Samstag, 29. Oktober 2011

Die Abenteuer von Tim und Struppi - Das Geheimnis der Einhorn


USA / Neuseeland / Belgien 2010 - Originaltitel: The Adventures of Tintin - Regie: Steven Spielberg - Darsteller: (Motion Capture) Jamie Bell, Andy Serkis, Daniel Craig, Simon Pegg, Nick Frost, Cary Elwes, Toby Jones - FSK: ab 6 - Länge: 107 min.

Tintin, der hierzulande eingedeutscht „Tim“ heißt, und sein kluger Hund Milou, der im gleichen Zuge den unsäglichen Namen „Struppi“ verpasst bekam, sind nicht einfach nur Comic-Figuren, sondern noch mehr pop-kulturelle Ikonen. Das liegt nicht nur an ihrer unbestreitbaren Popolarität, sondern auch an der Ästhetik ihres Schöpfers Hergé. Man kann durchaus Frames aus seinen Geschichten nehmen, vergrößern und ähnlich wie das Bild einer Tomatendose von Warhol an die Wand hängen. Jeder kennt die Figuren – nicht nur Tintin und Milou, sondern auch den trinklustigen Kapitän Haddock oder den schrulligen Professor Bienlein - und die Konsistenz der Bilder erledigt dann den Rest: Tintin und Milou und alle anderen sind Kunstfiguren in Kunstwerken, die über die Jahrzehnte Zeitgeist geatmet haben und ihn nun als Teil der Pop-Ästhetik verkörpern können.

Gelegentlich haben sie ihn auch ausgeatmet, den Zeitgeist, und die Geschichte der Widerstände und Proteste gegen die Geschichten Hergé sind ein Kapitel für sich. Sehr häufig und nicht immer zu Unrecht wurde auf Political Correctness bestanden. Nun hat sich Steven Spielberg der Geschichten des belgischen Comicautors Georges Prosper Remi (1907 – 1983) angenommen und dies bedeutet fast zwangsläufig, dass die Adaption der „Aventures de Tintin“ ganz gewiss korrekt sind und garantiert kein garstigen Politikum auf der Leinwand erscheinen wird.

Technik und Erzählung ergänzen sich perfekt
Zunächst plante Spielberg einen Realfilm, aber nach der Sichtung der zusammen mit Peter Jackson („Der Herr der Ringe“) entwickelten Probeaufnahmen, die mit der Perfomance-Capture-Technologie produziert wurden, realisierten beide einen
3 D-Animationsfilm, der als erster Teil einer Tintin-Trilogie angelegt wurde.
Das Ergebnis ist verblüffend, man mag es sogar einen ´großen Wurf` nennen, denn Spielberg und Jackson, der im ersten Teil Produzent war und im zweiten Teil vermutlich Regie führen wird, haben zusammen einen Film auf die Leinwand gebracht, der (offen gestanden auch für mich ganz unerwartet) die Technik ganz der Geschichte unterordnet.
Im Gegensatz zu vielen abgespeckten und billig aussehenden Pseudo-3 D-Filmen und auch im Gegensatz zu den effektsüchtigen Jahrmarkttricks, mit denen der 3 D-Brille tragenden Zuschauer verblüfft werden soll, vergisst man bereits nach wenigen Minuten, bewusst über die 3 D-Ästhetik nachzudenken und ständig die Güte der Effekte zu bewerten. Vielmehr folgt man ganz entspannt der Geschichte. So soll Kino sein und trotz seiner exzellenten Qualität habe ich dies bei „Avatar“ noch anders erlebt. Da konnte man den Film erst im Heimkino in der 2 D-Version richtig entdecken.

Dass Spielberg / Jackson hier bereits den ersten fetten Pluspunkt einfahren, liegt auch an der erwähnten Perfomance-Capture-Technologie, die als Weiterentwicklung des Motion-Capture-Verfahrens nicht nur Körper-, sondern auch das Mienenspiel perfekt scannt. Mit etlichen Kameras werden dabei die Bewegungsabläufe der Protagonisten mithilfe von speziellen Markern aufgezeichnet, die an den Schauspielern befestigt werden. Diese Daten können von speziellen Programmen gelesen und auf 3 D-Modelle übertragen werden. Alternativ können diese Daten auch mit so genannten Body Suits erzeugt werden.
Als Ergebnis sieht man nach Abschluss der kompletten Entwicklungsphase sehr realistisch wirkende virtuelle Figuren, die nicht nur die Bewegungen der Schauspieler wiedergeben, sondern auch in punkto Physiognomie sehr menschlich wirken.
Wie zu erwarten wurde von einigen Kritikern der Umstand aufs Korn genommen, dass die berühmte „Ligne Claire“ in Spielbergs Film dabei auf der Strecke geblieben ist, jene ausgefeilte Zeichenästhetik Hergés, die monochrome Farben und präzise Figurenkonturierung ohne Schatten vor realistischen Hintergründen zu einem unverwechselbaren Markenzeichen des Belgiers machte. Das mag man bedauern, allerdings sollte man bei einer computerbasierten Adaption den Machern ihre eigene Gestaltungsfreiheit einräumen. Auf mich wirkt es geradezu frivol, Spielberg / Jackson vorzuwerfen, dass die Herkunft aus dem Computer in ihrem Film nicht zu übersehen sei. Man kann dem Steak natürlich ebenfalls vorwerfen, dass man ihm ansieht, dass es in der Pfanne gebraten wurde.

Tatsächlich funktionieren Technik und Erzählung in „Die Abenteuer von Tim und Struppi“ über die Maßen gut, weil Spielberg die Geschichte einer Schatzsuche zwar erkennbar auch als Hommage an seine „Indiana Jones“-Filme gestaltet, dabei aber zunächst mit großer Sorgfalt erzählt und den Figuren den notwenigen Raum lässt. Dazu gehört eine Bildmontage, die wirklich überzeugend die Anforderungen der 3 D-Animation umsetzt: der Schnittrhythmus ist ausgewogen, es gibt (zunächst) keine hektische Staccato-Schnittorgie. Vielmehr nutzt die virtuelle Kamera mit Fahrten in den Raum und um die Figuren herum ganz unaufdringlich die Möglichkeiten des dreidimensionalen Mediums, sodass der Eindruck überwiegt, dass die Technik der Geschichte erst richtig auf die Beine hilft.
Neben intelligenten und überraschenden Bildübergängen, bei denen sich ein wallender Vorhang schon einmal in eine heiße Wüste verwandeln darf, und einigen netten Gimmicks, orientiert sich Spielberg zum Glück vorrangig an der Dramaturgie der Geschichte. Aber gerade bei Spielberg sollte man in seinen Mainstream-Filmen den Figuren nicht psychologisch nachstellen: wie in der Vorlage bleibt Tintin ein Held ohne Ambivalenz, eine Figur, die der narrativen Dynamik des traditionellen Comics geschuldet ist und fast ohne Entwicklung das bleibt, was er ist: ein jugendlicher Draufgänger, stilisiert bis zur Eindimensionalität. Die Nebenfiguren erscheinen, auch das ist bekannt, häufig differenzierter, was Spielberg überzeugend an der Vorlage an der Figur des Kapitän Haddock vorführt, auch wenn dabei einige Ecken und Kanten auf der Strecke bleiben. Zugenommen macht alles richtig Spaß beim Zuschauen, auch wenn man in den virtuellen Figuren durchaus Mühe hat, die modellgebenden Darsteller, zum Beispiel Jamie Bell und Daniel Craig, wiederzuerkennen.

Gelungene Einführung in den Hergé-Kosmos
Da ich schon lange nicht mehr einen Hergé-Band in der Hand hatte, will ich mich nicht an den manchmal etwas puristisch wirkenden Diskussionen über die Storyline beteiligen, in die Erzählstränge aus den drei Comic-Bänden Die Krabbe mit den goldenen Scheren, Das Geheimnis der „Einhorn“, sowie Der Schatz Rackhams des Roten eingeflossen sind.

Wie so häufig bei Hergé führt die Geschichte ihre Helden rund um die Welt.
In „Das Geheimnis der Einhorn“, dem ersten Teil der Kino-Trilogie, entdecken Reporter Tim (Jamie Bell) und sein Foxterrier Struppi ein Schiffsmodell, in dem sich Hinweise auf einen geheimnisvollen Schatz verbergen. Beide geraten an den Schurken Sakharin (Daniel Craig), der natürlich auch den Schatz in seinen Besitz bringen will.
Natürlich muss der Film den Spagat zwischen einer temporeichen Erzählung und der Einführung weiterer Figuren aus dem Hergé-Kosmos bewerkstelligen. Das gelingt durchaus: neben den skurrilen Detektiven Dupont und Dupond (Nick Frost, Simon Pegg), dts. Schulze und Schultze, taucht natürlich auch der bei den Tintin-Nerds überaus beliebte Kapitän Haddock auf, dessen Vorfahre dereinst gegen den gefährlichen Piraten „Rackham der Rote“ um jenen Schatz kämpfte, den Tintin und seine Freunde nun an allerlei exotischen Schauplätzen suchen. Es ist anzunehmen, dass der geniale Professeur Tryphon Tournesol, dts. Professor Bienlein, mit Sicherheit im zweiten Teil seinen großen Auftritt haben wird.

Spaßkino, das mit einer überflüssigen Bildorgie endet
Insgesamt ist Steven Spielberg eine üppige Portion Spaßkino gelungen, die genauso schmeckt wie sie auf dem Teller aussieht: ein 3 D-Film, der über weite Strecken einen ganz wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer Erzählweise getan hat, die dem freidimensionalen Raum angemessen ist – nämlich diesen Raum zu erkunden, sich dafür die nötige Zeit zu nehmen und die Gelassenheit zu besitzen, auf Effekte zu verzichten, an denen man sich schnell satt gesehen hat.
Das gelingt aber nicht durchgehend. Gelegentlich wird auch in „Das Geheimnis der Einhorn“ zu früh geschnitten, wo doch zwei zusätzliche Sekunden ganz bestimmt mehr von dem Reiz des jeweiligen Schauplatzes gezeigt hätten.
Das kann man noch verkraften.

Weniger erfreulich und leider auch enttäuschend ist das große Finale, das sich als spektakuläre Actionorgie entpuppt und damit den zuvor teilweise meisterhaft vorgetragenen Erzählrhythmus völlig über Bord wirft. Die ohren- und augenbetäubende Hektik des Finales verrät, dass Spielberg an dieser Stelle seinen Instinkt für ein emotional überzeugendes Ende zugunsten eines Bildrausches aufgegeben hat, in dem Duelle mit großen Baukränen ausgefochten werden und eine ganze Stadt mehr oder weniger in Schutt und Asche gelegt wird. Und so verließ nicht nur der Kritiker ziemlich betäubt das Kino, sondern möglicherweise auch der eine andere jüngere Zuschauer, der auf diese Weise mit der Bildhybris Hollywoods konfrontiert wurde, die bislang noch fast jede Geschichte zerstört hat, die mit viel versprechenden Ansätzen begann. Schade um einen Film, der so charmant begonnen hat.

Noten: Melonie = 1, BigDoc = 2, Mr. Mendez = 2,5
(wobei anzumerken ist, dass meine Begleiter erklärte Tim und Struppi-Fans sind und zumindest einer der beiden mit allergrößter Skepsis den Weg ins Kino antrat. Beide waren am Ende begeistert, der eine mehr, der andere eine Spur weniger).

Freitag, 14. Oktober 2011

Quick Review: Alles, was wir geben mussten


Großbritannien / USA 2010 - Originaltitel: Never Let Me Go - Regie: Mark Romanek - Darsteller: Keira Knightley, Carey Mulligan, Andrew Garfield, Sally Hawkins, Charlotte Rampling, Nathalie Richard - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 105 min.

Kathy (Carey Mulligan: Wall Street 2: Money never sleeps, 2010) steht hinter einer Scheibe und blickt liebevoll in einen OP, auf dessen Tisch ein junger Mann liegt und sie traurig anschaut.
Rückblende, England 1978: Kathy, Tommy (Andrew Garfield: Red Riding, 2009, The Social Network, 2010) und Ruth (Keira Knightley: Abbitte, 2007) verbringen ihre Kindheit in Hailsham, einem idyllischen englischen Internat, in dem strenge Regeln gelten. Die Erzieherinnen sorgen mit Disziplin und hohem Aufwand für die körperliche Gesundheit der Kinder, die auch eine intensive schulische Ausbildung erhalten. Als eine neue Aufseherin den Kindern erklärt, dass sie Klone sind und nicht alt werden können, da sie den Menschen als Organspender dienen müssen, wird sie umgehend entlassen. Kathy, die sich voller Zuneigung um den Außenseiter Tommy kümmert, muss erleben, dass die dominante Ruth sich in die Beziehung drängt.
Einige Jahre später: Tommy und Ruth sind immer noch zusammen. Die erwachsen gewordenen Kinder leben nun in Cottages und dürfen sich relativ frei bewegen, bis sie den Bescheid für ihre erste Spende erhalten. Dort lernen die Drei ein junges Paar kennen, das fest davon überzeugt, dass Liebende einen kleinen Zeitaufschub erhalten. Kathy, Ruth und Tommy, der sich überraschend zu einem äußerst talentiert Zeichner entwickelt hat, sind davon überzeugt, dass die Bilder, die sie als Kinder der Galerie der mysteriösen Madame überlassen mussten, dafür genutzt werden, in ihre Seele zu blicken, um die Authentizität der Liebe zu prüfen. Kurz danach verlässt Kathy die Cottages und lässt sich als Betreuerin ausbilden: sie wird nun die Spender begleiten.
Jahre später sieht Kathy ihre Freunde erneut: Ruth und Tommy sind getrennt und haben bereits ihre ersten Spenden hinter sich. Nun kommen sich Kathy und Tommy näher, was auch von Ruth unterstützt wird, die es bedauert, die frühere Beziehung von Kathy und Tommy zerstört zu haben. Das Paar sucht die Galeristin auf, um einen Aufschub zu erlangen. Dort treffen sie auch die Leiterin von Hailsham (Charlotte Rampling), die ihnen erklärt, dass die Bilder nur einem Zwecke dienten: nämlich zu zeigen, dass Klone eine Seele haben. Dieses Vorhaben sei aber gescheitert. Kurz darauf stirbt Ruth nach einer neuerlichen Spende und die Rückblende ist beendet. Der junge Mann, den Ruth im OP sieht, ist Tommy, der für immer seine Augen schließt. Kurz darauf erhält Kathy ihren ersten Bescheid. Im letzten Bild denkt sie darüber nach, ob es den Empfängern der Spenden wirklich besser geht als den Spendern.

Unkritische Dystopie
Mark Romanek erlangte mit seinen Musikvideos, unter anderem für Michael Jackson, Weltruhm. Sein zweiter Spielfilm One Hour Photo (mit Robin Williams), die Geschichte eines versponnenen realitätsfremden Außerseiters, war ein relativ erfolgreicher Festivalfilm, floppte aber an der Kinokasse. Mit Alles, was wir geben mussten verfilmte Romanek nah an der Vorlage den gleichnamigen Roman des Japaners Kazuo Ishiguro.
Alles, was wir geben mussten ist ein dystopischer Science Fiction-Film, der in der Vergangenheit spielt, einem ländlich geprägten Großbritannien, über dessen gesellschaftliche Verfasstheit der Zuschauer nichts erfährt. Romanek konzentriert sich überwiegend auf eine melodramatische Erzählung, deren ruhiger Erzählfluss fast angenehm altmodisch wirkt. Romanek gelingt es durchaus, ein subtiles Bild von entfremdeten Menschen zu entwickeln, die trotz ihrer Intelligenz aufgrund ihrer spezifischen Sozialisation merkwürdig realitätsfremd wirken und sich ohne Widerstand ihrem Schicksal fügen. Ein Anflug von Newspeak erinnert sogar an George Orwells 1984. Hier enden aber die Gemeinsamkeiten, denn das Drehbuch von Andrew Garland (Script für 28 Days Later, 2003) zeigt nicht im Geringsten ein Interesse an der politischen und ethischen Entwicklung, die erklären müsste, warum eine Gesellschaft, die offenbar an einem Überalterungsproblem leidet, sich für diesen Weg entschieden hat. Nur in der Schlüsselszene, in dem Gespräch von Kathy und Tommy mit Miss Elly (Charlotte Rampling), erfährt der Zuschauer, dass die Menschen offenbar verdrängen wollen, aus welcher Quelle ihre lebensverlängernden Spenden kommen.

Reaktionärer, gepflegter Kitsch
Dies ist auch das Dilemma von Never Let Me Go (Originaltitel), denn nicht nur das Sci-Fi-Genre, sondern überhaupt das Kino, lebt vom dramatischen Antagonismus. Im vorliegenden Fall jenem, der zwischen den Prämissen der Herrscher und den Bedürfnissen der Beherrschten entsteht. Romanek zeigt uns allerdings die Herrscher nicht. Der völlige Verzicht auf eine ideologische Reflexion (1) führt den Film damit folgerichtig in eine blutarme Leere.
Funktionieren könnte der Film dann, wenn der Zuschauer tatsächlich in der von Ishiguro in seinem Roman beschriebenen Welt leben würde: in diesem Fall wäre er als flammender Appell für die Menschenwürde zu lesen. Da dies aber nicht der Fall ist, wirkt Alles, was wir geben mussten mit zunehmender Länge nicht nur aufdringlich, sondern auch lästig, da seine moralische Botschaft quasi offene Türen einrennt.
Die kritische Kraft einer Dystopie besteht darin zu zeigen, dass das pessimistische Bild der Gegenutopie in ihren Wurzel glaubwürdig und damit denkbar erscheint. Romaneks Film verweigert uns diese Sicht der Dinge und belastet auch die psychologische Glaubwürdigkeit nachhaltig, indem er dem Zuschauer willenlose Klone zeigt, die nicht einmal instinktiv die Frage nach Widerstand formulieren.
Ästhetisch wird dies durch teilweise erlesen fotografierte Bilder verstärkt, die mit viel Tränen und einem ziemlich unerträglichen Soundtrack unterlegt werden, der mit hoher emotionaler Redundanz jene Gefühle verstärken möchte, die allein schon die Bilder nachhaltig erzeugt haben. Handwerkliches Ungeschick spiegelt nicht selten fehlende inhaltliche Substanz wider und so ist Mark Romaneks Alles, was wir geben mussten leider eine filmische Bankrotterklärung, die bestenfalls dazu dienen kann, jenen Menschen, die von diffusen und kulturpessimistischen Ängsten vor der Gentechnologie geplagt werden, einen künstlerischen ‚Beweis‘ anzudienen. Argumente für eine wirklich nachhaltige Debatte liefert dies nicht und deshalb ist Alles, was wir geben mussten nicht nur gepflegter Kitsch, sondern auch reaktionär.

Noten: BigDoc, Melonie = 5 

(1) Ideologische Reflexion bedeutet nun nicht die genreübliche Abbildung eines 'bösen' Pharmakonzerns, einer verschlagenen Regierungsverschwörung o.ä., wie es in US-amerikanischen Thrillern üblich ist, sondern den Diskurs darüber, inwieweit das Bewusstsein der Teilnehmer an einer sozialen Handlung imstande ist, eigene Interessen von fremdbestimmten zu unterscheiden. In dieser Hinsicht schätze ich einen Film wie "Splice - Das Genexperiment" (Vincenzo Natali) als überzeugendere Variante ein.
"Splice" zeigt, wie Forscher das Fremde und Andersartige, das autonome Andere bereitwillig fremden, dann aber auch ihren eigenen Bedürfnissen unterwerfen, was durchaus den Umkehrschluss zulässt, dass man im Fremden und Andersartigen auch das Autonome, hier: die Menschenwürde, finden kann. Dazu müsste man aber einen Teil der Geschichte aus der Täterperspektive erzählen. Allein dies kann man Mark Romanek angesichts der Tatsache, dass es sich um eine Literaturverfilmung handelt, nur bedingt anlasten. So viel Fairplay
muss sein.

Montag, 10. Oktober 2011

Hævnen - In a better world

Dänemark / Schweden 2010 - Originaltitel: Hævnen - Regie: Susanne Bier - Darsteller: Mickael Persbrandt, Trine Dyrholm, Ulrich Thomsen, Markus Rygaard, William Jøhnk Nielsen, Bodil Jørgensen - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 113 min.

Es gibt Filme mit einem ernsthaften moralischen Anliegen, die in etwa so viel Spannung erzeugen wie jene, die man empfindet, wenn man hingebungsvoll dem Gras beim Wachsen zuschaut. Dies beweist zwar nicht, dass Menschen und besonders Kinogänger allen Belehrungen zum Trotz keinen Deut auf moralphilosophische Diskurse geben, aber es lässt vermuten, dass man sie dabei wenigstens gut unterhalten sollte. Kant hat womöglich unrecht gehabt: es geht eben nicht nur um die formalen Bedingungen möglicher und auch richtiger Erkenntnis, sondern um die deutlich schwerer zu verstehende moralische Intuition und unser emotional fundiertes Gerechtigkeitsempfinden. Beides, sowohl die Intuition als die Emotion können uns aber in die Irre führen.
In „Rache“ ("Hævnen" lautet die Übersetzung des dänischen Originaltitels; der deutsche Verleihtitel ist geradezu irreführend) geht es Gewalt und die Frage, wann man die Regeln einer humanen zivilen Gesellschaft aufgeben kann und sogar muss. Die Gewalt begegnet uns in Susanne Biers Film in Form von Mobbing an einer Schule und Rohheit im täglichen Miteinander, aber auch als viehische Brutalität in einer Gesellschaft ohne zivile Rechtsordnung. Die eine Geschichte spielt in Dänemark, die andere in einem afrikanischen Flüchtlingscamp. Und beide Geschichten werden die Hauptfiguren an die Grenze ihres sittlichen Urteilsvermögens führen.

Die Grenzen des Pazifismus
Susanne Bier (Things We Lost in the Fire, 2007) holt den Zuschauer zunächst emotional ab – und zwar beim wütenden Protest. Oder zumindest bei dem unbequemen Gefühl, dass alles irgendwie falsch läuft. Die Empörung über die Offensichtlichkeit der Ungerechtigkeit, die den Menschen in ihrem Film zuteil wird, ist, obwohl dies auf den ersten Blick etwas paradox wirkt, durchaus unterhaltsam. Denn der Film bedrängt und stellt eigentlich pausenlos die Frage „Was würde ich tun?“ Erst recht, wenn man sich bereits kurz nach der filmischen Exposition fragt, wie zum Teufel die Figuren aus der zum Teil fremdverschuldeten, aber auch selbst zu verantwortenden Bredouille kommen.
Der schwedische Arzt Anton (exzellent und gegen seinen Rollentyp anspielend: Mikael Persbrandt) arbeitet in einem Flüchtlingscamp, dessen Bewohner nicht nur kriegerische Gewalt erfahren haben, sondern auch den abgrundtief bösen Terror eines Warlords, der Schwangere bei lebendigem Leib aufschlitzt, um nachzuschauen, ob das Kind ein Junge oder ein Mädchen ist. Anton, der regelmäßig seine Familie in Dänemark besucht, bleibt trotz dieses Elends völlig fokussiert auf seine Arbeit: eine pragmatische und auch ambivalente Haltung, die den Verhältnissen in einem Land geschuldet ist, in dem es keine Organe zu geben scheint, die das staatliche Gewaltmonopol zum Schutz der Rechtsordnung einsetzen.

Sein Sohn Elias (Markus Rygaard) wird derweil in der Schule als „Rattenfresse“ drangsaliert und gemobbt. Erst als Christian (William Jøhnk Nielsen), der mit seinem Vater lange in London gelebt hat und nun nach Dänemark zurückgekehrt ist, sich mit ihm anfreundet und den an sich physisch überlegenen Anführer der Mobbingbande zusammenschlägt und mit einem Messer bedroht, ändern sich die Verhältnisse: Elias hat von nun an seine Ruhe. Er steht unter Personenschutz und hat dazu auch noch einen Freund gewonnen. Gegengewalt scheint also funktionieren. Aber darf man das?

Bier skizziert beide Handlungsstränge zügig und kommt zumindest bei der schulischen Gewalt schnell auf den Punkt. Die Reaktionen der Erwachsenen kommen allerdings nicht besonders gut dabei weg: hatten schon die Lehrer Schwierigkeiten damit, die Nöte Elias‘ zu würdigen, so reagieren die Erwachsenen auf die von Christian ausgeübter Gegengewalt mit Panik und Entsetzen, ohne dass man das Gefühl hat, dass sie sich in der vorpubertären Kosmos der Kinder mit all seinen Widerlichkeiten überhaupt noch hineinversetzen können. Fast reflexhaft rufen sie den gewaltfreien und ausgleichenden Ethos des Miteinanderredens auf, eher eine Form der Hilflosigkeit, die dem Opfer in Biers Geschichte kaum hilft. Als Christian, der nach dem frühen Krebstod seiner Mutter ein zerrüttetes Verhältnis mit seinem Vater verarbeiten muss, diesem erklärt, dass man sich „gleich beim ersten Mal wehren müsse, damit es aufhört“, erfährt er blankes Unverständnis. Es scheint, als hätte keine der Erwachsenen jemals Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ in die Hand genommen. Die Erwachsenen, so scheint Bier zeigen zu wollen, sind kulturell so normiert, dass sie das Übel auch dann nicht erkennen, wenn es direkt vor ihnen steht.

In einer zentralen Szene von „Hævnen" lässt sich Anton (Mikael Persbrandt) in Gegenwart seines Sohnes Elias und dessen Freund Christian von einem jähzornigen Automechaniker mehrmals ins Gesicht schlagen. Anton hat diese Szene sorgfältig arrangiert, um den Kindern zu zeigen, dass man auf Gewalt nicht mit Gewalt reagiert und moralischer Sieger bleibt, wenn nach einem Schlag die andere Wange hinhält. Anton bezieht sich dabei keineswegs auf die neutestamentarische Aufforderung zur Gewaltfreiheit, sondern eher auf einen zivilcouragierten Pazifismus, aber auch so haben die beiden Zwölfjährigen große Zweifel daran, ob Antons moralische Lektion stimmt. Immerhin, so Christian, dürfte der Schläger nicht das Gefühl gehabt haben, der Verlierer zu sein. Und so kommt für Christian nur noch die Rache an dem ruppigen und zudem ausländerfeindlichen Brutalo infrage.
Dass nach dieser Entscheidung das Verhängnis seinen Lauf nehmen wird, ist absehbar. Gleichzeitig konfrontiert uns Susanne Bier mit einem moralischen Dilemma, das offenbar unabhängig von der jeweiligen Verfasstheit der Gesellschaft existiert, aber in einer zivilen Ordnung noch stärker auf den Nägeln brennt: Ist Gewalt als Reaktion auf Gewalt eine mögliche Lösung oder ist sie per se moralisch zu verwerfen?


Wie ein Lehrstück
Eine mögliche Antwort auf diese Frage wird Anton ausgerechnet in Afrika finden. Als der schwer verletzte Warlord bei ihm auftaucht und um Behandlung nachsucht, schlägt ihm das Anton aufgrund seines medizinischen Ethos nicht aus und erledigt mehr als widerwillig seinen Job. Während sein Sohn und dessen Freund derweil in Dänemark an einer Autobombe basteln, um den Van des Schlägers in die Luft zu jagen, erlebt Anton sein moralisches Waterloo, als der fast genesene Warlord menschenverachtend auf eines der geschändeten Mädchen reagiert: Anton schleift ihn aus dem Lager und schreitet nicht ein, als die aufgebrachte Menge den Bösewicht lyncht. Susanne Bier belässt es dabei, dies als offene Situation zu zeigen, ohne einen tieferen Blick in Antons Innenleben zu werfen.
„Hævnen" wirkt mit seinen erzählerischen Arrangements streckenweise wie ein Lehrstück, das seine Geschichte als Reihe moralischer Fallstricke arrangiert, um zu demonstrieren, dass man möglicherweise am Ende keine befriedigende Antwort auf die gestellten Fragen findet. Dass dies nicht gekünstelt wirkt, liegt in erste Linie an Biers geschickter und präziser Handlungs- und Figurenentwicklung, aber auch an den restlos überzeugenden Darstellern, allen voran Mikael Persbrandt als pazifistischer Arzt und an dem jungen, sehr begabten William Jøhnk Nielsen, der den nach dem Tod seiner Mutter sehr verletzlichen Christian als harten und scharf nachdenkenden Jungen spielt, der haarscharf am menschenverachtenden Zynismus entlang schrammt.

Anthropologische Skepsis
Auch wenn Bier bekundet hat, dass sie nicht Partei ergreifen wolle, so zeigt „In einer besseren Welt“, dass der Spruch Matthäus‘ „Wer dich auf die rechte Wange schlägt, dem halte auch die andere hin“ sowohl in einer zivil codierten als auch in einer archaischen Gesellschaft seine Grenzen rasch erreichen kann, während Moses „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ zwar keine zivilisatorische Perspektive besitzt, aber durchaus alltagstauglich sein kann. Das allerdings dürfte für viele Kinogänger nicht leicht zu verdauen sein.
Allerdings ist das Drehbuch von Anders Thomas Jensen (u.a. "Adams Äpfel" (2005), "Nach der Hochzeit" (2006), zusammen mit Susanne Bier, die Regie führte) ausreichend glaubwürdig, um den Zuschauer auch diese Kröte schlucken zu lassen.
 

Anders als in dem sehr speziell angelegten pädagogischen Vorzeigefilm "Ben X" (Nic Balthazar, Belgien-Niederlande 2007) und dem fast schon nihilistisch-unversöhnlichen "Klass" (Ilmar Raag, Estland 2007), der mit einem Massaker und anschließendem Suizid endet, öffnet „Hævnen" den Blick für eine Lösung, auch wenn der Riss zwischen Erwachsenen und Kindern unüberbrückbar scheint. So kann die Verzahnung der emotionalen Konflikte mit den Beziehungen der Söhne zu ihren Vätern kaum gegensätzlicher sein: während Elias eine vertrauensvolle Beziehung zu seinem Vater hat, wirft Christian seinem Vater vor, den Tod der Mutter gewollt zu haben. Interessant ist, dass beide Väter ihren Söhnen nicht helfen können und Elias' Mutter mit einer schrecklichen Lüge Christian fast in den Selbstmord treiben wird. Hier zeigen Bier und Jensen auf subtile Weise einen kulturellen Riss Im Gefüge: das schrecklich Andere, dem Anton in Gestalt des Warlords begegnet, stammt aus einem fremden Kosmos, der sich einem Verständnis so restlos versperrt wie die Regeln der Gewalt in der hermetischen Binnenwelt der Schüler, der die Pädagogen und Erwachsenen verständnislos gegenüberstehen. Dieser nicht leicht zu entdeckende Andeutung einer anthropologischen Skepsis kann man mit finsterster Schwärze begegnen oder man löst die Geschichte etwas humaner auf. Dass Bier und Jensen sich in „Hævnen" für Letzteres entschieden haben, gehört zur Freiheit der künstlerischen Perspektive.

Dass Susanne Bier und Anders Thomas Jensen deshalb in einem versöhnenden Ende zeigen, dass die labilen Familien sich selbst heilen und ihre unverstandenen Kinder ehrlich wahrnehmen können, haben einige Kritiker „Hævnen" vorgeworfen. Natürlich erinnert das ein wenig an Spielberg. Susanne Bier verzichtet allerdings auf dessen nicht selten melodramatisches Pathos und erzielt so von der ersten bis zur letzten Filmminute eine Glaubwürdigkeit, die man im Kino nicht häufig antrifft.

Der Film erhielt den Oscar als „Bester fremdsprachiger Film“ bei der Oscarverleihung 2011 und den Golden Globe als „Bester fremdsprachiger Film“ bei der Golden-Globe-Verleihung 2011. Im Filmclub setzte er sich mit überragenden Noten in der Jahreswertung auf Platz 1.

Sehr gut gefallen hat uns allen der ausgezeichnete Soundtrack von Johan Söderqvis, der schon mehrfach mit Susanne Bier zusammengearbeitet hat. Auch Morten Søborgs Kameraarbeit verdient ein ausdrückliches Lob. Überhaupt hat Susanne Bier für „Hævnen" ein exzellentes Team zusammengestellt, das nachdrücklich neugierig auf ihre älteren Arbeiten macht.

Einen kritischen Beitrag zum Thema 'Moral im Kino' kann man in Michael Haberlanders Kurz-Essay "Biutiful in einer besseren Welt" nachlesen: http://www.artechock.de/film/text/artikel/2011/03_24_biutif.html.
Lesenswert ist Georg Seeßlens distanzierte Besprechung (besonders in Hinblick auf die Auflösung der Geschichte) "Blick in den Himmel": http://www.zeit.de/2011/12/Kino-Bessere-Welt.

Noten: BigDoc, Klawer, Melonie = 1, Mr. Mendez =2