Samstag, 8. November 2014

Philomena

Irische Nonnen verkaufen in Stephen Frears neuem Film „Philomena“ unehelich geborene Kinder an reiche Ausländer. Ohne faktische Genauigkeit wäre dies ein Skandal. Die Fakten stimmen aber. Das ist der Skandal. Frears ist allerdings weniger an einer historischen Bestandsaufnahme interessiert als vielmehr an einer Beziehungsgeschichte. Die erzählt der Film aber richtig gut.

Mit Judi Dench hat Regisseur Stephen Frears seine perfekte „Philomena“ gefunden. Der deutsche Zuschauer muss sich lediglich daran gewöhnen, nie wieder Gisela Fritsch als Synchronstimme hören zu können. Die bekannte deutsche Schauspielerin und Synchronsprecherin, ohne die man sich Judi Dench eigentlich gar nicht vorstellen mag, ist Mitte 2013 im Alter von 77 Jahren gestorben. Ein ungewollter Nebeneffekt ist, dass die raue Stimme von „M“ der von Kerstin de Ahna gewichen ist, was wiederum besser zum Film passt – auch wenn bei uns im Club nostalgisches Bedauern aufkam.

Auf der Suche nach dem verlorenen Sohn

Die pensionierte irische Krankenschwester Philomena Lee (Dench) beschließt, ihren Sohn Anthony zu suchen, den sie vor 50 Jahren zur Adaption freigegeben hat. Die jugendliche und sexuell völlig unerfahrene Philomena wurde, das zeigen Rückblenden, nach einem kurzen Techtelmechtel schwanger und landete im katholischen Irland in einem Kloster, wo sie zu vierjähriger Zwangsarbeit verpflichtet wurde. Die Kosten für die Abtreibung mussten beglichen werden, der Rest war „Buße“ für die Zügellosigkeit des Leibes.
Als Philomena den beruflich stagnierenden ehemaligen BBC-Reporter Martin Sixsmith (Steve Coogan) kennenlernt, zeigt sich dieser von ihrer Geschichte zunächst wenig beeindruckt. Doch statt ein Buch über die Russische Revolution zu schreiben, entscheidet er sich dann doch dafür, Philomena bei der Suche zu helfen. Eine Boulevardzeitung finanziert die Recherchen, also eine Human Interest Story genau von der Art, die Sixsmith an sich hasst.

Der 73-jährige Stephen Frears gehört zu den renommiertesten Regisseuren Großbritanniens („Mein wunderbarer Waschsalon“, 1985, „The Queen“, 2006), dreht aber nur selten so explizit politische Filme wie Ken Loach. Auch in „Philomena“ wird die Kritik mit viel Understatement vorgetragen. Seine beiden Hauptfiguren Philomena Lee und Martin Sixsmith gibt es aber tatsächlich. Frears Film rekonstruiert die Geschichte der echten Philomena, so wie sie Martin Sixsmith 2009 in seinem Buch „The Lost Child of Philomena Lee“ geschildert hat. 
Philomena Lee ist mittlerweile eine Berühmtheit, sogar der Papst hat sie empfangen und er hat auch den Film gesehen. Dies ändert nur wenig daran, dass besonders in den USA die konservative und katholisch orientierte Presse Stephen Frears Film als barbarischen anti-klerikalen und hasserfüllten Hetzfilm attackiert, so als würde eine Art von kognitiver Immunisierung den übermächtigen Druck der Fakten komplett ausblenden.

Der Magdalenen-Skandal

Magdalenenheime entstanden bereits im Mittelalter als kirchliche Einrichtungen, die reuige Prostituierte auf den richtigen Weg zurückführen sollten. Im anglikanischen England entstanden vergleichbare Fürsorgeprojekte Mitte der 18. Jh. Zwang wurde allerdings nicht ausgeübt, die Frauen konnten kommen und gehen, wann sie wollten. 

In Irland wurden die philanthropischen Einrichtungen als Magdalen Laundries (Wäschereien) bezeichnet, da dies das Kerngeschäft der Nonnen klar umriss. Ab ca. 1830 sollen bis zur Schließung des letzten Heims im Jahre 1996 über 30.000 Mädchen und Frauen in diesen Häusern gelebt und gearbeitet haben. Im katholischen Irland ging man härter zur Sache: enormer familiärer und sozialer Druck wurde auf junge, ledige Mütter ausgeübt – auch dann, wenn sie Vergewaltigungsopfer waren; kranke, überwiegend psychisch erkrankte Frauen wurden gegen ihren Willen eingewiesen und mussten sich dem strengen Regiment der Nonnen unterwerfen. Und dies bedeutete harte Arbeit ohne Lohn, in der Regel sieben Tage in der Woche. Abgeschottet durch die rigiden Moralvorstellungen und die öffentliche Zustimmung entstanden hermetische Systeme, in denen sexueller Missbrauch und sadistische Quälereien nicht ausblieben oder, wie einige Kritiker feststellten, systematisch und ritualisiert verübt wurden. Die in Frears Film dargestellte Sean Ross Abbey in Roscrea existiert tatsächlich und war auf Adoptionsverfahren spezialisiert.
Mit anderen Worten: Reiche Amerikaner kauften hier Kinder.

In den USA als Hetzfilm attackiert

Wenn also Philomena Lee und Martin Sixsmith im Garten der Abtei eine große Anzahl nicht gekennzeichneter Gräber finden, so entspricht dies den Tatsachen. Der Gräber-Skandal aus dem Jahre 1993 wurde ausgelöst, weil die Exhumierung und Verbrennung von über 150 unbekannten ehemaligen Insassen eines Magdalenheimes entdeckt wurde. Dies löste eine Welle von Vorwürfen aus, die sich zum einen auch gegen gleichartige protestantische Häuser richtete und andererseits erst 2009 nach der Veröffentlichung des Ryan-Berichts zu einem Schuldeingeständnis der katholischen Kirche führte: sie räumte Misshandlungen und sexuellen Missbrauch uneingeschränkt ein.
 

Als 2002 Peter Mullans Film „The Magdalene Sisters“ (Die unbarmherzigen Schwestern) erschien, empörte sich die Katholische Kirche dennoch. Gleiches gilt nun für Frears Film, der auch in den USA konservative Zeitungen und Publizisten in Rage gebracht hat: so schrieb die New York Post von einer langweiligen und hasserfüllten Attacke auf die Katholiken, da doch jeder wisse, dass das Schicksal der ledigen Mütter in den katholischen Heimen immer noch besser gewesen sei als das, was sie von der sozialen Gemeinschaft zu erwarten hat. 
Aber nicht immer ist Folter besser als der Tod.

Philomenas Suche nach dem verschollenen Anthony prallt an den Verantwortlichen ihres alten Klosters ab: Alle Unterlagen seien bei einem Brand vernichtet worden, die Adoptiveltern könnten nicht mehr ausfindig gemacht werden. Dass der ‚Brand’ eine Beweismittelvernichtung gewesen ist, erfahren Sixsmith und Philomena erst später. Ein Zufall führt die beiden dann in die USA, wo sie herausfinden, dass Anthony nach seiner Adoption den Namen Michael A. Hess angenommen und später eine politische Karriere bei der Konservativen gemacht hatte. Bis zu seinem Tod gehörte Hess zum Stab der US-Präsidenten Reagan und Bush sen. Dass er schwul war und später an AIDS gestorben ist, konnte Hess verbergen. Allein schon wegen dieses Faktums wurde „Philomena
von der US-Presse als blindwütige Attacke auf die Republikaner gelesen. Dies dürfte angesichts der intellektuellen Regression dieser Partei kaum noch überraschen. Schwule Republikaner? Gibt es nicht.

Eher Komödie als Tragödie

Stephen Frears hat „Philomena“ allerdings nicht für eine politische Abrechnung genutzt, das hat bereits Peter Mullans nachdrücklich besorgt. Frears scheint mehr am Human Interest interessiert zu sein und weniger daran, möglichst viele historische Fakten in den Film zu importieren. Und so erhält die Beziehung zwischen der einfachen, etwas bildungsfernen, aber lebenspraktischen Philomena und dem leicht versnobten atheistischen Intellektuellen aus der britischen Bildungselite einen komödiantischen Touch. Über weite Strecken erzählt der Film davon, wie sich Philomena und Sixsmith menschlich näher kommen, etwa wenn Philomena ihren Reisegefährten mit begeisterten Nacherzählungen kitschiger Liebesromane à la Courths-Mahler nervt, ganz ungezwungen von der ungeheuren Lust während ihrer ersten sexuellen Erfahrung erzählt und dann völlig unbewegt und vorurteilsfrei die Homosexualität ihres Sohnes zur Kenntnis nimmt.
Hier spielt Judi Dench nicht nur das Comic Relief grandios aus, sondern auch gelebte Toleranz, die man auch ohne Bildungswissen besitzen kann. Steve Googans etwas spöttische Intellektuellenfigur verblasst daneben fast. Die Beiläufigkeit, mit der Frears die Klassenunterschiede der britischen Gesellschaft skizziert, ohne die Figuren dem Spott auszusetzen, ist sowohl elegant als auch amüsant.

Nur auf den ersten Blick erscheint es deshalb verblüffend, dass Frears die Chance verstreichen lässt, die Zuschauer emotional gegen die irische Katholische Kirche in Stellung zu bringen. Das wäre leicht gewesen. Stattdessen zeigt er in einer Schlüsselszene des Films die Begegnung Philomenas mit jener Nonne, die einst für ihr Schicksal verantwortlich war. Während Schwester Hildegard (Barbara Jefford) noch als Greisin die Mütter unehelicher Kinder als Sünderinnen bezeichnet und dabei kaum den neurotischen Anteil ihres Handelns unterdrücken kann, vergibt ihr Philomena vorbehaltlos. Dies ist natürlich dem historischen Vorbild geschuldet, denn auch die reale Philomena Lee ließ sich in ihrem Glauben nicht erschüttern. Judi Denchs großartige schauspielerische Leistung besteht aber darin, dass sie dies glaubwürdig als Großmütigkeit des Herzens spielt.
Frears lässt in dieser Szene seine weiblichen Heldin die Integrität ihrer religiösen Überzeugungen bewahren und zeigt, dass Philomenas christliche Wahrhaftigkeit nichts mit der gnadenlosen, neurosengefütterten und eiskalten Sexualmoral der Nonnen zu hat. Philomenas christliche Nächstenliebe ist ein beinahe fundamentalistisches Gegenstück zur realen kirchlichen Praxis und schneidet so schärfer als kalte Wut. Dass Philomena am Ende einer Veröffentlichung der Geschichte zustimmt, zeigt, dass der Glaube ihre Urteilsfähigkeit nicht beschädigt hat.

Kritiken

„The film doesn’t mention that in 1952 Ireland, both mother and child’s life would have been utterly ruined by an out-of-wedlock birth and that the nuns are actually giving both a chance at a fresh start that both indeed, in real life, enjoyed (...) No, this is a diabolical-Catholics film, straight up“ (Kyle Smith, New York Post).
Die NYP gehört zur Murdoch-Gruppe und damit zu den streng konservativen Blättern in den USA. Von Smith erhält der Film einen von vier Sternen, eingeordnet wird er in die Rubrik „Profanity (Gotteslästerung, Anm. d. Verf.), Sexual Situations“ eingeordnet.

„...es geht um 35.000 Kinder, die in Schulen, Korrekturanstalten, Waisenhäusern einem als systematisch und ritualisiert beschriebenen Missbrauch seelischer, körperlicher, sexueller Art ausgeliefert waren. Es zeichnet sich ab, dass schon eine kleine Unbotmäßigkeit ausreichte, um auf Jahre zu verschwinden. Ein gnadenloses System und nur Teilaspekt eines Umgangs mit Kindern, wie er auf den britischen Inseln bis in die neunziger Jahre gepflegt wurde, wo Nonnen die Augen vor den Umtrieben pädophiler Priester und Mönche verschlossen oder Kinderkrankenhäuser und Waisenhäuser etwa dem BBC-Entertainer Jimmy Savile gegen Spendengelder freien Zugang zu Aberhunderten immer neuen Opfern gewährten“ (Susanne Mayer in: DIE ZEIT).

Die Personen „werden eingepfercht in die Enge des dramaturgisch akkurat ausgearbeiteten Skripts und die konsequente Strenge der standardisierten Bildsprache, bewegen sich unbeirrbar auf den nächsten Plot Point zu. Die rührende Geschichte entpuppt sich als einfacher gestrickt, als sie zu sein vorgibt, und ist so penibel angeordnet und durchgetimt, dass man bei derartigem Drang zum allerklassischsten Erzähl-Perfektionismus ab und an einen faden Beigeschmack empfindet“ (Josef Lommer auf: Critic.de).

Quellen:

Der Tagesspiegel (2014)
Spiegel Online (2003)

Philomena (Philomena) – GB 2013 – Regie: Stephen Frears – Buch: Steve Coogan, Jeff Pope – Laufzeit: 98 Minuten – FSK: ab 6 Jahren – D.: Judi Dench, Steve Googan, Michelle Fairley, Barbara Jefford.