.“
Dem Gesetz stimmen alle Parteien ohne Gegenstimmen zu, sogar die KPD.
Auf diese Weise wird das Justizministerium zu einer „Hochburg der Nazis“, wie die ARD unlängst in einer Dokumentation bilanzierte.

Die wegen Protesten aus dem Ausland gegründete Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen (Ludwigsburg) wird lahm gelegt, als Adenauer den Beitritt der Bundesrepublik zur NATO von der Niederschlagung aller Gerichtsverfahren abhängig macht, die im Ausland gegen deutsche Kriegsverbrecher eingeleitet werden sollen.
Akten
werden weggeschlossen.

Alles scheint alles irgendwann verjährt und vergessen zu sein, nur Mord im Zusammenhang einer klar nachweisbaren Einzeltat kann den Tätern noch gefährlich werden, wenn ein Ermittlungsinteresse besteht und Zeugen beigebracht werden können. Häufig ist beides nicht der Fall.
Fritz Bauer und seine Staatsanwälte haben schließlich diesen ungleichen Kampf angenommen. Das Ergebnis kann in Wort und Schrift auf der Homepage des Fritz Bauer Instituts geprüft werden (s.a. Quellen).

Quellen:

  1. ZEIT-Archiv „Die enttäuschten 131er“
  2. Interview mit Giulio Ricciarelli, zitiert aus: epd-film
  3. „Akte D - Das Versagen der Nachkriegsjustiz“, ARD 2014, Dokumentation, Infos.
  4. „Der Auschwitz-Prozess“, Online Dokumentation
  5. „Tonbandmitschnitt des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses“, Fritz Bauer Institut (sehr empfehlenswerte Website; die Mitschnitte stehen auch als Mitschrift (PDF) zur Verfügung)

BigDoc = 1,5

Im Labyrinth des Schweigens – D 2014 – Laufzeit: 123 Minuten – Regie: Giulio Ricciarelli – Buch: Elisabeth Bartel, Giulio Ricciarelli – D.: Alexander Fehling, Gert Voss, André Szymanski, Friederike Becht, Johann von Bülow, Robert Hunger-Bühler, Hansi Jochmann, Johannes Krisch.