Der erste Film des Jahres
war im Filmclub gleich ein Volltreffer: „Monsieur Lazhar“ (Kanada 2011) von
Phillippe Falardeau ist eine berührende Tragödie aus dem Alltag einer
kanadischen Grundschule. Eine Tragödie, in der es viel zu spät tröstlich zugeht
und doch gibt es am Ende Gewinner und Verlierer. Doch halt, von Alltag kann in
diesem Film eigentlich nicht die Rede sein, denn es ist nicht alltäglich, wenn
Schüler aus der Pause zurückkehren und ihre Klassenlehrerin mitten im
gemeinsamen Klassenzimmer mit einem Strick um den Hals von der Decke hängt.
Frage: Was passiert, wenn
einem Jahr für Jahr ein kompetenter Automechaniker den Wagen herrichtet und man
irgendwann erfährt, dass dieser Mann gar keine Berufsausbildung besitzt? Unser
Mitglied Mr. Mendez gab dazu die passende Antwort: Nach sieben Jahren
Berufserfahrung hat man den Status eines Gesellen. Gute Arbeit ist wichtiger
als Formalien! So flexibel kann Handwerk hierzulande sein.
In Falardeaus Film wird sich
eine ähnliche Frage am Ende stellen, denn der fast 50-jährige Algerier Bachir
Lazhar (Mohamed Fellag), der sich um die freigewordene Stelle der toten
Lehrerin bewirbt, gibt zwar eine lange Berufspraxis als Lehrer in Algier an,
aber nach Referenzen und Zeugnissen wird angesichts des akuten Personalmangels
erst gar nicht gefragt. Was Lazhar antreibt, erfährt man nicht, aber plötzlich steht der Mann, der in seiner Heimat ein
Restaurantbesitzer war, inmitten der betroffenen Kinder und kann keine
Antworten geben, da die richtigen Fragen noch nicht gestellt worden sind.
Genau Beobachtung der Trauerarbeit
Phillippe Falardeaus
„Monsieur Lazhar“ ist kein Film über Institutionen, sondern erzählt von
Menschen. Das Eine ohne das Andere, das scheint nicht denkbar zu sein, aber dem
kanadischen Regisseur gelingt es, eine singuläre Geschichte ohne aufdringliche
Botschaft zu erzählen - Film als fast dokumentarische Beobachtung der komplexen
Prozesse, die Trauerarbeit abverlangt.
Natürlich gehört dazu genaues Hinschauen. Zu schnell könnt man holzschnittartig den Fokus auf eine globale Systemkritik richten. Von der Hand zu weisen wäre dies nicht, denn um die Leidfähigkeit des Systems Schule ist es in „Monsieur Lazhar“ nicht gut bestellt. Als hierarchische und von genau festgelegten Regeln bestimmte Institution wendet sie von der Trauerarbeit ab und bestellt dafür eine amtliche Psychologin ein, um alles, was in den 10- 11-jährigen Kindern vorgeht, gemäß der Richtlinien korrekt abzuarbeiten. Die Lehrer sollen besser über den Vorfall schweigen, dafür wird das Klassenzimmer, in dem die beliebte Lehrerin den Freitod gesucht hat, neu gestrichen. Auf etwas Ungeheuerliches war man nicht vorbereitet.
Natürlich gehört dazu genaues Hinschauen. Zu schnell könnt man holzschnittartig den Fokus auf eine globale Systemkritik richten. Von der Hand zu weisen wäre dies nicht, denn um die Leidfähigkeit des Systems Schule ist es in „Monsieur Lazhar“ nicht gut bestellt. Als hierarchische und von genau festgelegten Regeln bestimmte Institution wendet sie von der Trauerarbeit ab und bestellt dafür eine amtliche Psychologin ein, um alles, was in den 10- 11-jährigen Kindern vorgeht, gemäß der Richtlinien korrekt abzuarbeiten. Die Lehrer sollen besser über den Vorfall schweigen, dafür wird das Klassenzimmer, in dem die beliebte Lehrerin den Freitod gesucht hat, neu gestrichen. Auf etwas Ungeheuerliches war man nicht vorbereitet.
Falardeau schaut auch genau
hin, wenn Monsieur Lazhar seine Arbeit aufnimmt. Der Algerier mit dem
merkwürdigen Akzent ist ein höflicher, distinguierter Mann, der zunächst die
Tische neu ausrichtet und zum alten Frontalunterricht zurückkehrt, und dann zum
Entsetzen der Kinder aus Honoré de Balzacs La
Peau de chagrin vorliest und sie gar Diktate darüber schreiben lässt.
Balzac: zu schwierig? In dem
1831 erschienenen Roman geht es immerhin auch um einen geplanten Selbstmord,
aber auch um Allegorisches. Und Bachir Lazhar traut im Zweifelsfall weniger der
Psychologie als vielmehr starken Bildern und Fabeln. Also kein raffinierter
Psychologe, der mit detektivischer Raffinesse den möglichen Ursachen des
unbegreiflichen Selbstmords nachgeht und eine von von langer Hand geplante
Traumaarbeit inszeniert, sondern jemand, der selbst nach Orientierung sucht und
sich den Zufällen dieses komplizierten Prozesses überlässt. Irgendwann erfährt
man, dass der Migrant in Kanada um den Status als politischer Flüchtling
kämpfen muss. Seine Familie wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit das Opfer eines
politischen Fememordes und so steht ein ebenfalls sehr beschädigter Mann in
eines Klasse voller beschädigter Kinder. Er ist gut vorbereitet.
Inmitten abweisender Kälte
Falardeau erzählt seine Geschichte,
für die er auch das Drehbuch verfasste, mit ruhigen offenen Einstellungen, in
denen Closeups nahezu fehlen. So halten die Bilder eine gewisse Distanz und
vermitteln auf eigene Weise die Sichtweise des neuen Lehrers. Neugierig, aber
respektvoll.
Auch von den Kinder wird
eher mit einer gewissen Gelassenheit erzählt. Zwischen ihnen und dem ‚Neuen’
gibt es zwar kleinere Reibereien, aber als Lazhar das Vertrauen der Klasse
gewonnen hat, wird das eigentlich Drama langsam sichtbar: zwischen dem
renitenten Simon und der toten Lehrerin hat es einen Vorfall gegeben, der das
Kind verzweifeln lässt. Das sogenannte Problemkind hat kurz vor dem Selbstmord
eine tröstende Umarmung seiner Lehrerin barsch zurückgewiesen und öffentlich
gemacht. Nun ist er davon überzeugt, Schuld an deren Suizid zu haben.
Und so werden langsam die
Bruchstellen eines pädagogischen Systems sichtbar, das aus durchaus
nachvollziehbaren Gründen jede Form von Körperkontakt zwischen Lehrern und
Schülern stigmatisert, aber dabei trotz aller Anteilnahme so abweisend wird, dass
selbst der Sportlehrer nicht einmal mehr Hilfestellung an den Turngeräten
leisten kann. Deshalb lässt er die Kinder nur noch im Kreis laufen.
„Monsieur Lazhar“ ist am
Ende ein Film über Gewinner und Verlierer. Gewinnen wird die Klasse, aber erst
als Simons Freundin Alice in einem Vortrag der verborgenen Empörung über die
Tat der Lehrerin eine Stimme gibt und ihr Lehrer allen mit treffsicherer
Empathie erklärt, dass ein Klassenzimmer ein Ort der Arbeit und des Respekts
sei, aber keiner, an dem man sich aufhängt. Nun kann auch Simon Tränen
vergießen.
Verlieren wird dagegen
Monsieur Lazhar, der kluge Erzieher. Er muss gehen. Aber ganz zum Schluss umarmt er die kleine
Alice, der irgendwann etwas ziemlich Kluges eingefallen ist: „Die Erwachsenen
sind traumatisiert, nicht wir Kinder.“
„Monsieur Lazhar“ basiert
auf dem Theaterstück Bashir Lazhar von Évelyne de la Chenelière. Phillippe
Falardeaus Film wurde 2011 beim Toronto International Film Festival 2011 als
Bester Kanadischer Film ausgezeichnet und erhielt eine Oscar-Nominierung als
Bester fremdsprachiger Film. Das hat sich verdient.
Beeindruckend sind die darstellerischen Leistungen von Mohamed Fellag, der als Theaterdirektor in den 1990er Jahren zur Zielscheibe islamistischer Gewalt wurde und genauso emigrieren musste wie die Figur des Lehrers. Auch die beiden Kinderdarsteller Sophie Nélisse und Émilien Néron als Alice und Simon spielen auf hohem Niveau.
Beeindruckend sind die darstellerischen Leistungen von Mohamed Fellag, der als Theaterdirektor in den 1990er Jahren zur Zielscheibe islamistischer Gewalt wurde und genauso emigrieren musste wie die Figur des Lehrers. Auch die beiden Kinderdarsteller Sophie Nélisse und Émilien Néron als Alice und Simon spielen auf hohem Niveau.
Ein intelligenter, emotional
sorgfältiger und glaubwürdiger Film.
Noten: Mr. Mendez, Klawer und BigDoc = 2