Dienstag, 8. Januar 2013

Monsieur Lazhar

Kanada 2011 - Regie: Philippe Falardeau - Darsteller: Fellag, Sophie Nélisse, Émilien Néron, Danielle Proulx, Brigitte Poupart, Evelyne de la Chenelière, Jules Philip, Daniel Gadouas, Louis Champagne, Seddik Benslimane - FSK: ab 12 - Länge: 94 min.

Der erste Film des Jahres war im Filmclub gleich ein Volltreffer: „Monsieur Lazhar“ (Kanada 2011) von Phillippe Falardeau ist eine berührende Tragödie aus dem Alltag einer kanadischen Grundschule. Eine Tragödie, in der es viel zu spät tröstlich zugeht und doch gibt es am Ende Gewinner und Verlierer. Doch halt, von Alltag kann in diesem Film eigentlich nicht die Rede sein, denn es ist nicht alltäglich, wenn Schüler aus der Pause zurückkehren und ihre Klassenlehrerin mitten im gemeinsamen Klassenzimmer mit einem Strick um den Hals von der Decke hängt.

Frage: Was passiert, wenn einem Jahr für Jahr ein kompetenter Automechaniker den Wagen herrichtet und man irgendwann erfährt, dass dieser Mann gar keine Berufsausbildung besitzt? Unser Mitglied Mr. Mendez gab dazu die passende Antwort: Nach sieben Jahren Berufserfahrung hat man den Status eines Gesellen. Gute Arbeit ist wichtiger als Formalien! So flexibel kann Handwerk hierzulande sein.
In Falardeaus Film wird sich eine ähnliche Frage am Ende stellen, denn der fast 50-jährige Algerier Bachir Lazhar (Mohamed Fellag), der sich um die freigewordene Stelle der toten Lehrerin bewirbt, gibt zwar eine lange Berufspraxis als Lehrer in Algier an, aber nach Referenzen und Zeugnissen wird angesichts des akuten Personalmangels erst gar nicht gefragt. Was Lazhar antreibt, erfährt man nicht, aber plötzlich steht der Mann, der in seiner Heimat ein Restaurantbesitzer war, inmitten der betroffenen Kinder und kann keine Antworten geben, da die richtigen Fragen noch nicht gestellt worden sind.

Genau Beobachtung der Trauerarbeit

Phillippe Falardeaus „Monsieur Lazhar“ ist kein Film über Institutionen, sondern erzählt von Menschen. Das Eine ohne das Andere, das scheint nicht denkbar zu sein, aber dem kanadischen Regisseur gelingt es, eine singuläre Geschichte ohne aufdringliche Botschaft zu erzählen - Film als fast dokumentarische Beobachtung der komplexen Prozesse, die Trauerarbeit abverlangt.
Natürlich gehört dazu genaues Hinschauen. Zu schnell könnt man holzschnittartig den Fokus auf eine globale Systemkritik richten. Von der Hand zu weisen wäre dies nicht, denn um die Leidfähigkeit des Systems Schule ist es in „Monsieur Lazhar“ nicht gut bestellt. Als hierarchische und von genau festgelegten Regeln bestimmte Institution wendet sie von der Trauerarbeit ab und bestellt dafür eine amtliche Psychologin ein, um alles, was in den 10- 11-jährigen Kindern vorgeht, gemäß der Richtlinien korrekt abzuarbeiten. Die Lehrer sollen besser über den Vorfall schweigen, dafür wird das Klassenzimmer, in dem die beliebte Lehrerin den Freitod gesucht hat, neu gestrichen. Auf etwas Ungeheuerliches war man nicht vorbereitet.

Falardeau schaut auch genau hin, wenn Monsieur Lazhar seine Arbeit aufnimmt. Der Algerier mit dem merkwürdigen Akzent ist ein höflicher, distinguierter Mann, der zunächst die Tische neu ausrichtet und zum alten Frontalunterricht zurückkehrt, und dann zum Entsetzen der Kinder aus Honoré de Balzacs La Peau de chagrin vorliest und sie gar Diktate darüber schreiben lässt.
Balzac: zu schwierig? In dem 1831 erschienenen Roman geht es immerhin auch um einen geplanten Selbstmord, aber auch um Allegorisches. Und Bachir Lazhar traut im Zweifelsfall weniger der Psychologie als vielmehr starken Bildern und Fabeln. Also kein raffinierter Psychologe, der mit detektivischer Raffinesse den möglichen Ursachen des unbegreiflichen Selbstmords nachgeht und eine von von langer Hand geplante Traumaarbeit inszeniert, sondern jemand, der selbst nach Orientierung sucht und sich den Zufällen dieses komplizierten Prozesses überlässt. Irgendwann erfährt man, dass der Migrant in Kanada um den Status als politischer Flüchtling kämpfen muss. Seine Familie wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit das Opfer eines politischen Fememordes und so steht ein ebenfalls sehr beschädigter Mann in eines Klasse voller beschädigter Kinder. Er ist gut vorbereitet.

Inmitten abweisender Kälte

Falardeau erzählt seine Geschichte, für die er auch das Drehbuch verfasste, mit ruhigen offenen Einstellungen, in denen Closeups nahezu fehlen. So halten die Bilder eine gewisse Distanz und vermitteln auf eigene Weise die Sichtweise des neuen Lehrers. Neugierig, aber respektvoll.
Auch von den Kinder wird eher mit einer gewissen Gelassenheit erzählt. Zwischen ihnen und dem ‚Neuen’ gibt es zwar kleinere Reibereien, aber als Lazhar das Vertrauen der Klasse gewonnen hat, wird das eigentlich Drama langsam sichtbar: zwischen dem renitenten Simon und der toten Lehrerin hat es einen Vorfall gegeben, der das Kind verzweifeln lässt. Das sogenannte Problemkind hat kurz vor dem Selbstmord eine tröstende Umarmung seiner Lehrerin barsch zurückgewiesen und öffentlich gemacht. Nun ist er davon überzeugt, Schuld an deren Suizid zu haben.
Und so werden langsam die Bruchstellen eines pädagogischen Systems sichtbar, das aus durchaus nachvollziehbaren Gründen jede Form von Körperkontakt zwischen Lehrern und Schülern stigmatisert, aber dabei trotz aller Anteilnahme so abweisend wird, dass selbst der Sportlehrer nicht einmal mehr Hilfestellung an den Turngeräten leisten kann. Deshalb lässt er die Kinder nur noch im Kreis laufen.

„Monsieur Lazhar“ ist am Ende ein Film über Gewinner und Verlierer. Gewinnen wird die Klasse, aber erst als Simons Freundin Alice in einem Vortrag der verborgenen Empörung über die Tat der Lehrerin eine Stimme gibt und ihr Lehrer allen mit treffsicherer Empathie erklärt, dass ein Klassenzimmer ein Ort der Arbeit und des Respekts sei, aber keiner, an dem man sich aufhängt. Nun kann auch Simon Tränen vergießen.
Verlieren wird dagegen Monsieur Lazhar, der kluge Erzieher. Er muss gehen. Aber ganz zum Schluss umarmt er die kleine Alice, der irgendwann etwas ziemlich Kluges eingefallen ist: „Die Erwachsenen sind traumatisiert, nicht wir Kinder.“

„Monsieur Lazhar“ basiert auf dem Theaterstück Bashir Lazhar von Évelyne de la Chenelière. Phillippe Falardeaus Film wurde 2011 beim Toronto International Film Festival 2011 als Bester Kanadischer Film ausgezeichnet und erhielt eine Oscar-Nominierung als Bester fremdsprachiger Film. Das hat sich verdient.
Beeindruckend sind die darstellerischen Leistungen von Mohamed Fellag, der als Theaterdirektor in den 1990er Jahren zur Zielscheibe islamistischer Gewalt wurde und genauso emigrieren musste wie die Figur des Lehrers. Auch die beiden Kinderdarsteller Sophie Nélisse und Émilien Néron als Alice und Simon spielen auf hohem Niveau.
Ein intelligenter, emotional sorgfältiger und glaubwürdiger Film.

Noten: Mr. Mendez, Klawer und BigDoc = 2