Mittwoch, 30. Januar 2013

Lincoln

O.: Lincoln, USA 2012, Regie: Steven Spielberg, Drehbuch: Tony Kushner, Länge: 145 Minuten, FSK: ab 12 Jahren, Darsteller: Daniel Day-Lewis, Tommy Lee Jones, Sally Field, David Strathairn, Joseph Gordon-Levitt.

Gleich zu Beginn von Steven Spielbergs Biopic über Abraham Lincoln ist Lincoln nahe bei seinen Soldaten. Oft wird das in Spielbergs Film nicht der Fall sein. Es ist Anfang 1865, vier Jahre nach dem Angriff der Konföderierten auf Fort Sumter. Der große Bürgerkrieg hat sich längst gewendet, der Sieg der Union ist absehbar. Zwei weiße Soldaten können glorreiche Lincoln-Reden auswendig vortragen, zwei junge schwarze Unionssoldaten sprechen über barbarische Kriegsakte, Lincoln hört geduldig zu. Der jüngere der beiden Schwarzen gerät in eine Mischung aus Rage und Enthusiasmus: er könne sich vorstellen, dass nach dem Sieg der Union bald auch Farbige höhere Ränge in der Armee bekleiden können, in hundert Jahren gäbe es dann womöglich auch einen schwarzen General. Der US-Präsident hört lächelnd zu, verspricht aber nichts, dann schickt er beide zu ihrer Kompanie. Die Szene endet mit einer Totale, der Präsident bleibt allein zurück. Man ahnt als Zuschauer nicht nur, sondern weiß, dass die Geschichte der Farbigen in den USA etwas anders verlaufen ist.

Dies ist bereits eine der besten Szenen des Films. Sie zeigt den Mythos, der Lincoln bereits umgibt und der später besonders in der schwarzen Bevölkerung bis heute gepflegt wird: Lincoln, der Sklavenbefreier. Spielberg deutet aber auch an, dass sein Lincoln weiß, dass Politik Grenzen hat. Und mit historischem Mehrwissen ausgestattet, dürfte sich bei einigen Zuschauern milde Skepsis breitmachen, denn von Spielbergs Lincoln zu Spike Lee führt eine direkte Verbindung: die manifesten Rassenunterschiede in den Vereinigten Staaten sind immer noch da, aber 150 Jahre nach Lincoln werden schwarze Regisseure zumindest ihre Geschichtsdeutung medial verarbeiten können, auch wenn der weiße Mann seine Deutungshoheit nicht ganz aufgeben will.

Manipulieren und Bestechen: Lobbyismus für die gute Sache

Steven Spielberg lässt Daniel Day-Lewis (Golden Globe 2013 als Bester Hauptdarsteller) die präsidiale Ikone spielen. Und der zweifache Oscar-Preisträger macht seine Sache ausgezeichnet: er pendelt die Rolle so aus, dass die historische Bedeutung der Figur erhalten bleibt und die privaten Momente des Mannes nicht im Soap landen. Vom nuancierten Mienenspiel, den endlosen Anekdoten, die Lincoln erzählt,  bis zu den berühmten Manierismen des großen Mannes gibt Day-Lewis beinahe alles, um mit der Figur so zu verschmelzen, dass man glaubt, den leibhaftigen Lincoln auf der Leinwand zu sehen. Eine perfekte Illusion, allerdings im positiven Sinne.

Gewagt hat es bislang kein Regisseur, ein Lincoln-Biopic groß anzulegen. Wohl wissend um die Komplexität der historischen Dimensionen hat sich Regie-Legende John Ford 1939 in „Young Mr. Lincoln“ auf eine frühe Episode aus dem Anwaltsleben des späteren Präsidenten konzentriert und Henry Fonda war weißgott kein schlechter Abraham Lincoln, aber auch danach gab es erstaunlicherweise keinen Lincoln-Film, der aufs Ganze ging.
Genau aber das will Spielberg: er will Lincoln auf dem Höhepunkt seines politischen Schaffens zeigen, nämlich beim Kampf um den 13. Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung, mit dem die Sklaverei in den Vereinigten Staaten abgeschafft werden soll.
Da der große epische Historienfilm mitsamt seiner glanzvollen Pathetik filmhistorisch erledigt ist, ist allerdings Nuancierung angesagt. Und so zeigt Spielberg Lincolns politisches Ringen kurz vor dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs als diskretes Kammerspiel, als extrem dialogzentrierte Dauerdebatte, in der sich sein Lincoln bei der Beschaffung der erforderlichen Stimmen die Hände schmutzig machen. Die diskreten Angebote und keineswegs immateriellen Vergünstigungen, die er von gewieften Politprofis überbringen lässt, sind notwendig, um die letzten Stimmen zusammen zu bekommen. Dazu muss der Republikaner Lincoln allerdings bei den Demokraten wildern, den strikten Gegnern des Abolitionismus. Manipulieren, Bestechen, Überreden, Erpressen: Lobbyismus für die gute Sache. 150 Jahre später werden uns TV-Serien wie „The West Wing“ und „The Wire“ von der Alltäglichkeit diese politischen Kultur endgültig überzeugen.

Dieses Taktieren und Lavieren, das ständige Reden und Verhandeln, machen „Lincoln“ sehr theaterhaft und möglicherweise etwas dröge, zeigen aber auch die Ambivalenzen des demokratischen Diskurses auf, die offenkundig zeitlos sind. So wechselt der Film zwischen Weißem Haus und Repräsentantenhaus hin und her und landet immer wieder inmitten diffiziler Strategiegespräche, die alles andere als anspruchslos sind. Spielberg will historische Tiefe und lässt seinen Lincoln weitreichende staatspolitische Analysen vortragen, die sicher den einen oder anderen Zuschauer überrollen werden, etwa wenn Lincoln die verfassungs- und staatsrechtlichen Konsequenzen seiner Emanzipations-Proklamation haarklein analysiert, um zu verdeutlichen, dass er damit die Besitzrechte der Sklavenhalter als Teil des Kriegsrechts faktisch anerkannt, aber den zivilen Status der Schwarzen nach dem Kriegsende völlig offen gelassen hat.Das hört sich immer auch etwas nach Geschichtsstunde an.

Fomal überragend, inhaltlich gediegen

Dies alles wird von Spielberg bevorzugtem Kameramann Janusz Kamiński mit unaufdringlicher Eleganz in fast klassischen Bildern eingefangen, die dem Film jedweden Anflug stilistischer Auffälligkeit austreiben. Auch der Verzicht auf pathetische Musik überrascht in diesem konzentrierten Film. In „Lincoln“ verschwindet die Form hinter dem Inhalt und Spielbergs Film ist fast klassizistisch zu nennen, wenn man diesen Begriff zuallererst als Abgrenzung gegen vorherrschende Stilprinzipien versteht. Mit Michael Kahn ist zudem auch jener Cutter mit an Bord, der für Spielberg bereits in vielen anderen Filmen für eine angemessene Continuity sorgte.
Über weite Strecken wirkt „Lincoln“ deshalb wie Schulfunk auf extrem hohen formalen Level, ein Film, der sich filmhistorisch Rang und Geltung verschaffen will und dafür auch mit zwölf Oscar-Nominierungen belohnt wurde.
12 Jahre hat Steven Spielberg den mit einem Budget von 50 Millionen US-Dollar an Originalschauplätzen in Illinois und Virginia gedrehten Film vorbereitet. Zahlreiche Drehbuchentwürfe wurden verworfen, ehe Pulitzer-Preisträger Tony Kushner eine verwertbare Version vorlegen konnte, die auf der Lincoln-Biografie von Doris Kearns Goodwin „Team of Rival“ basiert und genaugenommen eine Sachbuchverfilmung ist. Unangreifbar wird der Film trotz dieser Akribie nicht.

Der Film leidet dabei weniger am irrlichternden Mythos der Lichtgestalt Abraham Lincoln, sondern am Konzept des Films: Spielberg und sein Drehbuchautor verengen den Fokus und beschränken sich darauf, lediglich die letzten vier Monate vor der Ermordung Lincolns zu erzählen, jene Monate, in denen Lincoln sich mit Nachdruck für die Zustimmung des Repräsentantenhauses zum 13. Zusatzartikel zur Verfassung (The Thirteenth Amendment) einsetzte, der zuvor bereits erfolgreich den Senat passiert hatte [1]. Wenn Steven Spielberg den Republikaner Lincoln und seinen Außenminister William H. Seward um die fehlenden Stimmen buhlen lässt (Lincoln benötigte zwanzig demokratische Stimmen aufgrund der unzureichenden Mehrheitsverhältnisse im Repräsentantenhaus), zeigt Spielberg zwei Männer, die selbst in den eigenen Reihen damit Probleme bekommen, die Abschaffung der Sklaverei zu begründen. Wozu denn ist die Union eigentlich in den Krieg gezogen, fragt man sich am Anfang des Films verblüfft. 

Die thematische Engführung und die Beschränkung auf eine historische Episode sind aus dramaturgischen Gründen allerdings nachvollziehbar. Clint Eastwoods „J. Edgar“ hat sich ähnliche Beschränkungen auferlegt und ersparte dem Publikum den paranoiden FBI-Chef Hoover der Nachkriegsjahre. Daran kann man sich reiben, man muss es nicht.
Wie gesagt: „Lincoln“ beantwortet nicht alle Fragen, dies ist gelegentlich ärgerlich. Der enge historische Fokus des Films deutet zwar an, dass es möglicherweise andere Kriegsziele gegeben hat, etwa die harten ökonomischen Disonanzen zwischen und Nord und Süd, später die Verhinderung der Separation der Südstaaten, "Lincoln" kann oder will aber nicht das ohnehin sehr diffizile Motivgemenge aus ökonomischen und staatspolitischen Ursachen in den Film einbringen und streift die verfassungsrechtliche und historische Vorgeschichte nur am Rande. So wurde immerhin 1861 unter Präsident Buchanan mit dem Corwin-Amendment der erste, schnell vergessene, 13. Zusatzartikel verabschiedet, der definitiv ausschloss, dass es dem Kongress jemals gestattet sei, die Sklaverei abzuschaffen. Lincoln, ein Verfassungsbrecher?
Am Griff nach dem Geschichtsbuch führt nach diesem Film jedenfalls kein Weg vorbeit.

Letztlich eine Geschichte des Scheiterns

Den kompletten Lincoln bekommen wir also nicht zu sehen. Steven Spielberg hat seinem Sujet eine andere Wendung gegeben: er zeigt uns nur eine der moralischen Visionen des Mannes, der nicht zu den Hardlinern der Sklavenbefreiung gehörte und zu allerlei taktischen Manövern bereit war. Spielberg erspart uns auch einen Lincoln, der noch 1862 im berühmten Greeley-Brief kund tat: „Mein oberstes Ziel in diesem Krieg ist es, die Union zu retten; es ist nicht, die Sklaverei zu retten oder zu zerstören. Könnte ich die Union retten, ohne auch nur einen Sklaven zu befreien, so würde ich es tun; könnte ich sie retten, indem ich alle Sklaven befreite, so würde ich es tun; und könnte ich die Union retten, indem ich einige Sklaven befreite und andere nicht, so würde ich auch das tun. Alles, was ich in Bezug auf die Sklaverei und die Schwarzen tue, geschieht, weil ich glaube, dass es hilft, die Union zu retten.“
In Spielbergs Biopic ist Lincoln auf die Sklavenfrage so eingeschworen, dass er bereit ist, mögliche Friedensgespräche mit den Konföderierten zu verhindern, um das 13th Amendment durchzuboxen: ein zu schneller Friedenschluss hätte, so machen uns Spielberg/Kushner klar, die Aussetzung der Debatte um die Sklaverei bedeutet. Diese List zieht zusätzliche Kriegsmonate und noch mehr Tote nach sich und wenn Lincoln am Ende der Gewinner ist, dann ist es Spielberg immerhin gelungen, die Gratwanderung dieser letzten Monate überzeugend nachzuerzählen.

Privates findet nur selten den Weg in den Filmen. Lincoln muss sich zwar gelegentlich mit seiner scharfsinnigen Frau Mary (Sally Field) auseinandersetzen, auch das Bemühen, seinen patriotisch gestimmten Sohn Robert (Joseph Gordon-Levitt) aus dem Krieg herauszuhalten, zeigt eine weitere Facette der ambivalenten Gemütsverfassung Lincolns, aber am Ende bleiben diese Episoden eben das, was sie sind: Episoden.
In „Lincoln“ ist der Held eine historische Führerfigur in vollem Bewusstsein ihrer historischen Größe und der Zufälligkeit historischer Prozesse. Die Dauerdialoge werden zwar einige langweilen, aber das wird dem Film dann doch nicht gerecht. Spielberg hat einen insgesamt sehr durchdachten und auch durchaus spannenden Film vorgelegt, der besonders durch seinen sachlichen Grundton überzeugt und sich auch Zeit für Zwischentöne nimmt. 

So sorgt „Lincoln“ ausgerechnet mit einer Nebenfigur für eine erstaunliche Facette: Tommy Lee Jones spielt den radikalen Republikaner Thaddeus Stevens, der in der Rassenfrage nicht nur die Gleichheit der Farbigen vor dem Gesetz forderte, sondern in klarer Weitsicht erkannte, dass dies weitreichende Konsequenzen für die zivile Verfasstheit der USA haben wird: Wahlrecht, soziale Gleichstellung und Beseitigung des Bildungsdefizites standen auf Stevens Agenda genauso wie die Rechte der Indianer, Juden, Chinesen und auch der Frauen. Und so hat Stevens die deutlich radikaleren und möglicherweise konsequenteren Visionen. Als es dann im Repräsentantenhaus zur entscheidenden Abstimmung kommt, schwört Stevens seinen Ideen allerdings aus taktischen Gründen ab: 
Ich bin nicht für Gleichheit in allen Dingen, aber für Gleichheit vor dem Gesetz".

Hier wird klar, dass in „Lincoln“ nicht nur die Moral im Gewand des politischen Pragmatismus siegt, sondern auch die Vision einer politischen Elite, die nicht in der Lage war, die Nation in Gänze zu überzeugen. Das hat sich später gerächt. So kann man „Lincoln“ auch in letzter Konsequenz als eine Geschichte des relativen Scheiterns lesen. Dass zeitgleich mit dem Kinostart ein farbiger Präsident im Amt bestätigt wurde, galt denn auch einigen Kritiker gleich als Warnung und Appell an Barack Obama.
In seiner letzten Szene in „Lincoln“ nimmt sich dann Tommy Lee Jones die Perücke ab und legt sich zu seiner Geliebten ins Bett – es ist die farbige Witwe Lydia Hamilton Smith. Mitgebracht hat er das Originalskript des Amendments. Besser geht’s nicht und ganz ehrlich: der kauzige und bärbeißige Tommy Lee Jones ist der heimliche Held in „Lincoln“.

Noten: BigDoc, Klawer = 2

Postscriptum:
Die Kritik im nachfolgenden Pressespiegel, nämlich dass Lincoln" keine Farbigen zeigt, stimmt einerseits nicht (wovon man im Kino sich schnell überzeugen kann), andererseits sehe ich bei diesem Sujet auch in dramaturgischer Hinsicht wenig Spielraum für eine entsprechende Figurenentwicklung. „Lincoln" ist insofern auch recht konsequent: weiße Männer debattieren mit weißen Männern über das Schicksal der Schwarzen. Ich vermute, dass die Kritik eher zum obligatorischen Spielberg-Bashing gehört.
Vergleichbar wäre ein Gezetter, dass dem Film vorwirft, die Indianerpolitik Lincolns nicht zu kommentieren. DAS wäre allerdings wirklich ernst zu nehmen, zumal dieser Aspekt mit der Figur von Thaddeus Stevens verknüpft werden könnte. Ein Beispiel: 1862 unterzeichnete Lincoln den Homestead Act, der die Landnahme weißer Siedler auf eine besondere Rechtsgrundlage stellte und ihren Besitz vor Übernahme, u.a. durch Pfändungen, schützte. Dies ging zu Lasten der Indianer, besonders der nomadisierenden Stämme, denen das Land weggenommen werden konnte - es wurde ja nicht bewirtschaftet! Die Folge waren Aufstände, die genozidähnlich niedergeworfen wurden. In Lincolns Amtszeit fällt auch die größte Massen-Hinrichtung aller Zeiten, als 38 Indianer gehängt wurden. Dabei hatte Lincoln die Anzahl der Todesurteile (ursprünglich 200) bereits drastisch gesenkt, was ihm politisch geschadet hat.
Es ist das Verdienst einer Indepent Movie Production, der Smooth Feather Productions, mit ihrem Film "Dakota 38" diese Ereignisse aus Lincolns Amtszeit aus Sicht der Betroffenen nachgezeichnet zu haben: http://www.smoothfeather.org/index.php?pg=films.

Der Film steht als Free Download zur Verfügung.

Zum Teil ist die o.a. erwähnte Kritik für Filmwissenschaftler unter dem Aspekt der Diegese interessant. Ich will den Unterschied zwischen Mimesis und Diegesis hier nicht erörtern, möchte aber einen Aspekt besonders hervorheben, und zwar etwas, was bereits amerikanische Filmstudenten als Basics lernen:


The diegesis includes objects, events, spaces and the characters that inhabit them, including things, actions, and attitudes not explicitly presented in the film but inferred by the audience. That audience constructs a diegetic world from the material presented in a narrative film.

Interessant daran ist der Aspekt, dass die uns erzählte Filmhandlung eine Art von Erzählkosmos herstellt, in dem wir Dinge und Zusammenhänge schlussfolgern können, die nicht gezeigt werden. Ich habe mich immer für den rezeptionsästhetischen Aspekt interessiert und die Frage, ob die Rezeption sich nur auf das vom Film präsentierte Material beschränken muss oder ob der Prozess grundsätzlich offen ist. Man kann (vgl. meine Kritik zu "Life of Pi") dann von einem offenen Filmmodell sprechen, wenn in einer Filmerzählung die Weglassungen spannender sind als die Hinzufügungen. Damit ist keineswegs eine fehlerhafte Filmerzählung gemeint (z.B. wenn historische Zusammenhänge ausdrücklich gefälscht werden), sondern eher eine, die es ausgesprochen notwendig macht, aus der vermeintlich geschlossenen und faktisch 'wahren' Filmerzählung herauszutreten und, simpel formuliert, die Weglassungen selbst zu ergänzen, indem man schlicht und einfach etwas zu dem Thema liest. Im Übrigen ist es eine Aufgabe der Filmkritik, diese Aspekte auf verständliche Weise aufzuarbeiten.

Pressespiegel:


„Spielberg ergreift die Gelegenheit, die Langwierigkeit politischer Prozesse in klassischer Thrillermanier zu inszenieren: Unterschiedliche Konfrontationen treten parallel auf, Probleme entzerren sich in letzter Sekunde, und familiäre Randkonflikte entschleunigen die Rasanz der Haupthandlung. Etablierte Erzähltechniken bestimmen den Filmrhythmus und stellen gleichzeitig auch den Charakter des Protagonisten heraus, trennen Privates von Politischem, heben seine Stärken wie seine Makel hervor. Lincoln wird weder stupide personalisiert noch zur Ikone sakralisiert“ (Lukas Stern in: critic.de)

„In „Munich“, in „Amistad“, in „Die Farbe Lila“ und im „Reich der Sonne“ hat man gesehen, was mit Spielbergs Kino passiert, wenn es Geschichte, Realgeschichte schreiben will - es stolpert, hechelt, schwitzt, gerät aus dem Tritt. Umso größer ist die Überraschung von „Lincoln“. Keine Liebesgeschichte diesmal, kein Gral, kein Ufo, kein Hai. Stattdessen ein parlamentarisches Verfahren, so knochentrocken und zäh wie alle Dramen der Demokratie“ (Andreas Kilb in: faz.net). 

 „Spielberg zeigt die politischen Akteure in spannenden Debatten - aber alles bleibt doch immer ein Kammerspiel und wirkt wie verfilmtes Theater. Dazu trägt auch Daniel Day-Lewis seinen Teil bei… Wie ein Lincoln-Gespenst schlurft er durch den Film, endgültig zu jener Karikatur eines Method-Acting-Anhängers zusammengeschrumpft, die sich schon in seinen Rollen als Gangster "Butcher Bill" in "Gangs Of New York" und vor allem als seelenloser Kapitalist Daniel Plainview in "There Will Be Blood" andeutete … Quentin Tarantino's "Django Unchained", der fast zu gleichen Zeit spielt wie "Lincoln" wirkt als dessen Gegenentwurf und Mängelanzeige: Eine Anklage des Rassismus, wo Lincoln nur ein Lob des Guten ist. Und ein Film mit vielen schwarzen Darstellern. "Lincoln" dagegen handelt zwar von der Sklavenbefreiung, zeigt aber nur schlaue alte weiße Männer. Die wenigen schwarzen Figuren sind entweder stumme Diener, lächelnde Onkel Toms, hübsche Nannys, die auch mal mit ins Bett schlüpfen, um Opas Unterleib zu wärmen. Oder sie plappern gelehrig Worte der Weißen nach wie Lincolns "Gettysburg Adress" in einer der ersten Szenen. Aber nichts zeigt Spielberg von der Realität des versklavten Amerika“ (Rüdiger Suchsland in: heise.de). 

„Wo die klassischen Definitionen des Autorenfilms nicht greifen, braucht es vielleicht neue Kategorien. In seiner Gesamtheit steht Spielbergs Kino für den Glauben an die Macht der Geschichte, sei sie fiktional oder historisch inspiriert. Seine besten Filme, ganz gleich in welchem Genre, sind moralisch, ohne jedoch einfache Wahrheiten zu predigen, und sie fordern die emotionale und intellektuelle Anteilnahme des Publikums. Wunderkind und Jäger der Einspielrekorde, das waren Spielbergs Rollen in der Vergangenheit. Heute ist er schlicht einer der größten Erzähler, den das Kino hervorgebracht hat“ (David Kleingers in: DER SPIEGEL).

[1] Weder Sklaverei noch Zwangsarbeit, ausgenommen als Strafe für ein Verbrechen aufgrund eines rechtmäßigen Urteils, sollen in den Vereinigten Staaten von Amerika und allen Orten, die ihrer Rechtsprechung unterliegen, existieren."

Montag, 28. Januar 2013

Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger

Originaltitel: Life of Pi – USA 2012 – Länge: 127 Minuten – Regie: Ang Lee – D: Suraj Sharma, Irrfan Khan, Rafe Spall, Gérard Depardieu.

Ang Lees neuer Film „Life of Pi“ ist 11-mal für die 85th Academy Awards nominiert worden. Die Konkurrenz ist nicht nur groß, sondern auch gut, und ob es für mehrere Oscars reichen wird, ist fraglich: bereits bei den Golden Globes gab es für Lees Film nur eine Auszeichnung in einer Nebenkategorie. Ginge es um visuelle Qualität und brillantes CGI, dann wäre die Sache klar. Aber „Life of Pi“ will mehr sein: auf den ersten Blick eine Abenteuergeschichte, schickt Ang Lee seinen Helden bei näherem Hinsehen auf die Suche nach einem Gott jenseits der großen Weltreligionen. Ob sich die Juroren für ein universell-spirituelles Religionsmodell erwärmen können, bleibt abzuwarten.

„Life of Pi“ (nach dem Roman „Schiffbruch mit Tiger“ von Yann Martel) funktioniert nicht ohne seine Rahmenhandlung, aber warum dies so ist, begreift man erst zum Schluss: ein unbekannter Romanautor ist auf der Suche nach einem packenden Stoff und besucht im kanadischen Montreal einen Inder, der angeblich eine solche Story auf Lager hat. Pi Patel (Irrfan Khan, u.a. „Slumdog Millionaire“, 2008) erzählt dem Besucher in Rückblenden von seiner Kindheit als Sohn eines Zoodirektors - nicht nur Tiere, sondern auch religiöse Erfahrungen faszinierten ihn. So ist Pi (der Name steht für die gleichnamige mathematische Konstante) zunächst Hindu, entdeckt dann aber den Katholizismus und schließlich auch den Islam für sich, während sein Vater als säkularer Rationalist humorvoll auf die Erkenntnistrips seines Sohnes reagiert.
Als Pis Vater beschließt, auszuwandern und die Tiere in der neuen Heimat zu verkaufen, tritt Pi, der sich gerade frisch verliebt hat, nur widerwillig die lange Schiffsreise an. Als das Schiff in einem gewaltigen Sturm sinkt, findet sich Pi als einziger menschlicher Überlebender in einem Rettungsboot wieder. Zusammen mit einem weiblichen Orang-Utan, einer aggressiven Hyäne, einem Zebra und einem bengalischen Tiger namens „Richard Parker“. Die Hyäne tötet erst das Zebra, dann den Orang-Utan und wird schließlich von Richard Parker getötet. Pi und der Tiger sind nun allein und es scheint, als wäre nur für einen der beiden Platz auf dem Rettungsboot.

Sehenswerte Bilder einer spirituellen Reise

Optisch ist der Film über jeden Verdacht erhaben: was Ang Lees Film zu bieten hat, ist schlichtweg überwältigend. Das gilt nicht nur die Meeresszenen, für die ein gigantischer 1,7 Mio. Liter fassender Wellentank gebaut wurde, auch die von den Rhythm & Hues Studios in langer Vorarbeit entwickelten visuellen Effekte lassen sich nicht lumpen: alle Tiere an Bord des Rettungsbootes sind komplett animiert und wirken so realistisch, dass man ihren Ursprung fast nicht glauben mag. Aber nicht nur der Naturalismus des Films überzeugt, auch die Aufnahmen des Meeres faszinieren. Angefangen bei den Sturmszenen und später dann bei ihrer Verwandlung in einen magischen Ort, voller fluoreszierender Lichter und geheimnisvoller Meeresbewohner, die von Kameramann Claudio Miranda (u.a. „Zodiac“; Oscar-Nominierung für „Life of Pi) in stimmungsvollen Bildern eingefangen worden sind.

Die Technologie ist in „Life of Pi“ aber kein Selbstzweck, Ang Lee erzählt auch keine sentimentale Mensch-Tier-Geschichte à la Disney. Richard Parker, der Tiger, ist und bleibt eine Raubkatze, für die der Junge Pi lediglich eine Futterressource ist. Und so arrangieren sich Mensch und Tier nicht, sondern grenzen in einem langen Kampf ihre Lebensräume voneinander ab. Um überleben zu können, braucht Pi aber mehr als eine Plane eingefangenen Regenwassers und die wenigen Fische, die er mit Richard Parker teilt. Die über fünf Monate dauernde Odyssee wird zu einer spirituellen Reise, in der ausgerechnet der mörderische Tiger, dem Pi schließlich sogar das Leben rettet, eine existenzielle Bedeutung erhält. Dem Tiger, so erzählt Pi im Off, verdankt er sein Leben, die Schicksalsgemeinschaft an Bord interpretiert der Mensch halt anders als die Raubkatze.

Pi und sein Tiger werden schließlich nach endloser Seereise an die Ufer einer geheimnisvollen Insel gespült, auf der Tausende von Erdmännchen leben. Aber nachts, so erzählt Pi seinem Gast, habe sich die Insel in ein fleischfressendes Monstrum verwandelt, und so müssen Pi und Richard Parker, der sich mittlerweile auf eine Art befristeter Koexistenz eingelassen hat, ihre Reise fortsetzen. Am Ende landen sie an der mexikanischen Küste, ausgehungert und fast verdurstet, und während Pi in letzter Minute von einigen Küstenbewohner entdeckt und gerettet wird, schleicht der abgemagerte Tiger in den tropischen Dschungel, ohne seinen darüber verzweifelnden Reisegefährten eines Blickes zu würdigen.

Hier endet zunächst die Geschichte, die Pi Patel dem überwältigten Buchautor erzählt. Doch es folgt eine finale Volte, in der Pi davon berichtet , dass er im Krankenhaus von zwei japanischen Vertreter der Reederei des untergegangenen Schiffes befragt wurde. Beide sind enttäuscht, denn mit der Geschichte von dem Tiger und dem Jungen können sie nichts anfangen. Pi erzählt daraufhin ein glaubwürdigere Variante: so sei er mit einem verletzten Matrosen, einem misanthropischen Koch und seiner Mutter im Rettungsboot gelandet. Der Koch habe erst dem Matrosen das verletzte Bein amputiert und ihn nach dessen Tod kannibalisch verspeist. Im anschließenden Streit habe der Koch seine Mutter getötet, worauf Pi den Koch getötet hat. Als Pi Patel schließlich lächelnd den Buchautor fragt, welche Geschichte ihm denn nun besser gefallen habe, erwidert dieser: Die mit dem Tiger.

Auf der Suche nach dem verlorenen Glauben

Ang Lee hat keinen Zweifel daran gelassen, dass Pis Reise nichts anderes sei, als die Suche nach seinem Glauben und damit nach Gott. Dass er weit davon entfernt ist, dabei eindeutig Position beziehen zu können, hat Lee in einem Interview klar gemacht: die Suche nach dem Glauben sei die Entdeckung der Emotionen, die Pi benötigt, um sich auf das Unbekannte einzulassen. Dabei sei Gott nicht der alles determinierende Schöpfergott, an den Pi zunächst glaubt, sondern am Ende der Reise verwandele er sich in die Reflexion unseres eigenen Inneren: „Letztlich reduziert es die Glaubensfrage auf eine Alternative: Hat Gott uns geschaffen – oder wir ihn?“

Wie sich der Zuschauer in der Gottesfrage entscheidet, bleibt ihm überlassen. „Life of Pi“ ist nicht deutungsoffen, aber offen für Deutungen. Dazu gehört, dass der Film Platz lässt für eine rationale Auslegung seiner filmischen Parabel. Man kann „Life of Pi“ spirituell erleben, aber eben auch psychologisch als Form einer Traumabewältigung rationalisieren. Das Leiden und die Erinnerung an furchtbare Erlebnisse entzieht diesen nicht nur jeglichen Sinn, der Leidende generalisiert die Sinnlosigkeit und das Leben an sich wird bedeutungslos . Die Umdeutung der Erinnerungen, die Pi zugunsten einer spirituell-mythischen Version vornimmt, verweigert sich zwar den blanken Tatsachen, birgt aber immerhin die Chance der Selbstheilung.
In Lees Film wird die Sache etwas komplizierter, da Pi Patel offenbar seine faktischen Erlebnisse nicht verdrängt hat, sondern für sich lediglich eine zusätzliche Lesart entwickelt hat. Er imaginiert eine Tierfabel, die zwar auch grausam ist, aber als bedeutungsvolle Geschichte plötzlich Sinn macht und den Schrecken abschwächt. Und das letztendlich nur dadurch, dass er diese Geschichtsrevision kommuniziert, sie als Geschichte anderen weitererzählt. Pi Patels Traumaarbeit ist sozusagen eine ästhetische Rekonstruktion des Erlebten, die Aufhebung der Fakten in einem poetischen Modell der Wirklichkeit, womit wir mitten im Kino gelandet sind, das letztendlich auch nicht anders funktioniert. Psycho-analytische, aber auch poetologische Interpretationen der Filmerzählung werden zwar nicht der religiösen Ausrichtung von Ang Lees Geschichte gerecht, stellen aber eine durchaus zulässige Version dar, die der Erzähler Ang Lee dem Zuschauer ausdrücklich als Deutungsmöglichkeit einräumt.

Und das scheint auch die Crux zu sein: wie viele überragenden Filme gelingt es „The Life of Pi“ das Geschichtenerzählen selbst auf den Prüfstand zu stellen. Warum erzählen wie überhaupt Geschichten? Sind Geschichten offene Modelle der Wirklichkeit, die nur dann funktionieren, wenn wir prüfen können, ob der faktische Kern einer Geschichte plausibel ist oder zumindest nicht die Tatsachen fälscht und verdreht? Oder sind Geschichten (auch) geschlossene Modelle, die mit der Wirklichkeit verknüpft sind, aber möglicherweise viel stärker mit unserem inneren Erleben und dessen immanenten Regeln zusammenhängen? Und gibt es eine spezifisch ästhetische Form für die Art von Kinoerfahrung?

Man sollte das Eine nicht gegen das Andere ausspielen oder aus ideologiekritischen Gründen Ang Lees „Life of Pi“ als unzeitgemäße Absage an den Rationalismus auslegen. Dessen Sollbruchstellen werden uns ja tagtäglich vorgeführt, wenn wir in der Zeitung lesen, was um uns herum vorgeht. Spekulativer Mystery-Krimskrams ist natürlich erst recht keine Alternative. Davon ist „Life of Pi“ aber weit entfernt.
Als Geschichtenerzähler hat uns Ang Lee in einen geschlossenen Kosmos entführt, in dem eine Geschichte mit doppeltem Boden erzählt wird. Klar, sie führt den Zuschauer sozusagen an der Nase herum, wenn sich am Ende die Geschichte des Jungen und seines Tigers als Metalepse entpuppt, also eine Geschichte, in der sich der fiktive Erzähler nachhaltig einmischt. In der Fiktion wird die erste Geschichte, nämlich jene von Pi und seinem Tiger, als Fiktion enthüllt, aber nicht als Plot-Twist, als raffinierter Kniff, sondern als liebenswerter Kartenspielertrick. Ang Lee lässt Pi einen metaphysischen Joker aus dem Ärmel ziehen, der alle anderen Karten aussticht und rückwirkend die Lesart des Films festlegt, ohne dass der Zuschauer überrumpelt wird. Schließlich kann auch er sich entscheiden, welche Geschichte er lieber mag. Mit Gott sei dies nicht anders, erklärt Pi dann lächelnd seinem Besucher.
Ein schöner, vielschichtiger Film, den viele nicht mögen werden. 

Noten: Mr. Mendez = 3, BigDoc, Melonie = 2

Dienstag, 8. Januar 2013

Monsieur Lazhar

Kanada 2011 - Regie: Philippe Falardeau - Darsteller: Fellag, Sophie Nélisse, Émilien Néron, Danielle Proulx, Brigitte Poupart, Evelyne de la Chenelière, Jules Philip, Daniel Gadouas, Louis Champagne, Seddik Benslimane - FSK: ab 12 - Länge: 94 min.

Der erste Film des Jahres war im Filmclub gleich ein Volltreffer: „Monsieur Lazhar“ (Kanada 2011) von Phillippe Falardeau ist eine berührende Tragödie aus dem Alltag einer kanadischen Grundschule. Eine Tragödie, in der es viel zu spät tröstlich zugeht und doch gibt es am Ende Gewinner und Verlierer. Doch halt, von Alltag kann in diesem Film eigentlich nicht die Rede sein, denn es ist nicht alltäglich, wenn Schüler aus der Pause zurückkehren und ihre Klassenlehrerin mitten im gemeinsamen Klassenzimmer mit einem Strick um den Hals von der Decke hängt.

Frage: Was passiert, wenn einem Jahr für Jahr ein kompetenter Automechaniker den Wagen herrichtet und man irgendwann erfährt, dass dieser Mann gar keine Berufsausbildung besitzt? Unser Mitglied Mr. Mendez gab dazu die passende Antwort: Nach sieben Jahren Berufserfahrung hat man den Status eines Gesellen. Gute Arbeit ist wichtiger als Formalien! So flexibel kann Handwerk hierzulande sein.
In Falardeaus Film wird sich eine ähnliche Frage am Ende stellen, denn der fast 50-jährige Algerier Bachir Lazhar (Mohamed Fellag), der sich um die freigewordene Stelle der toten Lehrerin bewirbt, gibt zwar eine lange Berufspraxis als Lehrer in Algier an, aber nach Referenzen und Zeugnissen wird angesichts des akuten Personalmangels erst gar nicht gefragt. Was Lazhar antreibt, erfährt man nicht, aber plötzlich steht der Mann, der in seiner Heimat ein Restaurantbesitzer war, inmitten der betroffenen Kinder und kann keine Antworten geben, da die richtigen Fragen noch nicht gestellt worden sind.

Genau Beobachtung der Trauerarbeit

Phillippe Falardeaus „Monsieur Lazhar“ ist kein Film über Institutionen, sondern erzählt von Menschen. Das Eine ohne das Andere, das scheint nicht denkbar zu sein, aber dem kanadischen Regisseur gelingt es, eine singuläre Geschichte ohne aufdringliche Botschaft zu erzählen - Film als fast dokumentarische Beobachtung der komplexen Prozesse, die Trauerarbeit abverlangt.
Natürlich gehört dazu genaues Hinschauen. Zu schnell könnt man holzschnittartig den Fokus auf eine globale Systemkritik richten. Von der Hand zu weisen wäre dies nicht, denn um die Leidfähigkeit des Systems Schule ist es in „Monsieur Lazhar“ nicht gut bestellt. Als hierarchische und von genau festgelegten Regeln bestimmte Institution wendet sie von der Trauerarbeit ab und bestellt dafür eine amtliche Psychologin ein, um alles, was in den 10- 11-jährigen Kindern vorgeht, gemäß der Richtlinien korrekt abzuarbeiten. Die Lehrer sollen besser über den Vorfall schweigen, dafür wird das Klassenzimmer, in dem die beliebte Lehrerin den Freitod gesucht hat, neu gestrichen. Auf etwas Ungeheuerliches war man nicht vorbereitet.

Falardeau schaut auch genau hin, wenn Monsieur Lazhar seine Arbeit aufnimmt. Der Algerier mit dem merkwürdigen Akzent ist ein höflicher, distinguierter Mann, der zunächst die Tische neu ausrichtet und zum alten Frontalunterricht zurückkehrt, und dann zum Entsetzen der Kinder aus Honoré de Balzacs La Peau de chagrin vorliest und sie gar Diktate darüber schreiben lässt.
Balzac: zu schwierig? In dem 1831 erschienenen Roman geht es immerhin auch um einen geplanten Selbstmord, aber auch um Allegorisches. Und Bachir Lazhar traut im Zweifelsfall weniger der Psychologie als vielmehr starken Bildern und Fabeln. Also kein raffinierter Psychologe, der mit detektivischer Raffinesse den möglichen Ursachen des unbegreiflichen Selbstmords nachgeht und eine von von langer Hand geplante Traumaarbeit inszeniert, sondern jemand, der selbst nach Orientierung sucht und sich den Zufällen dieses komplizierten Prozesses überlässt. Irgendwann erfährt man, dass der Migrant in Kanada um den Status als politischer Flüchtling kämpfen muss. Seine Familie wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit das Opfer eines politischen Fememordes und so steht ein ebenfalls sehr beschädigter Mann in eines Klasse voller beschädigter Kinder. Er ist gut vorbereitet.

Inmitten abweisender Kälte

Falardeau erzählt seine Geschichte, für die er auch das Drehbuch verfasste, mit ruhigen offenen Einstellungen, in denen Closeups nahezu fehlen. So halten die Bilder eine gewisse Distanz und vermitteln auf eigene Weise die Sichtweise des neuen Lehrers. Neugierig, aber respektvoll.
Auch von den Kinder wird eher mit einer gewissen Gelassenheit erzählt. Zwischen ihnen und dem ‚Neuen’ gibt es zwar kleinere Reibereien, aber als Lazhar das Vertrauen der Klasse gewonnen hat, wird das eigentlich Drama langsam sichtbar: zwischen dem renitenten Simon und der toten Lehrerin hat es einen Vorfall gegeben, der das Kind verzweifeln lässt. Das sogenannte Problemkind hat kurz vor dem Selbstmord eine tröstende Umarmung seiner Lehrerin barsch zurückgewiesen und öffentlich gemacht. Nun ist er davon überzeugt, Schuld an deren Suizid zu haben.
Und so werden langsam die Bruchstellen eines pädagogischen Systems sichtbar, das aus durchaus nachvollziehbaren Gründen jede Form von Körperkontakt zwischen Lehrern und Schülern stigmatisert, aber dabei trotz aller Anteilnahme so abweisend wird, dass selbst der Sportlehrer nicht einmal mehr Hilfestellung an den Turngeräten leisten kann. Deshalb lässt er die Kinder nur noch im Kreis laufen.

„Monsieur Lazhar“ ist am Ende ein Film über Gewinner und Verlierer. Gewinnen wird die Klasse, aber erst als Simons Freundin Alice in einem Vortrag der verborgenen Empörung über die Tat der Lehrerin eine Stimme gibt und ihr Lehrer allen mit treffsicherer Empathie erklärt, dass ein Klassenzimmer ein Ort der Arbeit und des Respekts sei, aber keiner, an dem man sich aufhängt. Nun kann auch Simon Tränen vergießen.
Verlieren wird dagegen Monsieur Lazhar, der kluge Erzieher. Er muss gehen. Aber ganz zum Schluss umarmt er die kleine Alice, der irgendwann etwas ziemlich Kluges eingefallen ist: „Die Erwachsenen sind traumatisiert, nicht wir Kinder.“

„Monsieur Lazhar“ basiert auf dem Theaterstück Bashir Lazhar von Évelyne de la Chenelière. Phillippe Falardeaus Film wurde 2011 beim Toronto International Film Festival 2011 als Bester Kanadischer Film ausgezeichnet und erhielt eine Oscar-Nominierung als Bester fremdsprachiger Film. Das hat sich verdient.
Beeindruckend sind die darstellerischen Leistungen von Mohamed Fellag, der als Theaterdirektor in den 1990er Jahren zur Zielscheibe islamistischer Gewalt wurde und genauso emigrieren musste wie die Figur des Lehrers. Auch die beiden Kinderdarsteller Sophie Nélisse und Émilien Néron als Alice und Simon spielen auf hohem Niveau.
Ein intelligenter, emotional sorgfältiger und glaubwürdiger Film.

Noten: Mr. Mendez, Klawer und BigDoc = 2

Samstag, 5. Januar 2013

Der Hobbit: Eine unerwartete Reise

USA / Neuseeland 2012 - Originaltitel: The Hobbit: An Unexpected Journey - Regie: Peter Jackson - Darsteller: Martin Freeman, Ian McKellen, Cate Blanchett, Ian Holm, Christopher Lee, Hugo Weaving - Prädikat: wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 169 min.

Mit „Der Hobbit“ schickt Peter Jackson erneut einen Helden aus dem Auenland auf eine unerwartete Reise und toppt alles, was man bislang im Fantasy-Film zu sehen bekam. Die Verfilmung von J.R.R. Tolkiens „Hobbit“ punktet mit exzellenter Bildtechnik, überwältigenden Bildern, viel Pathos und Humor, bekommt aber zum Schluss das Actiongewitter nicht ganz in den Griff.

Mit der Trilogie „Der Herr der Ringe“ (2001 – 2003) legte Peter Jackson eine Adaption der erflogreichen Jugendbücher von J.R.R. Tolkien vor, die Filmgeschichte schrieb und die Latte für Fantasy-Filme ziemlich hoch auflegte. Diese wurde dann auch mehrfach gerissen und so gehört die Trilogie nach wie vor zu den bleibenden Kinomythen, aber auch zu den größten Kassenerfolgen der Kinogeschichte.
Mehr als zehn Jahre später ist Jacksons Beginn einer neuen Trilogie über das Gute und Böse in Mittelerde auf dem Weg, ein ähnlicher Box Office-Hit zu werden: fast 760 US-Dollar hat der „The Hobbit – An unexpected Journey“ bereits eingespielt, den größten Teil davon im Ausland.

Wenn die alte Rezeptur stimmt, dann braucht man keine neue

13 Zwerge wollen in „Der Hobbit“ den verlorenen Glanz ihres alten Reiches zurückgewinnen. Angeführt vom legendären Thorin Eichenschild, einem Nachfahren der alten Zwergenkönige, und heimlich geleitet vom Zauberer Gandalf, soll der etwas weltfremde Hobbit Bilbo Beutlin mit auf die Reise gehen. Ausgerechnet als Meisterdieb, so will es Gandalf.
„Er schützt mich vor meiner Angst“, konstatiert der Zauberer, und auch wenn Bilbos Motivation, der kampflustigen Gruppe dann nach anfänglichem Widerstand doch zu folgen, mit psychologischer Plausibilität so gut wie nichts zu tun hat, merkt man doch gleich: Es ist alles, wie es war.
Da sind sie: eine Gruppe von Gefährten, nur dass der kleine Hobbit sich im Gegensatz zum ‚auserwählten’ Frodo erst noch seine Sporen verdienen muss. Abenteuer warten auf die Gefährten, denn um das untergegangene Zwergenreich wieder erstehen zu lassen, muss der böse Drache Smaug besiegt werden. Und auch ein Berg ist erneut das Ziel, diesmal ist es der Einsame Berg, der unheilvoll an das vertraute Böse jenseits von Mittelerde und weit im Osten erinnert. Und auch sonst gibt es wenig Überraschendes: fiese Orks und dämliche Trolle stellen sich den Helden in Weg, aber da gibt es auch die guten Elben, mit denen nur die Zwerge gewisse Animositäten in Sachen Geschichtsbewältigung pflegen, und natürlich tauchen Gollum und sein ‚Schatz’ auf – jener Ring, der seinen Besitzer unsichtbar macht.

„Der Hobbit“ funktioniert ziemlich gut als Prequel, das möglichst alles beim alten lässt. In einem Prolog taucht der alte Bilbo auf, der seine Geschichte erzählt, während einige Flashbacks vom Untergang des Zwergenreiches andeuten, dass der „Hobbit“ alles andere als ein gewaltfreier Märchenfilm werden wird. Dann folgt ein fast vierzigminütiger Prolog im Auenland, der vom Zusammentreffen der Zwerge erzählt, die zunächst einmal Bilbos Vorratskammer plündern, um dann alles in eine Gesangseinlage ausarten zu lassen.
Die durchaus humorige Exposition gehört mit zum Besten, was der Film zu bieten hat, nur merkt man dies nicht auf Anhieb. Aber ohne das ruhige Erzähltempo, mit dem Peter Jackson sein Schiff in See stechen lässt und mit dem auch seine Protagonisten ein Gesicht bekommen, würde der Zuschauer wohl vom anschließenden Actiongewitter völlig erschlagen - gutes narratives Timing, das im positiven Sinne ein wenig an David Lean erinnert.

Old School ist auch die gute Ausarbeitung der einzelnen Figuren. Das gilt für Martin Freeman (Dr. Watson in „Sherlock“) als junger Bilbo Beutlin, dessen pazifistisches Naturell weniger seinen moralischen Einsichten als vielmehr seiner Bequemlichkeit entspringt, aber auch für Richard Armitage als granteliger und rachsüchtiger Zwergenführer, der erst spät seine charakterlichen Qualitäten entdeckt.
Natürlich spielt Ian McKellen (leider mit neuem Synchronsprecher) den Gandalf gewohnt eindrucksvoll, wird aber nicht ganz überraschend von Andy Serkis getoppt, der erneut der Figur des Gollum eine erstaunliche Tiefe gibt – trotz oder wegen Motion Capture-Verfahren sei mal dahingestellt.

Also ein familiengerechtes Filmspektakel? Nicht ganz. War schon der „Herr der Ringe“ nicht zimperlich, so geht es in dem erstaunlicherweise (oder auch nicht) ab 12 Jahren freigegebenen Film ziemlich drastisch zu: Arme werden abgeschlagen, abgetrennte Ork-Köpfe fliegen durch die Luft und Jacksons filmische Vergangenheit als Splatter-Experte lässt sich kaum verdrängen. Ob das durch den skurrilen Humor einiger Szenen und einiger während der Synchronisation zu dämlich geratener Dialogszenen verdaulicher gemacht wird, ist anzuzweifeln.
Dafür glänzt der Film spätestens nach einer Stunde mit wahrhaft atemberaubenden Szenen, die nicht nur die neuseeländischen Naturparks als dreidimensionale Hingucker präsentieren, sondern auch die Untiefen der zerklüfteten Berglandschaft und der unheimlichen Ork-Höhlen so grandios ins Bild setzen, dass es dem Zuschauer dank 3 D-Brille förmlich den Boden unter den Füßen wegzieht.

Inwieweit nun der „Der Hobbit“ der Vorlage entspricht oder durch das Drehbuch von Jackson, Benicio del Toro sowie Jacksons Lebensgefährtin Frances Walsh und der HdR-erfahrenen Phillipa Boyens aufgeblasen wurde, soll hier nicht weiter verfolgt werden – die Reaktionen waren ambivalent. Einige US-Kritiker bemängelten die zu große Nähe zur Vorlage, während hierzulande die fehlende Treue zur Vorlage Gegenstand von Mäkeleien wurde.
Über weite Strecken entspricht Jacksons Adaption dem „kleinen Hobbit“ und angesichts der unappetitlichen Auseinandersetzungen über die Rechte an den unterschiedlichen Tolkien-Stoffen, die sowohl die HdR-Trilogie und auch die Projektierung des neuen Films begleiteten, kann man sich ohnehin nicht vorstellen, dass Elemente aus anderen Tolkien-Büchern verwendet werden können, ohne dass die Verteilungskämpfe an den Film-Milliarden erneut aufflammen. Der Kuchen, der verteilt werden soll, ist ziemlich groß.

Technisch perfekt mit edler Optik

„Der Hobbit“ ist der erste Kinofilm, der mit der neuen HFR (High Frame Rate) 3 D-Technik gedreht wurde. Eingesetzt wurden mehrere Dutzend „Epic“-Modelle der Red Digital Cinema Camera Company, die den „Hobbit“ mit 48 FPS (Frames per Second) aufnahmen. Die auch „Red One“ genannte Kamera erreicht  höhere Auflösungen als das Full HD-Heimkino mit 1920x1080, aber im mit 2k gedrehten HFR-„Hobbit“ geht es zunächst um die Bildwiederholfrequenz, wobei Jackson den seit den Kindertagen des Kinos gültigen Standard von 24 fps auf 48 fps verdoppelt hat. Die High Frame Rate gilt zurzeit als Brückentechnologie, sowohl James Cameron als auch Effekt-Spezialist Douglas Trumball experimentieren bereits mit 60 und 120 Bildern.
Der Nutzen ist einfach auf den Punkt zu bringen: HFR soll Shutter-Effekte[1] und Motionblur[2] in 3 D-Filmen beseitigen. HFR-Filme in 2 D sind zurzeit überhaupt nicht im Gespräch, deshalb war in Ridley Scotts „Prometheus“ zwar die Red One im Einsatz, aber nur mit 24 fps.

Die Reaktionen auf Peter Jacksons Experiment waren unterschiedlich. Mein Eindruck: ich habe bislang keinen digitalen Kinofilm gesehen, der ein so natürliches und gleichzeitig detailreiches Bild zu bieten hatte wie „Der Hobbit“. Zuletzt überzeugte mich „Cloud Atlas“ in fast allen Belangen, aber „Der Hobbit“ legt noch einmal deutlich nach. Das Bild wirkt ‚rund’, also nicht unnatürlich scharf, dennoch sieht man jedes Härchen in Gandalfs Bart. Die Gesichtsfarben sind natürlich, die Bewegungen klar und authentisch. In Totalen wird man von der Detailfreudigkeit des Bilds fast erschlagen, was die Vorfreude auf die Heimkino-Nachverwertung nicht unerheblich gesteigert hat. Nur bei schnellen Kamera- oder schnellen Objektbewegungen gibt es noch leichte Nachzieh-Effekte, die aber der ‚Technik’ des menschlichen Auges entsprechen. Insgesamt aber ist das Bild superb und die Frage bleibt offen, was denn wohl nach dem Downsizing auf 1920x1080 übrig bleibt.

Die 3 D-Dramaturgie verdient ebenfalls Bestnoten. Man sieht, dass Jackson, der bereits als Produzent von „Die Abenteuer von Tim und Struppi“ einen perfekten 3 D-Film hingelegt hatte, genau weiß, worauf es ankommt: wenig Kamerabewegung, dafür aber eine Inszenierung des Raums, also eine Mise-en-scène für das dreidimensionale Kinobild. Kameramann Abdrew Lesnie, der bereits für die HdR-Trilogie verantwortlich war, plättet die Bilder nicht mit einer von Laien häufig als angemessen betrachteten Tiefenschärfe, sondern arbeitet sehr filmisch mit unterschiedlichen Schärfeebenen. Plakative 3 D-Effekte, die ansonsten Inszenierungsschwächen zukleistern sollen, fehlen fast vollständig, und wenn dann mal ein Schmetterling in den Zuschauerraum fliegt, so ist dies fast schon eine auffällige Ausnahme.

Merke: wenn Kritiker von Soap-Effekten und Flat Screen-Look schreiben oder gar anmerken, der Film wirke billig, so zeigt dies zweierlei. Erstens wird bei Verrissen mittlerweile gelogen und polemisiert, dass sich die Balken biegen, und zweitens merkt man, dass die Schreiber offenbar nur wenig Ahnung von Fernseh- und Filmtechnik haben oder gar nicht bereit sind, seriös zu recherchieren. Natürlich kriegt man es auf 200- oder 400 Hz-Boliden mit den falschen Einstellungen schnell hin, ein Bild „soapig“ zu machen, aber derartige Verschlimmbesserungen sind kein Kriterium für eine Filmkritik[3].
Entscheidende Kriterien seien deshalb kurz erwähnt: „Der Hobbit“ läuft derzeit in sechs Varianten in den Kinos, digital u.a. in 2 D, 3 D und HFR 3D, aber auch in analogem 35mm und diversen IMAX-Varianten. Wer also meint, mit flapsigen Sprüchen seine Leser zu überrumpeln, sollte hoffentlich zuvor geprüft haben, welche Technik in ‚seinem’ Kino zum Einsatz kam – alles andere ist billige Polemik. Mein Kino steht übrigens auf der Liste der deutschen HFR-Abspielstätten[4].

Fazit: in punkto Technik räumte „Der Hobbit“ in HFR 3 D nicht nur bei mir eine klare Eins ab. Was man in Peter Jacksons neuer Saga zu sehen bekommt, ist visuell eine Augenweide und setzt Maßstäbe für alles, was danach im digitalen Kinofilm zu sehen sein wird.

Abus non tollit usum - oder: Mit Speck fängt man Mäuse
Narrativ hat „Der Hobbit“ nicht durchgehend ein so gutes Standing. Mit anderen Worten: es gab Abzüge. Mit Einschränkungen.
Natürlich ist eine Verlängerung der Tolkien-Saga nach dem weltweiten Erfolg der HdR-Trilogie ein riskantes Unterfangen, da das Unterhaltungskino wirtschaftliche Ziele verfolgt und dabei die Zielgruppe passgenau bedienen muss. Wie gesagt: „Der Hobbit“ macht nur technisch alles neu und besser, ansonsten bleibt alles beim alten.
Trotzdem entstanden einige Verrenkungen. Völlig daneben ist zum Beispiel eine völlig belanglose 20 sec-Sequenz, in der Elijah Wood durchs Bild läuft. Ich konnte alledings auch nach langem Suchen kein Filmplakat, Wallpaper o.ä. entdecken, in dem plakativ mit dem Frodo-Darsteller Werbung betrieben wurde, so wie sich das ein verrissfreudiger Kritiker in bunten Farben ausgemalt hat.
Grenzwertig sind auch die Auftritte von Cate Blanchett und und Hugo Weaving als mythische Elben, zumal die Bruchtal-Szenen außer dunklen Andeutungen über das Böse aus der Tiefe (H.P. Lovecraft lässt grüßen!) dramaturgisch nicht viel hergeben, aber visuell recht hübsch aussehen. Etwas mehr Sinn machte da eher der Auftritt von Christopher Lee, der zumindest die interessante Frage andeutete, ob 60 Jahre vor den Ring-Ereignissen bereits das Böse am Zauberer Saruman nagt. Hier strecke ich allerdings die Waffen, denn mich würde Spoiler-Kritik überrollen, wenn ich hier eine Mutmaßung äußern würde.

Aber geschenkt, das sind alles Peanuts. Deutlich ärgerlicher empfand ich den völligen Verlust der Selbstkontrolle im letzten Filmdrittel, wo ein CGI-Höhepunkt den nächsten jagt und damit den Filmzuschauer möglicherweise (!) in ratlose Erschöpfung treibt.
Die alten Griechen haben das Probleme schon erkannt und nannten die Kunst der Selbstbeherrschung ganz einfach gelassene Besonnenheit. Das Ganze nennt sich auch Sophrosyne und bekundet die Fähigkeit, auch mal auf Dinge zu verzichten, die man zwar tun möchte, weil man sie kann, auf die zu verzichten aber auch sinnvoll sein kann.
Das Gegenteil von Sophrosyne ist übrigens die Naivität und das Tempo, mit dem Peter Jackson seine Zwerge mitsamt des Anti-Helden Bilbo immer schneller in haarsträubende Actionszenen jagt, bezeugt ein wenig von jener naiven Freude, ein Spielzeug perfekt zu beherrschen und dann auch richtig die Sau rauszulassen. Und immer dann, wenn man glaubt, nun ist Schluss, wird einfach noch einer drangehängt. Und am Rande: einige Szenen stellen sich doch als Belastung der Galubwürdigkeit heraus. Auch für einen Fantasy-Film.

Ein wenig hat mich das an Sergio Corbuccis „Il Mercenario“ (1968) erinnert, jenen zum Kult gewordenen Spaghetti-Western, der gleich mehrere Enden spendierte und jedesmal die Zuschauer in Erwartung des Abspanns aus dem Kino hasten ließ. Doch dann ging es weiter, alle blieben verblüfft stehen. Dann wieder ein typisches Filmende, aufwallende Musik, weiter geht’s in Richtung Ausgang – doch der Film ging weiter. Und irgendwann, als alle wieder Platz genommen hatten, war er dann wirklich zuende.

Ähnliches erlebt man in „Der Hobbit“, wo gleich mehrere Cliffhanger-typische Schlussszenen serviert werden, nur um den Zuschauer danach in eine noch haarsträubendere Fortsetzung zu stürzen, bis schließlich Thorin Eichenschild den armen Bilbo in die Arme und damit in die Gruppe der neuen Gefährten aufnimmt. Nein, doch nicht zuende, noch ein kleiner Plot Twist wird drangehängt, damit auch keiner wirklich glaubt, dass die Geschichte auserzählt ist.

Abusus non tollit usum sagten die alten Römer und meinten damit nicht den Speck, mit dem man Mäuse fängt, sondern vielmehr, dass der Missbrauch den richtigen Gebrauch nicht aufhebt, sondern eher das Wesen der Sache bestätigt.
Ich interpretiere dies zugunsten Peter Jacksons gerne positiv (wer gehässig ist, kann natürlich auch etwas Gegenteiliges vermuten): „Der Hobbit“ ist überwiegend rundes und gelungenes Abenteuerkino für ältere Kinder und Erwachsene, die hoffentlich ein kritisches Verhältnis zu ihrem Eskapismus haben.
Die unübersehbare Zügellosigkeit des letzten Filmdrittels vermag das nicht grundsätzlich in Frage zu stellen, auch wenn man anschließend etwas groggy aus dem Kino stolpert. Das Effektgewitter hat nämlich Methode und macht Sinn, denn so werden die Tolkien-Aficionados den Film zum zweiten Mal und später auch zuhause noch endlos anschauen können, denn es gibt garantiert immer etwas Neues zu entdecken. Und nach Ridley Scotts „Prometheus“ war es ja auch nicht anders: beim dritten und vierten Gucken im gemütlichen Heimkino wirkt alles viel ruhiger und logischer.
Es lebe also das Merchandising. Und die Kraft, alles Beschwerliche mit Humor ertragen zu können, wenn das Große und Ganze doch recht gelungen ist. „The Hobbit“ macht unterm Strich eine Menge Spaß und ist ein würdiges Prequel für den HdR-Kosmos, auch wenn der ganze große Wurf nicht gelungen ist. Es sei denn, wir werden wieder mit einem Extended Director’s Cut abgemolken.

Postscriptum: nach dem Kinobesuch empfehle ich, sich daheim einen Film von Eric Rohmer anzuschauen. Das beruhigt die Nerven ungemein. Und an alle Kritiker, die sich um den Eskapismus der Zuschauer sorgen: Danke, ihr macht das gut. Und eigentlich habt ihr ja auch Recht. Aber mal ehrlich: Wer hat denn nicht seine Leichen im Keller? Ich gebe mich jedenfalls regelmäßig und mit großem Vergnügen dem Eskapismus hin und verdanke ihm meine schönsten Kinostunden. Man kann nicht jeden Abend "Letztes Jahr in Marienbad" sehen oder VHS-Kassetten mit alten Bresson-Filme reinschieben, Bazin im Original oder tolle psychoanalytische Abhandlungen über den "The Wizard of Oz" lesen. Geht nicht. Etwas niedergeschlagen erinnere ich dann an die alten Kritiken von Hans C. Blumenberg oder Wolf Donner und muss schmunzeln, wenn jemand, der einen ideologiekritischen Verriss über den "Hobbit" geschrieben hat, vor Jahren Michael Bay mitsamt seinen Transformers (zugegeben: das war ironisch von ihm gemeint und auch toll geschrieben) einen Autorenfilmer nennt. Vorsicht: es gibt Leute, die glauben so etwas, wenn sie es lesen.

Noten: BigDoc, Melonie = 1,5, Klawer = 2, Mr. Mendez = 3

Pressespiegel:

„...Peter Jackson hat mit "Eine unerwartete Reise" den Standard in Sachen Fantasy-Film noch mal deutlich erhöht. Der erste Teil seines "Hobbit"-Epos glänzt mit unvergesslichen Bildern, er facht die Emotionen an und erschafft Momente voll verträumter Poesie. Ein Meisterwerk“ (Ulrich Lössl, SPIEGEL Online).

„Peter Jackson wendet die neuesten und teuersten technischen Errungenschaften der Illusionskunst auf, um eine vorweltliche, vorzeitliche Archaik ins Bild zu setzen. Das Ergebnis ist enttäuschend“ (DIE ZEIT).

Vielleicht hat Der Hobbit von allem etwas zu viel. Zu viele Orks, zu viele Goblins auf zu vielen Brücken in zu tiefen Höhlen. Zu viel von dem großen Bruder Herr der Ringe und zu wenig Eigenständigkeit in Komik und Persönlichkeit der Figuren. Aber er bleibt als Fantasy-Abenteuer ein Dokument des zurzeit filmisch Machbaren“ (Ulrich Sonnenschein, epd Fillm).

„Es war eine offensichtliche Fehlentscheidung, das Hobbit-Projekt zu einer Filmtrilogie auszuwalzen. Viele Szenen, vor allem in der ersten Filmhälfte, wirken zu lang, erfolglos um Komik bemüht und schlicht billig inszeniert. Die unerbittlich scharfen 3D-Bilder offenbaren ihre Studioherkunft in jedem Moment, Bilbos Höhle sieht aus, als sei sie für eine ARD-Doku über Mittelerde eingerichtet worden, nicht aber wie Teil einer magischen Welt ... Der Hobbit (bleibt) ein Skandal, sowohl in politischer wie künstlerischer Hinsicht“ (Nico Klingler, critic.de).

„Man kann natürlich, wie es bereits geschehen ist, dieser Geschichte und damit Tolkien wie Jackson vorwerfen, dass sie den Konflikt von Gut und Böse als Differenz äußerer Schönheit und Hässlichkeit erzählt und damit implizit rassistisch ist. Man kann feststellen, dass Bücher wie Filme geistesaristokratische Werte predigen, von Führertum und Ehre geschwafelt wird, dass sie reaktionäre Wunschmaschinen sind, die auf die niedrigen Instinkte ihres Publikums setzen, es manipulieren und ruhig stellen, es der Realität ihres Daseins entführen“ (Rüdiger Suchsland, heise.de)


[1] Aufnahmen mit extrem kurzer Belichtungszeit, häufig mit High-Speed-Kameras gedreht, erzeugen Bilder ohne die filmtypischen Bewegungsunschärfen, wirken dabei aber unnatürlich und ruckelig (Beispiele: Gladiator, 28 Weeks Later)
[2] Bewegungsunschärfen in Teilen des Bildes, die durch Kamera- oder Objektbewegungen entstehen (kennt jeder Hobbyfotograf, der nachts Aufnahmen von vorbeifahrenden Autos macht)
[3] Ich habe zur Bildqualität ein halbes Dutzend Filmfreunde befragt: Fünf haben nichts Ungewöhnliches bemerkt, sprachen aber von einem prächtigen Bild, nur einer war bei gleichzeitiger Indifferenz der Kritikpunkte nicht ganz zufrieden.
[4] Wofür ich auch gerne einen seriösen Quellennachweis abliefere: http://www.digitaleleinwand.de/hfr-3d/