Mittwoch, 27. Mai 2009

Der Junge im gestreiften Pyjama

Großbritannien / USA 2008 - Originaltitel: The Boy in the Striped Pyjamas - Regie: Mark Herman - Darsteller: Asa Butterfield, Jack Scanlon, Amber Beattie, David Thewlis, Vera Farmiga - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 94 min.

Wir befinden uns in den Jahren nach 1941. In den Vernichtungslagern hat die systematische Vernichtung der Juden begonnen.

Die ersten Bilder von „The Boy in the Striped Pyjamas“ zeigen ein behütetes Kind, den achtjährigen Bruno (Asa Butterfield). Sein Leben ändert sich, als er mit seiner Familie in eine trostlose Gegend umziehen muss. Man lebt zwar in einer schönen Dienstvilla am Waldrand mit großem Garten, aber die Uniform des Vaters lässt keinen Zweifel daran entstehen, dass seine Erklärungen wohl richtig zu sein scheinen: hier, im tiefen Wald, muss er etwas Wichtiges für sein Vaterland tun, etwas, was die Dimensionen kindlicher Vorstellungskraft sprengt.
Bruno, der sich entsetzlich langweilt, und seine Schwester bekommen einen strengen Hauslehrer, der sehr merkwürdige Dinge erzählt. Seine Mutter verbietet ihm sogar, den Garten zu verlassen, vor allem darf er nicht zu dem in der Nähe gelegenen Bauernhof, den Bruno von seinem Fenster aus sehen kann – die Menschen dort seien anders, sagt die Mutter. Und damit ist auch ein verängstigter und zerlumpter Mann gemeint, der von diesem Bauernhof kommt und im Garten hilft und der Bruno irgendwann erzählt, dass er in einem anderen Leben Arzt gewesen ist.
Allen Warnungen zum Trotz schleicht sich Bruno zu dem geheimnisvollen Hof, den hohe Stacheldrahtzäune umgeben. Dort trifft er auf den gleichaltrigen Schmuel (Jack Scanlon), der sehr geheimnisvoll ist und eine eigene Uniform besitzt – einen gestreiften Pyjama. Die Jungen freunden sich an und Bruno wundert sich, dass Schmuel ständig großen Hunger hat. Als auch Schmuel eines Tages bei der Vorbereitung eines großen Festes im Haus mithelfen muss, erlaubt ihm Bruno etwas Gebäck zu essen. Und wieder ist es ein Mann in einer Uniform, der sehr böse wird, als er Schmuel dabei ertappt. Bruno leugnet aus Angst, seinen Freund zu kennen. Überhaupt gesehen merkwürdige Dinge: Schmuel wird bestraft und der alte Arzt ist plötzlich verschwunden. Zum Glück ist Schmuel nicht wütend über den Verrat und da er nicht weiß, wo sein Vater geblieben ist, beschließt Bruno, seinem Freund bei der Suche zu helfen. Dazu braucht er natürlich auch eine Uniform, so eine, wie sein Freund sie trägt. Schmuel hilft ihm dabei, die Verkleidung gelingt und auch der Zaun ist leicht zu überwinden. Die Jungen beginnen mit der Suche, als alle, die natürlich auch die gestreifte Uniform tragen, den Befehl erhalten, sich zu versammeln. Alles wird plötzlich laut, es wird geschoben, gestoßen und geschlagen. Bruno hat Angst, alle müssen sich ausziehen und Hand in Hand gehen die Freunde durch eine große Tür, hinter der sich ein Duschraum befindet.

Das Schweigen im Kino
“The Boy in the Striped Pyjamas” ist einer jener Filme, bei denen man sich fragt, warum sie nicht von einer deutschen Produktion und einem deutschen Regisseur gedreht worden sind. Immer, wenn es um die Darstellung des Holocaust im Kino geht, setzen nicht wir, sondern die Anderen die Ausrufe- und Fragezeichen: oft waren es umstrittene Filme, denen fehlende Realitätsnähe, Melodramatik und gewagte Dramaturgie vorgeworfen wurde. Wir sehen uns dann staunend an, wie andere unsere Geschichte deuten. Und egal, ob es „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“ oder Steven Spielsbergs „Schindlers Liste“ oder Robert Benignis „La Vita è bella“ (Das Leben ist schön) gewesen ist – wir, die Nachkommen des Tätervolks, kritteln dann herum und wissen alles besser: Ungenau, so war das nicht, Bruno hätte nie einen gleichaltrigen Jugen am Zaun des Lagers treffen können, das Grauenvolle muss absolut korrekt dargestellt werden. Aber drehen, ja drehen tun wir solche Filme nicht.

Fakt ist: Die Judenvernichtung kommt im deutschen Kino nur am Rande vor. Wir interessieren uns mehr für das Horrorkabinett der Nazis. Kurt Hoffmanns „Wir Wunderkinder“ (1958) und Wolfgangs Staudtes „Rosen für den Staatsanwalt“ (1959), beide gelten ja als Vorzeigemodelle für den ‚kritischen’ Ansatz im deutschen Film der 50er Jahre, beschäftigen sich daher eher satirisch mit den Überlebenskünsten ehemaliger Nazis im Nachkriegsdeutschland (übrigens: bereits 1946 hatte Staudte für die DEFA den Film „Die Mörder sind unter uns“ produziert).
Die erste große und systematische Auseinandersetzung mit der Nazizeit in Westdeutschland war die Serie „Das Dritte Reich“, ein Zwölfteiler des Süddeutschen Rundfunks, der Anfang der 60er Jahre den Nationalsozialismus inklusive der Judenverfolgung aufgearbeitet hat.

Fiktionalisiert wurde das Thema 1979 durch die US-Serie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“ (Marvin J. Chomsky), die von über 15 Millionen entsetzten Zuschauern gesehen wurde. Sie ist nach Ansicht des Politologen Peter Reichel der Einstieg eines breiten Publikums in die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte gewesen – über drei Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Ungeachtet der in der Nachbetrachtung etwas ermüdend wirkenden Debatte über historische Genauigkeit und ästhetische Umsetzung scheint mediengeschichtlich fest zu stehen, dass „Holocaust“ trotz seiner angeblich zweifelhaften Soap-Elemente eine singuläre Wirkungsgeschichte vorzuweisen hat (der Vierteiler ist in diesem Jahr auf DVD erschienen) – die Serie emotionalisierte und berührte etwas, was seriöse Dokumentationen scheinbar nicht in diesem Ausmaß erreichen konnten, nämlich die Fähigkeit zur empathischen Reaktion, wie sie dem Kino in der besonderen Unmittelbarkeit seiner narrativen Möglichkeiten gegeben ist. Vielleicht ist es ein wenig gewagt, aber ich wage einfach mal die These: Man weiß erst, wenn man es gefühlt hat.

Als deutsch-tschechische Produktion soll hier noch "Der letzte Zug" (2006) erwähnt werden, eine Produktion von Artur Brauner, in der Joseph Vilsmaier und Dana Vávrová Regie führten. Erwähnenswert: auch diese durchaus respektable Fiktionalisierung wurde von aufgebrachten Kritikern als kitschig und serienhaft verrissen.

Eine in etwa vergleichbare Breitenwirkung wie "Holocaust" hatte Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“, der als deutsch-amerikanischer Produktion 2008 in die Kinos kam, das Thema Holocaust aber nur indirekt streift. Das Drehbuch wurde vom oscarnominierten Dramatiker David Hare unter Mitwirkung von Schlink geschrieben. Regie führte der ebenfalls oscarnominierte britische Regisseur Stephen Daldry. Immerhin wurde überwiegend in Deutschland gedreht und neben David Kross waren auch einige bekannte deutsche Darsteller wie Bruno Ganz zu sehen, der vier Jahre zuvor als Adolf Hitler in Oliver Hirschbiegels „Der Untergang“ zu sehen war. Gerade die Verfilmung des Schlink-Bestsellers dürfte sowohl für eine rezeptionsästhetische und wirkungsgeschichtliche Untersuchung von Interesse sein, zumal die Debatte um die ‚richtige’, also gültige Interpretation von Roman und Film alles andere als seicht ausfiel. Aus meiner Sicht hat das deutsche Kino die Chance einer historischen Aufarbeitung schon längst verpasst uns wir werden uns auch in Zukunft daran reiben müssen, dass andere Filmnationen die Deutungshoheit beanspruchen.

Der andere Blick
„Der Junge im gestreiften Pyjama“ ist ebenso wie „Der Vorleser“ eine Literaturverfilmung, diesmal eine britisch-amerikanische. Die literarische Vorlage stammt von dem irischen Schriftstellers John Boyne (2006). Sein so genanntes "Holocaustbuch für Kinder" erhielt zahlreiche Preise, zuletzt den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2008.

Mark Hermans Verfilmung zeichnet sich durch zwei charakteristische Eigenschaften aus: den konsequenten ‚Bruch der Perspektive’ und die starke Typologisierung der Figuren. Das Eine ist nicht so einfach vom Anderen zu trennen.
Zunächst derer Perspektivwechsel. Er ist in der Literatur ein gebräuchliches Mittel, jede Parabel nutzt Elemente dieser Technik. Ein Wechsel ist allerdings nur dann von Bedeutung, wenn der Rezipient eine tradierte Perspektive zugunsten einer neuen, unerwarteten aufgeben muss. Auch wenn es banal klingt: Man muss schon eine Perspektive besitzen, um sie wenigstens vorübergehend aufgeben zu können. Erst dann sieht man etwas ‚mit anderen Augen’. Dies muss nicht zwangsläufig in einen bemerkenswerten Erkenntnisgewinn einmünden – das ist auch nicht der Sinn des Ganzen. Aber als narrative und auch als psychologische Erfahrung kann so ein verändertes emotionales Erleben entstehen.
Grundsätzlich ist auch zu unterscheiden, ob ein Perspektivwechsel innerhalb eines erzählerischen Werkes stattfindet oder mit dessen Beginn einsetzt (was wie erwähnt voraussetzt, dass tradierte Formen vom Rezipienten bereits erlebt wurden).
Formal organisiert der Wechsel der Perspektive als narrativer Kunstgriff die vom Leser vermutete Beziehung zwischen der objektiven Wiedergabe von Ereignissen und den Binnenwelten der Figuren völlig neu, egal, ob sie in der Ich-Erzählung referieren oder von einem auktorialen Erzähler (Beispiel: "Zauberberg" von Thomas Mann) wiedergegeben werden. Bedeutsamer ist meiner Meinung nach die inhaltliche Strukturierung des Informationsflusses durch die gewählte Perspektive. Jeder Wechsel der Perspektive ermöglicht nämlich entweder einen größeren Überblick oder das Gegenteil, nämlich eine völlige Verengung des Blicks.
Ein Beispiel für den gelegentlich besserwisserischen Überblick ist die Figur des Oskar Matzerath in „Die Blechtrommel“, der als vermeintlich infantiler (was man ihm nie so recht abnimmt) Ich-Erzähler die Zeitläufte in ziemlich epischer Breite interpretiert und so eigentlich nur das wiedergibt, was der autoriale Autor Grass im Rückblick zu wissen glaubt (hier sieht man gut, dass sich Perspektiven vermischen können).
Im Gegensatz dazu steht die Verknappung der Information, die entsteht, wenn Erzähler seinen Wissensvorsprung aufgibt und seine zentrale Figur im Dunklen tappen lässt. Dieser verengte Fokus übt in der Regel eine appellative und/oder eine suggestive Wirkung aus: der Rezipient reagiert auf die narrativen Leerstellen und gleicht entweder das Wissensdefizit der fiktiven Figur aus und durchschaut die Konstruktion mit einem spürbaren ästhetischen Mehrwert oder er geht ‚naiv’ den Weg der Hauptfigur zu Ende und erfährt in der finalen Pointe, was das Erlebte zu bedeuten hat. Nur am Rande: große Unterschiede zwischen Text und Film kann ich bei diesem Phänomen nicht entdecken, wobei im Kino eher ein Stil vorherrscht, der in etwa dem entspricht, was man in der Literatur den personalen Erzähler nennt. Auktoriale Erzähler kommen im Kino selten vor, Ausnahmen findet man z.B. in den Filmen von Stanley Kubrick ("Clockwork Orange" ist ein Film, der bei näherem Hinsehen eher ein Perspektiven-Mix als eine durch den Off-Erzähler organisierte Ich-Erzählung ist).

Mark Herman hat beide Momente, die 'andere Perspektive' und das Typologische, in seinen Film integriert, was nicht immer völlig gelungen ist, den Film aber unterschiedlichen Ziel- und Altersgruppen öffnet: der ‚erwachsene Blick’ wird sich der appellativen Wirkung öffnen und mit wachsendem Entsetzen den Weg der Kinder in die Gaskammer erleben (er ‚weiß’ ja, was die Uniformen bedeuten, seien sie nun schwarz oder gestreift), jüngere Zuschauer werden unter Umständen ratlos auf die Schlussbilder reagieren, denn was hinter der großen schweren Tür passiert, zeigt ihnen die Kamera nicht.
Immerhin gelingt es Herman, den ‚naiven’ Blick von Bruno so auf uns zu lenken, dass die Absurdität der völligen Entwertung der Opfer durch die Täter äußerst sensibel und glaubwürdig vermittelt wird. Die dem Film von einigen Kritikern vorgeworfenen Typologisierung ist aus meiner Sicht daher unvermeidbar. Sowohl die vom ideologischen Virus erfasste Schwester Brunos als auch die alle Geschehnisse verdrängende, aber durchaus wissende Mutter können gar nicht differenziert (was auch immer dies bedeuten soll) skizziert werden, ohne den ‚naiven Schein’ des Films zu zerstören. Und nur auf diese Weise ist (besonders für jüngere Zuschauer) die vorurteilsfreie Art, mit der Bruno seinem neuen Freund gegenübertritt, im Sinne eines unverstellten Blicks nacherlebbar: sie erscheint fast als naturgegeben, ihr Gegenteil – die Stigmatisierung – kann durch den 'naiven' Blick als Ausdruck einer Ideologie erfahren werden, die auch attributiv sein muss, um sich zu rechtfertigen: die Uniform zeigt, was ihr Träger wert ist. Die Bedeutung, die Erwachsene decodieren können, bleibt Bruno verschlossen, so dass der gestreifte Pyjama für ihn nicht weniger wert ist als die Uniform seines Vaters. So gesehen ist der Perspektivwechsel in "Der Junge im gestreiften Pyjama" nicht an faktischer Aufklärung und historisch korrekter Mimesis interessiert, sondern gibt den Opfern ihre Würde zurück, weil der neue Blick über die Rationalisierung hinausgeht und die völlige Absurdität des Rassenwahns spürbar macht. Eben mit den Augen des Kindes.

Über den Schluss gab es zumindest im Filmclub eine heftige Auseinandersetzung: die konventionelle Parallelmontage am Ende löste Widerwillen aus. Sie schneidet spannungssteigernd hin und her zwischen den beiden Kindern auf dem Weg in die Gaskammer und den verzweifelten Eltern, die zu ahnen beginnen, wo der verschwundene Bruno ist.
Herman hat in einem Interview darauf hingewiesen, dass der Einsatz dieses bekannten Montagetyps vor allen Dingen auf das aus seiner Sicht konditionierte amerikanische Publikum abzielt, das eine Rettung in letzter Minute erwartet. So ist das halt üblich, wenn man eine Parallelmontage sieht. Ob der von Herman intendierte Schock dem Film angemessen ist oder sein Ende an eine Pointe verrät, ist schwer zu beantworten: ich halte das Ganze ebenso wie Klawer für überflüssig, zumal es auch andere Konditionierungsmuster abruft und die Identifizierung des Publikums mit dem ‚unschuldigen’ Opfer forciert. Allein diese Option erregt Abscheu. Auch in formaler Hinsicht ist das Aufsprengen der gewählten Perspektive leider inkonsistent und ist meiner Meinung nach die einzige ärgerliche Schwäche dieses Films.

Ach ja, die historische Glaubwürdigkeit: die Familie des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß lebte in einer Villa, die nur hundert Meter vom nächsten Krematorium entfernt war. Gelegentlich spielte das Lagerorchester für die Familie und die Erdbeeren im Garten wurden von Bediensteten aus dem Lager gedüngt. Mit Menschenasche.

Noten: Melonie = 2, Mr.Mendez = 2, BigDoc = 1,5, Klawer = 2,5

Sonntag, 10. Mai 2009

DVD-Review - Diary of the Dead

USA 2007, O: George A. Romero's Diary of the Dead, R: George A. Romero, D: Joshua Close, Michelle Morgan, Shawn Roberts, Amy Ciupak Lalonde, Joe Dinicol, Länge: 97 min, FSK: 18

Zombie-Veteran George A. Romero hat einen bizarren Humor, der ähnlich wie bei Tarantino dann aufblüht, wenn es ums Zitieren geht. Man sieht es gleich am Anfang: Eine Gruppe von Filmstudenten werkelt zusammen mit ihrem ständig angetrunkenen Professor an einer Trash-Version von „The Mummy“ herum, was nicht so recht klappen will, da der bandagierte Hauptdarsteller bei der Verfolgung eines weiblichen Opfers „viel zu schnell“ ist. Mumien können nur langsam wanken. Die Darstellerin wiederum beklagt sich darüber, dass den Frauen im Horrorfilm immer das Oberteil heruntergerissen wird und sie bei der Flucht unweigerlich stürzen müssen, damit sie auch genregerecht vom Monster eingeholt werden können. Spätestens bei diesem Lamento weiß man, dass die junge Dame in Romeros Film von der Realität eingeholt werden wird. Aber auch dann, wenn es ums nackte Leben geht, wird jemand mit der Kamera dabei sein. Cool und ohne einzugreifen.

Der Medien-Octopus
Realität? Wo existiert sie und wie nehmen wir sie überhaupt wahr? Nur noch auf dem Bildschirm und möglichst in High Definition? Und vor allen Dingen: Was machen die Medien aus uns, wenn sie uns erst einmal überwältigt haben?
Diese Frage und überhaupt das fragile Konzept der von Medien vermittelten Ereignisse werden in Romeros Prequel zu seiner „Dead“-Trilogie mit messerscharfem Witz aufs Korn genommen. Seine Helden sind auf der Flucht vor den Zombies nicht nur mit Schusswaffen sowie mit Pfeil und Bogen bewaffnet, sondern auch mit Kameras, damit „die da draußen“ erfahren können, was ‚wirklich’ geschieht und was die offiziellen Medien verschweigen. Nicht gerade originell, aber immerhin ein respektabler Ansatz - das zeigt schon der Titel: Hinter dem eher an literarische Traditionen erinnernden „Diary of the Dead“ verbirgt sich alles andere als eine schöngeistige Niederschrift der Ereignisse, sondern eine gallige mediensatirische Variante des Undead-Themas, die einerseits treffsicher auf die „You Tube“- und Blogger-Kultur zielt, andererseits aber auch dem Zeitgeist des modernen Horrorfilms den Krieg ansagt.
„Garbage“ nennt der Altmeister all das, was man in dem klassischen Genre Horrorfilm derzeit im Kino sieht. Und Müll, Abfall, Schund dürfte für ihn auch all das sein, was sich in der globalen Internet-Kultur abspielt. Deren Anspruch, sich als aussagestarke vox populi von den etablierten Medien abzugrenzen, ertrinkt laut Romero im Meer der Beliebigkeiten: “There’s just so much information, and it’s absolutely uncontrolled. Half of it isn’t even information. It’s entertainment or opinion. I wanted to do something that would get at this octopus. It may be the darkest film I’ve done since ‘Night of the Living Dead.’”

Immun gegen die Wirklichkeit
Diese und ähnliche Überlegungen Romeros darf man auch im ausgedehnten Bonusmaterial der DVD teilen, auf der „Diary of the Dead“ zwei Jahre nach dem Kinostart in den Staaten nun auch den deutschen Markt erreicht hat. „Diary“ war ursprünglich ein Direct-to-DVD-Projekt, mit dem Romero zu seinen Independent-Wurzeln zurückkehren wollte, nachdem er mit „Land of the Dead“ zuletzt den Epilog seiner Dead-Trilogie für 16 Mio. Dollar mit Atmosphere Entertainment als High-Budget-Movie produziert hatte. Lediglich 4 Mio. $ kostete dagegen „Diary“ und für die Realisierung benötigte Romero nur seine Crew, eine Handvoll Darsteller, einige Häuser und Scheunen sowie einsame, nächtliche Landstraßen und ein Wohnmobil.
In diesem Gefährt sind jene Studenten unterwegs, die gerade eben noch unter der Leitung des Regisseurs und Kameramanns Jason Creed (Joshua Close) in den Wäldern Pennsylvanias einen Horrorschocker drehen wollten. Beendet werden die nächtlichen Dreharbeiten durch beunruhigende Radiomeldungen über eine plötzlich ausgebrochene Welle mysteriöser Gewalttaten, für die illegale Einwanderer verantwortlich gemacht werden. So jedenfalls will es eine Verlautbarung der Army wissen. Spätestens nach der ersten Begegnung mit einigen untoten Natives weiß die Crew jedoch, dass die Toten zurückgekehrt sind und die Apokalypse begonnen hat.

Erzählt wird „Diary of the Dead“ allerdings nicht auf konventionelle Weise. Bereits mit den ersten Bildern erfährt der Zuschauer durch den Off-Kommentar der Cutterin Debra (Michelle Morgan), dass man „The Death of Death“ sieht – einen Dokumentfilm, den Jason nach dem Ausbruch der Gewaltwelle begonnen hat („Im Moment sind über 2 Millionen Videokameras weltweit im Einsatz!“) und den sie beenden will. Aber auch „The Death of Death“ ist kein homogenes Produkt. Zum einen wird pausenlos gefilmt und die halbfertige Fragmente werden permanent ins Netz gestellt (Jason:„72 Hits in 8 Minuten!“), zum anderen bedienen sich die Macher wahllos unterschiedlicher Quellen, die sie aus Webblogs downloaden und in den Rohschnitt integrieren.
Also nicht nur ein Film-im-Film, sondern auch Movie-Making-in-Progress. Allerdings verweigert sich Romero jeglichem Dogma-Charme oder Experimenten à la „Cloverfield“ oder „[Rec]“ – er liefert weitgehend ordentliche Bilder ab und damit auch alles andere im Rahmen bleibt, lässt er Debra im Off erklären, dass zwar alles real ist, der dramatische Score aber notwendig sei, um den Zuschauer zu schockieren und von der Dringlichkeit des Projekts zu überzeugen. Zufällig finden ‚seine’ Studenten dann auch eine zweite Kamera, was den Produzenten von „The Death of Death“ immerhin saubere Shot-Reverse-Shots ermöglicht.
Abgesehen von einigen technischen Mätzchen und körnigen Downloads, die ständig daran erinnern, dass man so etwas wie einen Video Live Stream sieht, ist die Odyssee durch die Wälder von Pennsylvania ästhetisch eine ausgeklügelte Angelegenheit, die nur gelegentlich wackelt und in scharfen Bilder die Begegnung der Reisegesellschaft mit Dynamit werfenden Amish, afroamerikanischen Freischärlern („Zum ersten Mal in unserem Leben sind wir an der Macht!“) und plündernden Nationalgardisten zeigt. Und immer wieder tauchen Zombies auf, die per Kopfschuss oder mit Pfeil und Bogen endgültig ins Nirwana befördert werden.

„Bringen wir nur die Nachrichten oder erzeugen wir das, worüber wir berichten?“
„Diary of the Dead“ ist über weite Strecken ein deprimierender und sehr pessimistischer Film. Schon in „Night of the Living Dead“ (1968) zeigte Romero die Unfähigkeit sozialer Gruppen, ihren Zusammenhalt unter Verzicht auf Egoismen zu organisieren. In „Night“ gab es kein Survival of the Fittest: überleben ließ Romero niemanden, auch nicht die Hauptfigur. In „Dawn of the Dead“ (1978) fiel die Zivilisationskritik noch derber, dafür aber zwingender aus: Romero zeigte eine Gruppe von Überlebenden als unverbesserliche Konsum-Egomanen, die sich in einem riesigen Supermarkt verschanzen und fast ausnahmslos zugrunde gehen, weil sie im Überfluss nicht teilen können. „Day of the Dead“ (1985) war dagegen als Billig-Produktion weit vom ursprünglichen Konzept Romeros entfernt und trivialisierte das allegorische Moment des Films durch den nicht immer geglückten Versuch, so etwas zu drehen wie „Dr. Frankenstein meets the Dead“.
Nach Abschluss seiner Trilogie war Romero bereits ein Genre-Heros, dem es vorzüglich gelang, die Kritiker mit mehr oder weniger dezenten Interpretationsangeboten von seiner linksliberalen Systemkritik zu überzeugen. Schon bevor 2005 „Land of the Dead“ in die Kinos kam, wusste man, dass man es mit einem Anti-Bush-Film zu tun hat, der dann allerdings seine Versprechungen eher platt umsetzte.
Romeros fünfter „Dead“-Film ist nun ein Prequel, das zu den Anfängen zurückkehrt, also in der filmischen Chronologie in der Zeit von „Night“ angesiedelt ist, wobei „Diary“ mitsamt seiner digitalen Technik natürlich im Hier und Jetzt der Internet Communities spielt. Mit der Low-Budget-Produktion kehrt Romero auch zu der genauen Beobachtung von Gruppenmechanismen und dem Zusammenbruch sozialer Kontexte zurück. Anders als in „Night“, der ästhetisch beim Expressionismus Anleihen machte und dennoch für Distanz bei der Beobachtung der Probanden sorgte, ist „Diary“ ein Film, der einem die Gebrauchsanweisung im Off gleich mitliefert. Dank der Kommentare von Debra stellt Romero seine Deutungshoheit sicher und so darf man nachdenklich die Antwort auf Fragen wie „Wenn du und die Kamera nicht dabei wären – ist es dann überhaupt geschehen?“ suchen.
Das mag man trivial finden, dennoch spielt „Diary“ eindeutig in einer anderen Liga als „28 Days Later“, „Resident Evil“ oder [REC], um erst gar nicht von dem „Saw“- und „Hostel“-Universum des naturalistischen Sadismus reden zu müssen.
Romero gelingt es, mit zunehmender Überzeugungskraft zu zeigen, dass der Gruppe in ihrem Wohnmobil langsam die Orientierung abhanden kommt. Während alle am Anfang noch voller Empathie auf den Selbstmord einer Gefährtin reagieren, ist am Ende die Abstumpfung der meisten so weit gediehen, dass man bei Angriffen von Zombies zunächst an die saubere Kameraeinstellung denkt und erst danach daran, dass man dem bedrohten Freund vielleicht doch eher helfen sollte. Alle werden „immun gegen die Wirklichkeit“ (Debra) und dies umso mehr, als sich vor allem Jason mit dem zwanghaften Wahn schützt, alles authentisch filmen zu müssen, um die Wahrheit zu verkünden. So blockt man Mitempfinden ab und wie es bei Romero üblich ist, wird die Gruppe dezimiert, bis die letzten Drei sich im Panic Room eines Landhauses verschanzen, das bald darauf von einigen Hundert Untoten bevölkert wird.
Gut, das penetrante Dozieren im Off wirkt zeitweise etwas nervtötend („Sind wir es wert gerettet zu werden?“), aber immerhin gelingen Romeros visueller Intelligenz und seiner überwiegend stringenten Erzählweise einige Bilder von dauerhafter Wirkung, die zumindest von seiner unverbrauchten Lust am blutrünstigen Fabulieren berichten. Diese Lust ist durchaus ambivalent - oder ist es ironisch gemeint, wenn Debra am Ende moralisch entsetzt ihren letzten Download präsentiert, der akribisch zeigt, wie zwei Farmer Zombies quälen? Romero nutzt die Chance jdenfalls und zeigt an dieser Stelle einen der übelsten Splatter-Effekte des gesamten Films. Das erinnert mich an Mark Twains weise Einsicht: "„Herr, lass mich ein guter Mensch sein. Aber bitte nicht sofort.“

Fazit: In „Diary of the Dead“ erfahren wir nichts Bahnbrechendes, vielmehr all dies, was wir eigentlich wissen sollten und müssten. Vielleicht tut uns die erneute Penetration aber doch ganz gut: Es gibt keine objektive, unvoreingenommene Darstellung der Wirklichkeit, man ist immer mitten drin, auch mit der Kamera. Und wer sich der Illusion hingibt, neutraler Beobachter zu sein, ist schon erledigt. Nicht nur physisch, sondern auch, weil er dem schönen Trugbild der Medien erliegt.
So oder ähnlich lautet des Altmeisters nicht mehr ganz taufrische Erkenntnis. Witzig ist allerdings die Distanz, die Romero damit zu den Nutzern von „You Tube“ und ähnlichen Plattformen aufbaut. Auch sie scheitern am System, dass sie eigentlich überwinden wollen. Und möglicherweise werden tatsächlich alle Versuche, demokratische Medien zu schaffen, mühelos vom "Medien-Oktopus" (Romero) verschlungen. Jedenfalls zeigt er uns die Zombies als jene Krankheit, die eine Zivilisation dann unvorbereitet trifft, wenn sie nicht imstande ist, ihren maroden Kern zu überwinden – wie jene Überlebenden, die sich in „Dawn of the Dead“ in der schönen bunten Warenwelt eines Konsumtempels verschanzen. Aber auch die Zombies zieht es zu jenem Ort, der einmal ihr Lebensmittelpunkt war: „Es heißt: wir gegen sie – nur, dass wir und sie dasselbe sind!“ (Debra in „Diary“). Selten wurde dies so konsequent und bitterböse wie in „Dawn of The Dead“ umgesetzt, aber Romeros vorläufig letzter Kommentar ist streckenweise witzig genug, um all den Nonsens locker an die Wand zu spielen, den uns der Horrorfilm in diesen Tagen ansonsten beschert: "Jede Generation bekommt das George A. Romero-sozio-politische Zombie-Opus, das sie verdient" (Marc Savlov, Austin Chronicle).

Bonus
„Diary of the Dead“ ist als 2er-Set mit reichlichem Bonusmaterial erschienen. Neben den üblichen Featurettes, in denen sich alle Beteiligten beteuern, wie schön ihre Zusammenarbeit war, gibt es einen wirklich sehr gut gemachten und erstaunlichen Dokumentarfilm über die Entstehung von „The Night of the Living Dead“: „In One for the Fire – The Legacy of Night of the Living Dead“ erfährt man viel über den Enthusiasmus von Werbefilmern, die ihren ersten Kinofilm machen wollen, auch einiges über das Lernen am Set und warum später das Copyright des Films so versaut wurde, dass er bis heute de jure öffentliches Eigentum ist. Aufschlußreich sind auch die Ängste von Duane Jones, der als farbiger Schauspieler in "Night" eine Weiße ohrfeigt. Dazu passt auch der seltsame Zufall, dass Romero und sein Produzent ihrem späteren Verleiher den Film ausgerechnet an dem Tag vorstellten, an dem Martin Luther King erschossen wurde (in "Night" wird am Ende der farbige Held ebenfalls erschossen). Ganz ehrlich: wer diese Doku gesehen hat, wird auch „Night“ mit etwas anderen Augen sehen.

Technisch ist die DVD sehr gelungen: die Farben bleiben etwas flach, was angesichts des Themas durchaus angemessen ist, das scharfe Bild erreicht zwar in den Nachtszenen nicht immer die räumliche Tiefe, ansonsten ist das Mastering aber überzeugend, was auch überwiegend für das Bonusmaterial gilt. Dort verblüffte mich die Qualität der „Night“-Ausschnitte, die ich in dieser Form bislang noch nicht gesehen habe.
Wer die Originalfassung sieht, wird mit Cameo-Auftritten von Quentin Tarantino, Guillermo del Toro, Wes Craven, Simon Pegg und Stephen King als Nachrichtensprecher belohnt! Nicht nur aus diesem Grund ist diese DVD für Genrefans ein absolutes Muss!

Noten: BigDoc = 2,5