Samstag, 31. Oktober 2009

Das weiße Band

Michael Haneke und sein Film über das Wesen der Gewalt

Michael Haneke ist ein Regisseur, der scheinbar genau weiß, warum er immer wieder aneckt und den Zuschauern Bilder zumutet, die oft abstoßen (Bennys Video, 1992, Funny Games,1997) und gleichzeitig magisch anziehen, wenn man das Gesehene ertragen kann. Dass ihm, der nach den Wurzeln von Gewalt sucht, nicht selten die Verherrlichung der Gewalt unterstellt wurde, gehört zu den – allerdings vorhersehbaren – Paradoxien der Filmrezeption. „Das weiße Band“, der Sieger in Cannes, wird nun unisono als Meisterwerk gefeiert. Zu Recht.
Haneke spürt erneut den Ursachen von Gewalt und Terror nach, diesmal im auch filmästhetisch geschlossenen Mikrokosmos eines Dorfes am Anfang des 20. Jahrhunderts, komplett in Schwarz-Weiß gedreht und dank aufwändiger digitaler Nachbearbeitung so konsequent durchgestylt, dass einige Kritiker sich schon Sorgen um das Sujet machten, dessen thematische Morbidität möglicherweise so viel Opulenz und Schönheit gar nicht verdient.

Schönheit hat ihren Preis
Am Schwarz-Weiß-Film hängt ein Mythos. Schwarz-Weiß scheint, obwohl es alles andere als eine naturalistische Wiedergabe der Realität ist (die Natur ist bunt!), eine mimetische Kraft zu besitzen, die ihn unweigerlich ans Dokumentarische fesselt. Vielleicht ist dies seiner Herkunft aus dem Photographischen geschuldet, aber ein schwer beweisbarer Mythos bleiben solche Betrachtungen dennoch. Wer sich ältere Arbeiten von Orson Welles anschaut, dem der ästhetische Aspekt seiner Filme alles andere als gleichgültig war, kann unschwer erkennen, dass sich die schwarz-weiße Ästhetik ganz rasch auf die Seite einer expressionistischen, häufig auch narzisstischen (Selbst-)Bespiegelung der Realitätswahrnehmung schlagen kann. Auch das geht.

Das Ganze ist eine Frage des Stils und Stil ist bei Haneke immer eng mit dem Narrativen verbunden. Und so ist sein historischer Ausflug in ein norddeutsches Dorf kurz nach der Jahrhundertwende in seiner Farbwahl deswegen so konsequent, weil sie ans historische Foto erinnert, genauso wie der Off-Erzähler (Ernst Jacobi) literarische Traditionen des ausgehenden 19. Jh. (Fontane) anklingen lässt, deren vermeintlich biederer und gleichmütiger Tonfall eine Sicherheit vorgaukelt, die es nicht gibt: der Erzähler richtet zwar seinen Blick aus sicherer Distanz zurück auf das Gewesene, aber dies hält denjenigen, dem es erzählt wird, nicht auf Distanz. Meist wird so ganz beiläufig die Büchse der Pandora geöffnet und es tauchen scheußliche Dinge auf, an die man nicht erinnert werden möchte. Beides, die Farbe und den Erzähler, kann man durchaus als Verfremdungseffekt interpretieren, so wie es Haneke in Interviews angedeutet hat. Es sind aber im Gegensatz zum deutlich schrilleren Brechtschen V-Effekt leise Töne einer Dissonanz, die Tradiertes nutzt, ohne dass der Zuschauer es sich allzu sehr gemütlich machen kann. Schönheit hat bei Haneke ihren Preis.

Unbehagliche Außenansichten
Es ist Abend, die Zeit für die letzte gemeinsame Mahlzeit des Tages. In der Pastorenfamilie sitzt aber niemand, alle Familienmitglieder stehen vor ihren Stühlen. Mit maßvollen und sorgfältig gewählten Worten kanzelt der Pastor zwei seiner zu spät gekommenen Kinder ab. Martin und Klara und der Rest der Familie wirken schreckstarr, es wird nicht das erste Mal sein, dass das Familienoberhaupt für den nächsten Tag eine Prügelstrafe in Aussicht stellt. Der strenge Patriarch empfindet dies allerdings als Belastung. Für sich wohlgemerkt. Er schickt die Familie mitsamt der Mutter ohne Essen ins Bett und lässt sich die Hand küssen.
Der Satz „Strafe muss sein!“ ist auch heute noch geläufig. Dieser pädagogische Imperativ besitzt einen Sprachduktus, der jedes Hinterfragen überflüssig macht. Auch aus der Sicht der Kinder ist Widerstand sinnlos, jede Erklärung ihres Handelns fruchtlos. Michael Hankes „Das weiße Band“ wird nach dieser frühen Szene seine Geschichte an anderen Orten weitererzählen, aber unerbittlich kehrt er am Folgetag zurück zur protestantischen Pfarrersfamilie, um den Akt der Züchtigung zu dokumentieren. Der Zuschauer bleibt jedoch draußen. Haneke zeigt die beiden Sünder beim Betreten eines Zimmers, in dem sie vor der versammelten Familie ihre Strafe empfangen sollen. Die Tür schließt sich, dann öffnet sie sich wieder und Martin holt den Prügel aus einem anderen Zimmer, kehrt zurück und schließt erneut die Tür. Die Kamera bewegt sich keinen Zentimeter und man wartet, bis die ersten Schreie zu hören sind. Das ist weder Suspense noch ein dramaturgischer Kniff, der die Spannung steigern soll. Es ist ein Brennglas, das Haneke benutzt, und wie auch in seinen früheren Filmen spürt man eine zunehmende Unbehaglichkeit im Kinosessel.

Es sind Außenansichten einer erbarmungslosen Bildungs- und Sozialkultur, die Haneke bietet. Eine Psychologisierung der Handlung, die um Verständnis bemüht ist, gibt es nicht. Sie käme zustande, wenn die Kinder miteinander reden würden, wenn der Zuschauer wie ein allmächtiger Beobachter immer etwas mehr wüsste als die Handelnden. Aber dies tut er nicht, er bleibt außen vor, denn die Kinder reden nur selten und die wenigen Sätze bleiben mysteriös. Meist gehen sie gemeinsam durchs Dorf und häufig sind die Mädchen, angeführt von der in Schwarz gekleideten Klara, enger beisammen als die Jungs. Wie bei Rohmer hält sich die Kamera dabei meist an einem Ort auf, es gibt keine Fahrten, kaum Schwenks und in langen Einstellungen werden die Szenen nüchtern und mit wenigen Schnitten ausgebreitet. Das Brennglas, das Haneke nutzt, vergrößert alles, aber man weiß, dass der Gegenstand der Beobachtung auch einem Brennpunkt unterliegt und alles in Flammen aufgehen kann, wenn Winkel und Betrachtungsdauer stimmen.

Wir sind im Jahre 1913, in Eichwald, einem protestantischen Dorf. Die Hierarchie steckt Haneke schnell ab: an der Spitze der Baron (Ulrich Tukur), dessen über Generationen weitergereichte ökonomische Vormachtstellung brüchig zu werden scheint; es folgen der Pastor (brillant: Burghart Klaussner), der Arzt (Rainer Bock), der Lehrer (Christian Friedel), dann die Bauern und ganz am Ende die osteuropäischen Erntehelfer. Der dörfliche Friede, ein Begriff, der nur Sinn macht, wenn er die fein ausbalancierte Klassenstruktur meint, wird gestört, als sich seltsame Vorfälle häufen: Zunächst verunglückt der Arzt mit seinem Pferd - ein dünner Draht wurde zwischen zwei Bäumen gespannt und ist anderentags spurlos verschwunden. Eine Bauersfrau kommt bei einem Arbeitsunfall im Sägewerk ums Leben, worauf ihr Sohn, der den Baron für verantwortlich hält, dessen Kohlernte nach dem Erntedankfest abmäht. Der älteste Sohn des Barons wird am gleichen Tag entführt und am nächsten Morgen gefesselt und misshandelt im Sägewerk aufgefunden. Viel später, als sich das Dorf ein wenig beruhigt hat, wird eine Scheune in Brand gesetzt und alles eskaliert endgültig, als der behinderte Sohn der Hebamme schwer misshandelt im Wald gefunden wird.
Wer tut so etwas?
Gibt es eine Verschwörung, die die Missetaten plant und ausführt? Oder sind es Einzeltäter, die spontanen Racheimpulsen folgen? Die Vernichtung der Kohlernte ist schnell aufgeklärt, der Vater des Verantwortlichen wird sich später aufhängen. Der Unfall im Sägewerk deutet auf einen morschen Boden hin. Aber das Attentat auf den Arzt und alle weiteren Gewalttaten bleiben ungeklärt, auch dann, als die Hebamme spurlos verschwindet, nachdem sie dem Lehrer angedeutet hat, dass sie den oder die Täter kennt. Der Lehrer, der spürbar gealtert auch Off-Erzähler ist, wird am Ende die Kinder verdächtigen, die immer wieder in Gruppen an den Orten auftauchen, an denen etwas geschehen ist. Aber auch dies bleibt ungeklärt, obwohl man einmal sieht, dass ein Dorfjunge den Sohn des Barons in den Weiher wirft, ohne danach eine Hand zu rühren, um ihn vor dem Ertrinken zu retten. Dies tut ein Freund, aber der brutale und spontane Akt der Gewalt scheint keinem Plan zu folgen. Es scheint, als würden die Strukturen des Dorfes langsam und unausweichlich implodieren und einen Zeitenwechsel andeuten.

Ein Biotop am Rande der Verzweifelung
Das alles könnte einen veritablen Krimiplot abgeben, zudem angereichert mit einem Schuss Fantasy. Aber Haneke arrangiert die ungeheuerlichen Ereignisse sehr locker, um sich immer wieder den mikroskopischen Strukturen des Gemeinlebens zuzuwenden. Dort spiegelt sich die äußere Gewalt, die sich nicht nur gegen Unterlegene und Außenseiter wendet wie den geistig behinderten Sohn der Hebamme, in den viel feineren Strukturen eines repressiven familiären Systems wider. Und immer wieder kehrt Haneke zur Pastorenfamilie zurück, um minuziös dieses Zusammenspiel der Komponenten zu beobachten. Sei es, wenn Klara die tobende Klasse vor dem Beginn des Konfirmationsunterrichts ganz im Sinne ihres Vaters zu beruhigen versucht, von diesem aber als Rädelsführerin missdeutet, misshandelt und gedemütigt wird, bis sie kollabiert; sei es, wenn Klara dafür den Lieblingsvogel ihres Vaters köpft und mitsamt der Schere zu einem christlichen Kreuzsymbol arrangiert; oder sei es auch dann, wenn der Pastor von seinem Jüngsten einen neuen Vogel geschenkt bekommt und mit seinem Kiefer mahlt, um seine Gefühle für das Kind zu unterdrücken und nur ein knappes „Danke“ zuwege bringt.

Überall begegnet dem Zuschauer in Hanekes Film eine Kälte hart am Rande zur Verzweifelung. Das Biotop Eichwald zeigt sich sowohl in makroskopischer als auch in mikroskopischer Hinsicht als autoritär-repressiver Kontext, der sich zwar in der nächsten Generation reproduzieren möchte, aber mittlerweile so aufgeheizt ist, dass seine durch christlichen Glauben und nicht hinterfragte Traditionen definierten Adhäsionskräfte versagen.
Dass selbst die essentiellen moralischen Übereinkünfte der Dorfgemeinschaft an den Rändern aufbrechen, zeigt Haneke am Beispiel des Arztes, eines Zugezogenen, der seine Geliebte, die Hebamme sowohl sexuell als auch rhetorisch quält und erniedrigt, während er sich nächstens inzestuös an seiner Tochter zu schaffen macht.

Menetekel des Faschismus?
Es liegt nahe, den Film als Menetekel zu lesen, das den von Fromm bis Adorno oft beschworenen ‚autoritären Charakter’ in seinen soziologisch erkennbaren Sedimenten dingfest macht. Dieser Typus beugt sich, durch Erziehung und Sozialisation gebrochen, widerspruchsfrei den Gesetzen eines totalitären Gesellschaftssystems, um dort nach Maßgabe durch die eigene gesellschaftliche Rolle nun auch selbst sadistische Impulse ausleben zu können und zu dürfen. Faschismus ante portas?
Diese Deutung springt den Zuschauer, insofern er über entsprechende Bildung und Wissen verfügt, förmlich an. Genauso wie das Nachspüren der Einflüsse der später so genannten Schwarzen Pädagogik, jenen Handreichungen für Erzieher und Eltern, die beginnend mit ersten Schriften aus dem ausgehenden 17. Jh. ein repressives Erziehungsideal in den Familien verankerte, dessen eigentliches Ziel die Zerstörung der kindlichen Persönlichkeit war.
Beides mag stimmen und vielleicht werden die Kinder des Dorfes zwei Jahrzehnte später willfährige Nazis sein. Aber „Das weiße Band“ ist subversiv genug, um sich nicht allzu schnell und vor allen Dingen vollständig enträtseln zu lassen. Wer tiefer gräbt, wird jene seismographischen Schwingungen entdecken, die eine Verbindung zwischen dem leibfeindlichen und depravierenden Calvinismus und der später von Max Weber ausführlich beschriebenen protestantischen Arbeitsethik aufzeigen, deren Wesen ontologisch als tiefe Entfremdung gedeutet werden kann. Weber beschreibt dies als Walten eines unnahbaren Gottes: „Maßstäbe irdischer Gerechtigkeit an (Gottes) souveräne Verfügungen anzulegen, ist sinnlos…der Sinn unseres individuellen Schicksals ist von dunklen Geheimnissen umgeben, die zu ergründen unmöglich und vermessen ist…Denn jede Kreatur ist durch eine unüberbrückbare Kluft von Gott geschieden und verdient von ihm…lediglich den ewigen Tod…Anzunehmen, dass menschliches Verdienst oder Verschulden dieses Schicksal mitbestimme, hieße Gottes absolut freie Entschlüsse, die von Ewigkeit her feststehen, als durch menschliche Einwirkung wandelbar ansehen: ein unmöglicher Gedanke.“
Und die Konsequenz? „In ihrer pathetischen Unmenschlichkeit musste diese Lehre nun für die Stimmung einer Generation, die sich ihrer grandiosen Konsequenz ergab, vor allem eine Folge haben: ein Gefühl einer unerhörten inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums“ (Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1905).

Ein Film, der verstört
"Die weiße Farbe soll Euch an Unschuld und Reinheit erinnern", sagt der Pastor seinen ‚sündigen’ Kindern Martin und Klara, bevor er sie mit einem ebensolchen Band ausstaffiert. Daher rührt der Titel des Films. Fast scheint es in diesem deterministischen Kosmos, in dem alles von Gott bestimmt ist, auch die Sünde und das Gutsein, vollkommen logisch zu sein, dem des freien Willens beraubten Kind die Normen ohne jedweden Diskurs einzubläuen. Es geht nicht um Verstehen, sondern um Funktionieren. Es geht nicht um Vernunft, sondern um Gehorsam. Das weiße Band stigmatisiert die Kinder als Sünder und kann zugleich als Ehrenzeichen getragen werden. Ein verstörender Widerspruch, der sich bald historisch auflösen wird, dann nämlich, wenn Judensterne gewiss keine Ehrenzeichen mehr sein werden.

„Das weiße Band“ stellt seine Themen gleich im Dutzendpack zur Debatte: das Scheitern einer Religion, die sich mit alttestamentarischer Härte der Zucht zuwendet; die sexuelle Frustration; die spät-feudalistischen Strukturen einen Klassengesellschaft, die als letztes Aufbäumen den Faschismus generiert; die Sublimierung von Aggressionen durch Gewalt gegen Schwache und Außenseiter – an diesem gewaltigen Themenüberbau scheitert Haneke nicht, weil er seine Figuren nur selten etwas verhandeln lässt, sondern sie beobachtet. Dies gibt dem Film eine formale Geschlossenheit, die Spuren hinterlässt. Spuren, die man rational deuten kann, die emotional aber verstören.
Am Ende entlässt Haneke nicht nur seinen Erzähler in den 1. Weltkrieg. Dies hat auch Thomas Mann mit dem jungen Castorp gemacht, nachdem sich die illustre Zauberberg-Gesellschaft mit einem kollektiven Veitstanz verabschiedete. Castorp verlor der Autor aus den Augen. Den jungen Lehrer, der weder das humanistische Gewissen des Dorfes noch ein zivilcouragierter Strahlemann ist, sondern einfach nur anständig, lässt er in Eva sein privates Glück finden. Nach dem Krieg wird der junge Mann Schneider. Wie sein Vater.

Noten: BigDoc = 1, Klawer = 1

Sonntag, 11. Oktober 2009

Appaloosa

Appaloosa Originaltitel: Appaloosa, Produktionsland: USA 2008, Länge: ca. 114 Minuten, FSK 12, Regie: Ed Harris, Drehbuch: Robert Knott, Ed Harris, D: Ed Harris: Virgil Cole, Viggo Mortensen: Everett Hitch, Jeremy Irons: Randall Bragg, Lance Henriksen: Ring Shelton, Renée Zellweger: Allison French

Wenn man einen neuen Western sieht, dann geschieht dies im Bewusstsein, einem alternden, fast vergessenen Genre beizuwohnen. Wie ein guter Freund, der nach all den Jahren nichts von seiner Persönlichkeit, seinem Charme und seinen Gewohnheiten abgelegt hat, begegnet einem im Western selten etwas Neues. Die Geschichten sind erzählt: von der klassischen Phase des Western in den 50er und 60er-Jahren, über die Neo-Western eines Robert Altman bis hin zu den Spätwestern, die uns wie Todeszug nach Yuma lediglich Variationen der bekannten Themen vorlegen. Es geht um Gewalt und Recht, Männerfreundschaften, Loyalität und Landschaften, wobei diese weniger als realistischer Background dienen, sondern schon längst eine Traum- und Phantasielandschaft geworden sind, in denen der mythologische Aspekt des Genres abgearbeitet wird.

In der durchweg überzeugenden ersten Regiearbeit von Ed Harris, den man als Schauspieler in seiner Bedeutung für das amerikanische Kino möglicherweise etwas unterschätzt, begegnet einem die lakonische Seite des Genres. Und die besteht darin, dass Harris den Meta-Plot nur benutzt, um dem Zuschauer seinen Sub-Plot zu erzählen: es ist die Geschichte von zwei Männern, deren Gefühlsleben sich aufgelöst hat und die, von jeglichen Erwartungen befreit, von einem beinahe zynischen Pragmatismus gelenkt werden, der keine großen Fragen mehr stellt, sondern sich eiskalt kalkulierend mit den Abfällen des Lebens zufrieden gibt. In „Appaloosa“ ist dies eine Femme fatale, die ihre jeweiligen Liebhaber rücksichtslos ausbeutet und selbst ausgebeutet wird.
Man braucht eine gewisse Zeit, um zu erkennen, dass die Worte und Gesten der Figuren wenig zählen, sondern nur die Taten. Nur die beiden Professionals können ihren Worten trauen und dem einen der beiden gehen sie sogar zuweilen aus, er ringt sowohl allegorisch als auch symptomatisch mit der Sprache, bis sein Freund ihm weiterhilft. Ein schöner Einfall. Harris schildert die Psychologie und den Moralcodex seiner Protagonisten unaufdringlich, fast mit drögem Tempo, aber nach der ersten Begegnung mit dem Film verlangt alles nach einem zweiten Blick. Das ist schon an sich eine Menge wert.

Natürlich geht es in „Appaloosa“ wieder einmal um einen klassischen Konflikt: der Rinderbaron Randall Bragg (routiniert als kultivierter Bösewicht: Jeremy Irons) terrorisiert nicht nur mit seinen Männern die Kleinstadt Appaloosa in New Mexico, sondern hat auch drei Gesetzeshüter erschossen.
Der Name der Stadt ist auch der Name einer Pferderasse. Appaloosas sind Arbeitspferde, kleine, wendig und ausdauernd auf kurzen Strecken. Genau dies sind die Qualitäten, die Virgil Cole (Ed Harris) und Off-Erzähler Everett Hitch (Viggo Mortensen) benötigten, um die zeitlich und räumlich sehr begrenzten Gunfights zu überleben. Cole nicht mehr der Jüngste, aber immer noch der Schnellste; Hitch ist der intelligentere von beiden, ein Mann, der sehr ökonomisch den Einsatz der Waffen plant – vom Einsatz einer riesigen Schrotflinte bis zur richtigen Körperhaltung beim finalen Show-down. Beide sind Gunmen, also Professionals, dabei aber öffentlich legitimierte Friedenshüter; als US-Marshalls zwar dem Justizministerium unterstehend und verantwortlich für den Schutz des Gerichtswesens, de facto aber Reisende in Sachen Selbstjustiz. Cole und Hitch stehen in der Tradition eines Wyatt Earp: sie heuern dort an, wo man sie braucht, und sie nennen sich selbst ‚Friedenshüter’.

Die Professionals
Harris lässt keinen Zweifel daran, dass in Appaloosa alles ökonomischen Interessen folgt: die Honoratioren der Stadt räumen Cole und Hitch nur deshalb uneingeschränkte Autorität ein, weil Braggs Bande sich in Geschäften und Saloons selbst bedient und nie bezahlt. Bei der legendären Auseinandersetzung der Earp-Brüder mit den Clantons und der Bande der ‚Cowboys’ war dies noch anders: wenn man den historischen Quellen trauen darf, bezahlten die ‚Cowboys’ immer und waren bei den Geschäftsleuten wohlgelitten. Ein kleiner Unterschied. Es verwundert nicht, dass die erste Amtshandlung von Cole darin besteht, die gültige Rechtsverfassung des Ortes aufzulösen und Regeln einzuführen, die zwangsläufig zur Eskalation führen müssen, und zwar bevor die feindlichen Lager sich wieder einigen.
Neu ist dieser Typ von Gunfighter im Western nicht, auch der Zynismus ist nicht neu. Man sieht ihn bereits in John Sturges „The Magnificent Seven“ (1960), wo eine Gruppe professioneller Revolverhelden ein armes Dorf gegen eine ausbeuterische Bande schützt. Fast noch wichtiger für das Genre war Richard Brooks’ „The Professionals“ (1966), wo Gunmen ein Blutbad anrichten, das von Anfang an auf einer hinterhältigen Täuschung basierte.
Claudius Weil und Georg Seeßlen beschreiben den Typus des Gunman als kühl und distanziert: Er hat „fast keine menschlichen Beziehungen zu seiner Umwelt, nicht einmal zu den Leute, für die er kämpft und sein Leben riskiert. Ansporn ist ihm die Freude an der Aktion, die Befriedigung darüber, in ein bestehendes Machtsystem einzugreifen und es auf den Kopf zu stellen (worin vielleicht sogar eine Art verschüttetes Gerechtigkeitsempfinden ausgedrückt ist, das funktioniert, obwohl oder gerade weil die Helden und die Schurken sich viel näher stehen als der Held…“ und seine Auftraggeber.
Auch Cole und Hitch sind Männer ohne große Empathie, aber im Gegensatz zu den cooleren Genrevorbildern reden beide immer wieder über ihre Gefühle und vergewissern sich ständig, dass der Job getan werden muss, handwerklich exakt und ohne große Anteilnahme.

Unters Brennglas gerät diese Lebensphilosophie, als in Appaloosa eine Frau auftaucht: Allison French (Renée Zellwanger) ist eine Frau mit besonderen Fähigkeiten. Nicht nur dass sie Orgel und Klavier spielen kann, nein, Cole wird auch später über sie berichten, dass sie stets reinlich ist, abends immer ein Bad nimmt, gut kochen kann und „alles fickt, was nicht kastriert ist“. Aber Letzteres erfährt erst später über seine Geliebte.
Cole und Hitch entführen Bragg und sorgen dafür, dass der Bandenchef von einem Berichtsrichter für die Morde an einem Sheriff und seinen Deputys zum Tode verurteilt wird. Bragg wird wenig später von zwei anderen Gunmen, die Allie entführt haben, frei gepresst und Cole darf während der Verfolgung beobachten, dass sich Allison bereits dem nächsten Alphamännchen an den Hals geworfen hat.
Dieser Sub-Plot ist das eigentliche Spannungselement in „Appaloosa“. Natürlich kommt es zum Show-Down mit den Entführern, aber nur wenig später ist Bragg vom US-Präsidenten auf mysteriöse Weise begnadigt worden, plötzlich zu Reichtum gekommen und damit ein ehrenwerter Bürger in Appalossa. Harris erzählt die Geschichte also dort weiter, wo andere Western schon längst ihr Ende gefunden hätten. Und je länger die Geschichte dauert, desto deutlicher wird der Grad der Beschädigung, den Harris’ Helden aufweisen, denn nach der vermeintlichen Desillusionierung Coles wird klar, dass dieser einen Stoizismus besitzt, mit dem er sogar seinen Freund überrumpelt. Genau abwägend setzt Cole nämlich seine Beziehung zu Allison fort und hegt sogar Träume von einem Haus mit Veranda. Er hat eine kultivierte Frau, die reinlich ist und guten Sex bietet, und er weiß, dass seine promiskuitive Gefährtin ihn ohne jede Regung an das nächste neue Alphamännchen verraten wird. Hitch wird es am Ende sein, der als einziger zu einer wirklich empathischen Tat fähig ist, bevor er (nicht ohne Ironie und durchaus genre-referentiell im Off geschildert) in den Sonnenuntergang reitet.

Helden ohne Heimat
Das Ganze ist innerhalb der Grenzen des Genres präzise erzählt. Es gibt schöne Dialoge und man muss sehr sorgfältig hinhören. Und es gibt Momente der Ruhe, in sich sehr widersprüchlich, nämlich wenn Cole und Hitch auf der Veranda sitzen, ihre Waffen im Schoß, wenig redend und wartend. Fast ein wenig wie in John Fords „My Darling Clementine“. Es sind Bilder, die man durchaus kennt. Und es gut, dass Harris diese Genregrenzen nicht transzendieren will.
Innerhalb des Gewohnten und innerhalb dieser strengen Immanenz stößt der Zuschauer nicht nur auf Vertrautes, sondern in der Variation auf Ungewöhnliches. Keineswegs neu ist das Gefühl der Heimatlosigkeit in einer gewalttätigen fast vor-zivilisatorischen Gesellschaft, die in sich herzlos und beinahe korrupt ist, und die von den Überlebenswilligen und ruhelos Wandernden außergewöhnliche Anpassungsleistungen verlangt – nicht nur die Professionalität beim Umgang mit den Waffen, sondern jene beim Umgang mit den letztlich nicht vermeidbaren Gefühlen. Dieser Antagonismus ist uns auch in der modernen Arbeitsgesellschaft durchaus vertraut, die gelegentlich und vielleicht immer häufiger ein ruheloses Umherwandern verlangen wird, jene Flexibilität, deren Preis die Veränderung der eigenen Gefühlswelt ist. Neu ist allerdings, dass in „Appaloosa“ auch die letzten Reste von Hoffnung bereits vergiftet sind.

Die Helden im Western sind, wie es Elisabeth Bronfen in ihrer luziden Analyse von John Fords „The Searchers“ dargelegt hat, dauerhaft von einer Heimat, einem ‚Home’, ausgeschlossen. Ihre Konflikte sind einfach strukturiert, was auch jenes kollegiale Umgehen von Cole und Hitch erklärt, das sie mit den beiden Gunmen Braggs’ pflegen, bevor sie sie erschießen. Es sind Männer der ‚einfachen Widersprüche’, die sich in der weiblich-codierten zivilen Behausung immer unwohl fühlen müssen, obwohl diese als Traumfigur in ihren Phantasien eine Rolle spielen muss. Es ist ein fundamentaler Antagonismus, der diese Figuren umtreibt. Wir, die zivilisierten Zuschauer, „können diese Störung inmitten des familiären Lebens ertragen, weil wir von einem tragischen Helden träumen, der an unserer Stelle die Freiheit des einfachen Widerspruches genießt, in der Traumwelt jenseits der Filmleinwand“ (Elisabeth Bronfen).

Allerdings führt der Weg aus der Traumwelt jenseits der Filmleinwand wieder zurück in die Traumlandschaften des Kinos. Man muss sich immer wieder fragen, was man an diesen einsamen desillusinierten Helden so mag. Was spiegeln sie, was sagen sie uns? Wenn man die Traumlandschaften des Western studiert, wird man vielleicht spüren, wie sie zur Reflexion der eigenen Befindlichkeit führen können. In „Appaloosa“ wartet allerdings da "No way out" auf uns, denn Virgil Cole ist eine Figur, die den von Bronfen geschilderten Antagonismus im klaren Bewusstsein seiner zeitlichen Befristung, aber zugunsten seiner Phantasien von Heimat und Zuhause ausleben will. Das bietet Reibungsflächen. Aber das wirklich Bemerkenswerte an Ed Harris’ Western ist, dass zum ersten Mal in einem Spätwestern die Konsistenz des von Frauen definierten ‚Home’ so brutal wegbricht. Sie ist vom „Struggle for Life“ infiziert. Anders als die fürsorglichen und mütterlichen Frauen bei Ford, die ihr ‚Home’ gefunden haben und damit auch definieren, ist Allison immer noch auf der Suche: nach Schutz, nach materieller Sicherheit. Sie dekonstruiert das idyllische 'Home' und setzt es nach Maßgabe durch die ökonomischen Zwänge wieder zusammen. Was sie zu bieten hat, wurde von der Korruption erfasst und muss als Illusion gesehen werden, die man gelassen ertragen muss, wenn man aus ihr die letzten verwertbaren Abfälle des Lebens herauspressen will. Ein Film ohne Hoffnung, wäre da nicht Hitch, der mit einem letzten Freundesdienst dafür sorgt, dass Cole diese Illusion noch ein wenig genießen darf.

Postscriptum: Nachdem ich das Ende der Kritik noch ein wenig überarbeitet habe, fiel mir ein, dass es kaum Western gibt, die den Gunman als als alten Mann zeigen. John Wayne hat in "The Shootist" zumindest noch einen heroischen Abgang. Als einziger hat Sam Peckinpah dieses Thema durchgearbeitet, nicht nur in "Ride the High Country", sondern besonders konsequent in "The Wild Bunch". Dort weniger an den elegischen Endzeit-Charakteren von Holden und Borgnine, sondern am Beispiel des alten, gehässigen, Kautabak kauenden Veteranen, der als einziger überlebt und einfach weitermacht.

Literatur
Elisabeth Bronfen: Heimweh – Illusionsspiele in Hollywood, Berlin 1999.
Seeßlen/Weil: Western-Kino, Hamburg 1979

Noten: Melonie = 2,5, Klawer = 2,5, BigDoc = 2,5

Donnerstag, 1. Oktober 2009

District 9

USA / Neuseeland 2009 - Regie: Neill Blomkamp - Darsteller: Sharlto Copley, Jason Cope, Nathalie Boltt, Sylvaine Strike, Elizabeth Mkandawie, John Summer, William Allen Young, Greg Melvill-Smith, Nick Blake - FSK: ab 16 - Länge: 112 min.

Neo-klassisch erzählt
Neil Blomkamp ist bislang eher als Trickfilmzeichner aufgefallen. Seine erste Regiearbeit ist allerdings ein Volltreffer, denn das SF-Drama „District 9“ bietet eine heutzutage bereits konservativ anmutende Lust am genauen Erzählen, erinnert also mehr an klassische SF-Parabeln denn an Effektgewitter à la Roland Emmerich. Das ist angenehm.
Der Plot ist zudem originell, denn Aliens wie diese mag man (als Kreuzung der ‚Bugs’ aus den „Starship Troopers“ und den Aliens eines Ridley Scott) vielleicht schon gesehen haben, ihr sozio-kultureller Background ist allerdings um Längen interessanter als der jener anonymen Killermaschinen, die man möglichst effektvoll wegballert: über Johannesburg schwebt ein gigantisches Raumschiff, das kein Vorbote einer bevorstehenden Invasion ist, sondern ganz einfach ein gestrandetes Schiff, auf dem ganze Heerscharen unbekannter und grotesk aussehender Wesen krank dahinvegetieren, ohne dass man versteht, was denn nun vorgefallen sein mag.
Was macht man mit einer ständig wachsenden Anzahl fremdartiger Gäste, die niemand eingeladen hat? Man interniert sie. Kein Wunder, denn sie sind weder weise Lichtgestalten wie bei Spielberg noch tumbe Insekten, sondern ‚normale’ Migranten, die sich schnell an das Milieu anpassen, in das sie geworfen werden: Sie leben im Dreck und folglich wühlen sie darin. Die Kloake heißt District 9 und sieht aus wie eine Müllhalde.

Physische Dekonstuktionen
Blomkamp setzt dies ästhetisch angemessen in einem Semi-Doku-Look à la Cloverfield um und zeigt gleich zu Beginn ziemlich drastisch die desaströse Art und Weise, mit der die nunmehr fast 2 Mio. „prawns“ in ein weiter entlegenes Lager umgesiedelt werden sollen. Beide Kulturen können nach einigen Jahren zwar miteinander kommunizieren, verstehen ist etwas anderes. Gewalt liegt in der Luft, kleinste Konflikte schlagen in Brutalitäten um und der für die Aktion verantwortliche Wikus van de Merwe (Sharlto Copley) ist kaum imstande, den mit der Umsiedlung beauftragen privaten Security-Dienstleister Multinational United (MNU) einigermaßen zivilisiert auftreten zu lassen. Als sich der südafrikanische Biedermann, der zwischen vagem Altruismus und systemkonformen Vorurteilen oszilliert, mit einer unbekannten Flüssigkeit infiziert, beginnt eine rapide voranschreitende genetische Mutation, die ihn ganz offensichtlich in ein Alien verwandelt.
Irgendwie fühlt man sich an physische Dekonstuktionen wie in „The Thing“ oder Cronenbergs Remake von "Die Fliege" erinnert, angereichert mit einem dezent pädagogischen Zeigefinger, der anmahnt, dass man in eine fremde Haut schlüpfen muss, um das Andersartige zu verstehen. Diese und andere etwas vordergründigen, aber nicht von der Hand zu weisenden Allegorien sind allerdings verzeihlich, denn Blomkamp ist weit von irgendwelchen Rührseligkeiten entfernt - die Geschichte wird treffsicher und mit sardonischem Humor weitererzählt. Dazu gehört auch die alles andere als originell wirkende Plot-Wendung, die plötzlich die ‚Bad Scientists’ der Regierung als zynische Schlächter auftreten lässt. Van de Werwe, dem bereits ein Alien-Arm gewachsen ist, scheint nämlich der einzige Mensch zu sein, der die bio-genetischen Wunderwaffen der Aliens bedienen kann. Eine regelrechte Vivisektion steht dem leicht beschränkten Beamten bevor, und die will nicht einmal sein einflussreicher Schwiegervater verhindern.

Dumm, gierig und ignorant
30 Mio. Dollar kostete „District 9“, was man als billig einstufen darf. Immerhin konnte der Film überwiegend auf einer Müllkippe gedreht werden. Dass es am Ende etwas teurer wurde, liegt wohl daran, dass Blomkamp im letzten Drittel des Films seine Zivilisationsstudie zugunsten eines Action-Spektakels aufgibt, das für meinen Geschmack zu sehr an die „Transformers“ und „Iron Man“ erinnert: Van de Werwe hat sich mit dem Alien Christopher angefreundet, der ihm Heilung verspricht, wenn es gelingt, auf das Mutterschiff zu gelangen. Der Mensch-Alien-Hybrid hält Wort, besteigt eine Alien-Kampfmaschine und schießt seinem neuen Freund den Weg frei.

Ob „District 9“ das Zeug zu einem Genreklassiker besitzt, wird sich zeigen. Als kräftiger Kontrapunkt zu der uns bevorstehenden 3 D-Invasion im Kino funktioniert er allemal. Was mir am meisten Spaß gemacht hat, war die lässige Schnodderigkeit des Plots: die Menschen sind nicht böse, sondern überwiegend dumm, gierig und ignorant. Und über weite Strecken hat man den Eindruck, dass die Überirdischen möglicherweise keinen Deut besser sind, auch wenn sie ganz ‚menschlich’ ihre Kinder lieben.
Sollten wir tatsächlich mal fremden Wesen gegenüberstehen, dann gibt es wohl kein mystisches Erweckungskonzert wie in „Close Encounter of the Third Kind“. Die Fremden werden so aussehen wie in „District 9“.
Warum soll es ihnen besser gehen?

Noten: Klawer = 1,5, BigDoc = 2