Freitag, 14. Oktober 2011

Quick Review: Alles, was wir geben mussten


Großbritannien / USA 2010 - Originaltitel: Never Let Me Go - Regie: Mark Romanek - Darsteller: Keira Knightley, Carey Mulligan, Andrew Garfield, Sally Hawkins, Charlotte Rampling, Nathalie Richard - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 105 min.

Kathy (Carey Mulligan: Wall Street 2: Money never sleeps, 2010) steht hinter einer Scheibe und blickt liebevoll in einen OP, auf dessen Tisch ein junger Mann liegt und sie traurig anschaut.
Rückblende, England 1978: Kathy, Tommy (Andrew Garfield: Red Riding, 2009, The Social Network, 2010) und Ruth (Keira Knightley: Abbitte, 2007) verbringen ihre Kindheit in Hailsham, einem idyllischen englischen Internat, in dem strenge Regeln gelten. Die Erzieherinnen sorgen mit Disziplin und hohem Aufwand für die körperliche Gesundheit der Kinder, die auch eine intensive schulische Ausbildung erhalten. Als eine neue Aufseherin den Kindern erklärt, dass sie Klone sind und nicht alt werden können, da sie den Menschen als Organspender dienen müssen, wird sie umgehend entlassen. Kathy, die sich voller Zuneigung um den Außenseiter Tommy kümmert, muss erleben, dass die dominante Ruth sich in die Beziehung drängt.
Einige Jahre später: Tommy und Ruth sind immer noch zusammen. Die erwachsen gewordenen Kinder leben nun in Cottages und dürfen sich relativ frei bewegen, bis sie den Bescheid für ihre erste Spende erhalten. Dort lernen die Drei ein junges Paar kennen, das fest davon überzeugt, dass Liebende einen kleinen Zeitaufschub erhalten. Kathy, Ruth und Tommy, der sich überraschend zu einem äußerst talentiert Zeichner entwickelt hat, sind davon überzeugt, dass die Bilder, die sie als Kinder der Galerie der mysteriösen Madame überlassen mussten, dafür genutzt werden, in ihre Seele zu blicken, um die Authentizität der Liebe zu prüfen. Kurz danach verlässt Kathy die Cottages und lässt sich als Betreuerin ausbilden: sie wird nun die Spender begleiten.
Jahre später sieht Kathy ihre Freunde erneut: Ruth und Tommy sind getrennt und haben bereits ihre ersten Spenden hinter sich. Nun kommen sich Kathy und Tommy näher, was auch von Ruth unterstützt wird, die es bedauert, die frühere Beziehung von Kathy und Tommy zerstört zu haben. Das Paar sucht die Galeristin auf, um einen Aufschub zu erlangen. Dort treffen sie auch die Leiterin von Hailsham (Charlotte Rampling), die ihnen erklärt, dass die Bilder nur einem Zwecke dienten: nämlich zu zeigen, dass Klone eine Seele haben. Dieses Vorhaben sei aber gescheitert. Kurz darauf stirbt Ruth nach einer neuerlichen Spende und die Rückblende ist beendet. Der junge Mann, den Ruth im OP sieht, ist Tommy, der für immer seine Augen schließt. Kurz darauf erhält Kathy ihren ersten Bescheid. Im letzten Bild denkt sie darüber nach, ob es den Empfängern der Spenden wirklich besser geht als den Spendern.

Unkritische Dystopie
Mark Romanek erlangte mit seinen Musikvideos, unter anderem für Michael Jackson, Weltruhm. Sein zweiter Spielfilm One Hour Photo (mit Robin Williams), die Geschichte eines versponnenen realitätsfremden Außerseiters, war ein relativ erfolgreicher Festivalfilm, floppte aber an der Kinokasse. Mit Alles, was wir geben mussten verfilmte Romanek nah an der Vorlage den gleichnamigen Roman des Japaners Kazuo Ishiguro.
Alles, was wir geben mussten ist ein dystopischer Science Fiction-Film, der in der Vergangenheit spielt, einem ländlich geprägten Großbritannien, über dessen gesellschaftliche Verfasstheit der Zuschauer nichts erfährt. Romanek konzentriert sich überwiegend auf eine melodramatische Erzählung, deren ruhiger Erzählfluss fast angenehm altmodisch wirkt. Romanek gelingt es durchaus, ein subtiles Bild von entfremdeten Menschen zu entwickeln, die trotz ihrer Intelligenz aufgrund ihrer spezifischen Sozialisation merkwürdig realitätsfremd wirken und sich ohne Widerstand ihrem Schicksal fügen. Ein Anflug von Newspeak erinnert sogar an George Orwells 1984. Hier enden aber die Gemeinsamkeiten, denn das Drehbuch von Andrew Garland (Script für 28 Days Later, 2003) zeigt nicht im Geringsten ein Interesse an der politischen und ethischen Entwicklung, die erklären müsste, warum eine Gesellschaft, die offenbar an einem Überalterungsproblem leidet, sich für diesen Weg entschieden hat. Nur in der Schlüsselszene, in dem Gespräch von Kathy und Tommy mit Miss Elly (Charlotte Rampling), erfährt der Zuschauer, dass die Menschen offenbar verdrängen wollen, aus welcher Quelle ihre lebensverlängernden Spenden kommen.

Reaktionärer, gepflegter Kitsch
Dies ist auch das Dilemma von Never Let Me Go (Originaltitel), denn nicht nur das Sci-Fi-Genre, sondern überhaupt das Kino, lebt vom dramatischen Antagonismus. Im vorliegenden Fall jenem, der zwischen den Prämissen der Herrscher und den Bedürfnissen der Beherrschten entsteht. Romanek zeigt uns allerdings die Herrscher nicht. Der völlige Verzicht auf eine ideologische Reflexion (1) führt den Film damit folgerichtig in eine blutarme Leere.
Funktionieren könnte der Film dann, wenn der Zuschauer tatsächlich in der von Ishiguro in seinem Roman beschriebenen Welt leben würde: in diesem Fall wäre er als flammender Appell für die Menschenwürde zu lesen. Da dies aber nicht der Fall ist, wirkt Alles, was wir geben mussten mit zunehmender Länge nicht nur aufdringlich, sondern auch lästig, da seine moralische Botschaft quasi offene Türen einrennt.
Die kritische Kraft einer Dystopie besteht darin zu zeigen, dass das pessimistische Bild der Gegenutopie in ihren Wurzel glaubwürdig und damit denkbar erscheint. Romaneks Film verweigert uns diese Sicht der Dinge und belastet auch die psychologische Glaubwürdigkeit nachhaltig, indem er dem Zuschauer willenlose Klone zeigt, die nicht einmal instinktiv die Frage nach Widerstand formulieren.
Ästhetisch wird dies durch teilweise erlesen fotografierte Bilder verstärkt, die mit viel Tränen und einem ziemlich unerträglichen Soundtrack unterlegt werden, der mit hoher emotionaler Redundanz jene Gefühle verstärken möchte, die allein schon die Bilder nachhaltig erzeugt haben. Handwerkliches Ungeschick spiegelt nicht selten fehlende inhaltliche Substanz wider und so ist Mark Romaneks Alles, was wir geben mussten leider eine filmische Bankrotterklärung, die bestenfalls dazu dienen kann, jenen Menschen, die von diffusen und kulturpessimistischen Ängsten vor der Gentechnologie geplagt werden, einen künstlerischen ‚Beweis‘ anzudienen. Argumente für eine wirklich nachhaltige Debatte liefert dies nicht und deshalb ist Alles, was wir geben mussten nicht nur gepflegter Kitsch, sondern auch reaktionär.

Noten: BigDoc, Melonie = 5 

(1) Ideologische Reflexion bedeutet nun nicht die genreübliche Abbildung eines 'bösen' Pharmakonzerns, einer verschlagenen Regierungsverschwörung o.ä., wie es in US-amerikanischen Thrillern üblich ist, sondern den Diskurs darüber, inwieweit das Bewusstsein der Teilnehmer an einer sozialen Handlung imstande ist, eigene Interessen von fremdbestimmten zu unterscheiden. In dieser Hinsicht schätze ich einen Film wie "Splice - Das Genexperiment" (Vincenzo Natali) als überzeugendere Variante ein.
"Splice" zeigt, wie Forscher das Fremde und Andersartige, das autonome Andere bereitwillig fremden, dann aber auch ihren eigenen Bedürfnissen unterwerfen, was durchaus den Umkehrschluss zulässt, dass man im Fremden und Andersartigen auch das Autonome, hier: die Menschenwürde, finden kann. Dazu müsste man aber einen Teil der Geschichte aus der Täterperspektive erzählen. Allein dies kann man Mark Romanek angesichts der Tatsache, dass es sich um eine Literaturverfilmung handelt, nur bedingt anlasten. So viel Fairplay
muss sein.