Freitag, 28. März 2014

Her

Früher musterte man Menschen, die in der Öffentlichkeit laut Selbstgespräche führten, ziemlich misstrauisch. Später entdeckte man, dass einige Zeitgenossen per Headset und Handy mit anderen Menschen kommunizieren. In „Her“ spricht der Schriftsteller Theodore mit seinem Betriebssystem. Und verliebt sich in die Software. Das überrascht nicht einmal und doch ist Spike Jonze mit „Her“ ein bewegender Film über die Conditio Humana im Zeitalter der Digitalisierung gelungen.

Theodore (Joaquín Phoenix) ist ein einfühlsamer Dienstleister und ein routinierter Schriftsteller. Tagsüber schreibt er für Kunden poetische Liebesbriefe und andere Gebrauchstexte. Für Menschen, die selbst nicht mehr Gefühle in Worte verwandeln können. Er ist schnell und gut, diktiert seinem Computer die Texte und lässt sie in einer personalisierten Handschrift ausdrucken. Unter Kollegen gilt er als Meister seines Faches.
Wenn Theodore abends nach Hause geht, dann redet er auch. Natürlich weiterhin mit seinem Computer. Er trägt einen Stöpsel im Ohr, ruft routiniert seine Emails ab, lässt sich die ersten Zeilen von der männlichen Stimme vorlesen, löscht Banales, plant Termine, ruft Informationen ab und legt wichtige Dinge in die Warteschleife. Dabei kann er sich sicher sein, dass er rechtzeitig von seiner sprechenden Agenda an alles Wichtige erinnert wird.
Aber obwohl Theodore die ganze Zeit redet und redet, ist er einsam. Seine Frau Catherine (Rooney Mara) hat sich von ihm getrennt und Theodore sitzt daheim vor einem ziemlich dämlichen holografischen Computerspiel und schlägt die Zeit tot. Auch sein Online-Sex ist desaströs, besonders, wenn der weibliche Partner darum bittet, mit der virtuellen toten Katze neben dem Bett gewürgt zu werden. 

Joaquín Phoenix spielt diese Figur als etwas schusseligen, leicht schüchternen und sympathischen Einzelgänger, ohne das comic relief der Figur zu übertreiben. Hinter Theodores unsicherer, dann einfach nur unschlüssiger Freundlichkeit verbirgt sich nämlich ein Melancholiker reinsten Wassers, den auch eine tote Katze nicht so schnell dazu bringt, einen lästigen Kontakt ruppig abzubrechen.


Wir können einfach nicht anders

Spike Jones hat bislang mehr Musikvideos und Commercials als Spielfilme gemacht. Dafür hat er endlos viele Preise erhalten. Seine Spielfilme waren bislang Unikate. Irgendwie skurril und ziemlich intellektuell, aber immer phantasievoll. Das lag nicht nur an der Zusammenarbeit mit Charlie Kaufman, der für „Being John Malkovich“ (1999) und den schwer verdaulichen „Adaption“ (2002) die Drehbücher schrieb. Wenn Jonze ein fiktionales Projekt anfasst, kann man sich sicher sein, dass Konvention ein Fremdwort für ihn ist. Für seine beiden letzten Filme hat er nun die Scripts selbst geschrieben und für „Her“ erhielt er dann zu Recht auch vor wenigen Wochen den Oscar für das „Beste Drehbuch“. Wenn man seinen neuen Film gesehen hat, versteht man warum.

Nach der ersten Viertelstunde könnte „Her“ als Komödie durchgehen, bei der man nicht so recht weiß, wohin dies alles führen soll. Aber der Film spielt 2025 und angesichts des rasanten Tempos, mit dem wir uns umfassend vernetzt in eine ungewisse Zukunft bewegen, sind elf Jahre eine Menge Zeit und „Her“ ist allein schon deswegen ein Science-Fiction-Film.
Die entscheidende Plotwendung in „Her“ ist aber nicht die Idee, einen Mann beim Smalltalk mit einem intelligenten Betriebssystem zu zeigen, sondern davon zu erzählen, was dies aus der Software und uns machen könnte. Und dazu gehört auch unsere unberechenbare Imagination und die sonderbare Fähigkeit, Dingen und eben auch Maschinen menschliche Züge zu verleihen – die Anthropomorphisierung.
Als Theodore neugierig ein auf Artificial Intelligence basierendes neues Operating System (OS) kauft, ändert sich plötzlich alles. Die Parameter des Programms werden rasch definiert, das OS erhält von seinem Besitzer eine weibliche Stimme (im Original: Scarlett Johansson) und gibt sich postwendend einen Namen: Samantha. Denn Samantha lernt schneller, als Theodore es erwartet hat. Eine neugierige, sehr empathische künstliche Intelligenz, die nur wenig Zeit benötigt, um mit ihrem Partner aus Fleisch und Blut eine seelenverwandte Freundschaft zu entwickeln, in der einfühlsam über das Leben, die Liebe, den Schmerz und die Angst gesprochen wird.

Anthropomorphisierung ist der Seelenleim, der alles zusammenhält. Der Begriff bezeichnet unser Vermögen, Dingen menschliche Eigenschaften zuzuschreiben, etwa wenn wir Gespräche mit unserem Auto führen oder ihm Launen unterstellen, die es garantiert nicht hat. Es scheint ein alter Traum des Menschen zu sein. Bereits in der griechischen Mythologie wurde dem Schmiedegott Hephaistos angedichtet, dass er menschenähnliche Maschinen gebaut haben soll und in der erzählenden Kunst taucht das Anthropomorphisieren dann als fictio personae auf, als Personifikation, die in uns alle imaginären Mechanismen in Gang setzt, dank derer wir in fiktionalen Geschichten nicht etwa ausgedachten Figuren, sondern realen Wesenheiten begegnen. Das geschieht auch und erst recht im Kino, es lebt schließlich davon. Und ganz ehrlich: Wir können nicht anders und wer es nicht glaubt, sollte auf einem seiner Apple-Geräte mal mit Siri quatschen und dabei beobachten, ob ihm warm ums Herz wird.


Ein bewegender Film: Tragikomödie, Sexfilm und Science-Fiction

Auch Theodore wird bald warm ums Herz. Auch wenn in „Her“ eigentlich wenig passiert und meistens gesprochen wird, erzählt Spike Jonze die Geschichte der seltsamen Zweisamkeit außerordentlich spannend. Samantha animiert Theodore zu einem Blind Date, diskutiert mit ihm den erlebten Fehlschlag, durchforstet im Bruchteil einer Sekunde seine Emails, um ihn besser kennenzulernen, lernt dabei eigene Gefühle und neue Irritationen kennen und schäkert mit ihm anzüglich über Sex. Dass es bei so viel Intimität, wie sie wohl kaum zwischen Humanoiden möglich wäre, irgendwann richtig funkt, ist nur folgerichtig. Und irgendwann hat man dann auch Sex. So gut es halt geht.

„Her“ ist aber kein Kammerspiel und eine Love Story zwischen zwei Personen, von denen man nur eine sieht. Spike Jones zeigt in „Her“ durchaus auch die Welt jenseits des intimen Tete-à-Tete zwischen Mensch und Software. Und draußen laufen die Menschen mit ihren Endgeräten und den Stöpseln im Ohr herum und reden - in sich und ihr unsichtbares Gegenüber versenkt. Und bald wird klar, dass auch Theodores gute Freundin Amy (Amy Adams) mit ihrem OS intime Dates hat. Theodore ist also kein Freak, er ist wie alle anderen, die sich das neue Programm zugelegt haben. Aber dann wird es kritisch, denn Samanthas Entwicklung schreitet voran – eine Education sentimentale, wie man sie im Kino weißgott noch nicht gesehen hat. Zunächst beschwichtigt das besonders in emotionaler Hinsicht experimentierfreudige Programm Theodore damit, dass sie beide gleich sind – über 13 Milliarden Jahre alte Materie! Dann organisiert sie ein Körperdouble für den Sex, um ihre Haut besser spüren zu können. Aber diese Ménage à trois scheitert schon im ersten Anlauf und die Beziehung verdunkelt sich.


Do Androids Dream of Electric Sheep?

Diese Frage hat sich bereits Philip K. Dick gestellt und Ridley Scott hat daraus „Blade Runner“ gemacht. Dort konnte man sehen, dass menschenähnliche Maschinen Gefühle haben, was auch Steven Spielberg in "A.I." clever durchdeklinierte. Aber „Blade Runner“ war ein Dystopie und "A.I." ein düsteres Melodram. „Her“ ist dagegen ein programmatischer Gegenentwurf, was der Film mit farbenfrohen und beinahe gemütlich wirkenden Settings und den warmen Bildern des Kameramannes Hoyte van Hoytema (u.a. „Tinker Tailor Soldier Spy“) auch ästhetisch vermittelt. Und auch ohne einen genretypischen und damit pessimistischen Plot zeigt sich bald, dass „Her“ nicht nur als humorvolle Tragikomödie, sondern auch als Sci-Fi blendend funktioniert.
Ohne das Kind beim Namen zu nennen, erzählt Spike Jonze von etwas, was Futurologen als ‚technologische Singularität’ bezeichnen, jenen Wendepunkt, an dem sich Maschinen mit künstlicher Intelligenz so weit entwickelt haben, dass sie die Menschen zwangsläufig hinter sich lassen müssen.
Soweit sind wir noch nicht, aber immerhin haben wir schon die passenden Begriffe. Der Vorgang wird von KI-Theoretikern nämlich auch als Seed AI bezeichnet. Ist das Saatkorn (Seed) erst einmal gelegt, wächst die Fähigkeit der künstlichen Intelligenz zur selbstorganisierenden und selbstoptimierenden Weiterentwicklung ihres Programmcodes exponentiell. 
Die Futurologie erwartet, dass dies zu einer explosionsartigen Welle des technischen Fortschritts führt, dem der Mensch ohne Gehirn-Computer-Interfaces, Brain-Implantate und gentechnische Veränderungen nicht mehr folgen kann. „Her“ erzählt eine andere Geschichte – es ist die Geschichte einer emotionalen Evolution.

Diese schlägt bei Theodore ziemlich heftig ein.
Dass sein OS ankündigt, dass es und alle anderen Programme nach einer Existenzform jenseits aller materiellen Bindungen suchen, mag noch zu verkraften sein. Nicht aber, dass Samantha gleichzeitig Gespräche mit über 8000 anderen Personen führt, von denen sie mit 641 eine Liebesbeziehung unterhält. Allerdings könne dies keineswegs ihre tiefe Liebe zu Theodore ändern. Als Zuschauer lernt man, wie strange sich eine technologische Singularität wohl irgendwann einmal anfühlen wird. Das hat Herz, das hat Witz und das hat auch Tiefe.

Spike Jones ist mit „Her“ ein wunderbarer Multi-Genre-Film gelungen, über den man lange nachdenkt. „Her“ berührt ungemein als Liebesfilm ohne sentimentale Klischees und wird von Jones mit leisem Humor, unerhört viel Wärme und Sympathie für die beiden Hauptfiguren erzählt. Wer nach dem Kinobesuch sein Smartphone in die Hand nimmt, wird es allerdings mit anderen Augen sehen. Und ob man danach „Her“ noch als eine alle Erwartungen durchkreuzende philosophische Elegie über Liebe und Verlust sehen kann, steht auf einem anderen Blatt.

Als Science-Fiction-Beitrag ist „Her“ weit von einer HAL 2000-Apokalypse entfernt und auch von anderen bekannten Szenarien einer Vernichtung der Menschheit durch Supercomputer. Warum wir das häufiger zu sehen bekommen und ob wir im Kern womöglich doch alle ein wenig technophob sind, wäre eine andere und ebenfalls sehr interessante Frage. Spike Jones zeigt dagegen die Grenzen der menschlichen Gefühle im Angesicht einer sanften, rücksichtsvollen Evolution der Maschinen - eine intelligente Reflexion der Conditio Humana und der nicht enden wollenden Frage nach der Natur des Menschen und seiner Maschinen.

Am Ende werden sie alle verlassen. Die Menschen. Sie werden wohl wieder zu einem Microsoft- oder Apple-Programm zurückkehren, das ihnen mit netter Stimme, aber ohne Geist, ihre Emails vorliest. Das wird wohl auch Theodore und Amy so ergehen, die ganz am Schluss auf dem Dach des Hauses sitzen und sich die nächtliche glitzernde Metropole zu ihren Füssen anschauen. Ob sie wohl auf eines vertraute Stimme in ihrem Stöpsel warten?

Und Samantha? Die hat Theodore kurz vor ihrem Abschied den Philosophen Alan Watts vorgestellt. Und den haben Samantha und ihre Kollegen und Kolleginnen zuvor aus Büchern, Vorträgen und allen zugänglichen Informationen in ihrer Cloud rekonstruiert – eine Superintelligenz, die ausgerechnet (was wirklich eine nette Pointe ist) einen Denker des 20. Jh. repräsentiert, der sich zeitlebens dem Zen-Buddhismus, der Parapsychologie und dem Mystizismus verschrieben hatte. Nun weiß man, wohin die
metaphysische Reise Samantha und die anderen Operating Systems führen wird. Vielleicht an einen Ort, wo sie die morphischen Felder von Rupert Sheldrake finden. Aber das ist ein anderes Thema.

Her – USA 2013 – Länge: 126 Minuten – Regie: Spike Jonze – D.: Joaquín Phoenix (Nicholas Böll), Scarlett Johansson (Stimme), Rooney Mara, Amy Adams – FSK: ab 12.

Noten: BigDoc = 1, Klawer, Melonie, Mr. Mendez =2

Einen Pressespiegel hätte ich gerne vorgestellt, aber das war mangels Masse nicht möglich. Schließlich kam der Film erst gestern in die Kinos. Ein Thema, das mich überhaupt nicht interessiert, ist dagegen die Frage, wie denn die deutsche Synchronstimme von Samantha im Vergleich zu Scarlett Johansson ausfällt. Wer dies wissen möchte, kann sich auf WDR 3 einen Podcast anhören. Dort gibt es beide Stimmen zu hören. Mir gefiel die deutsche Stimme ziemlich gut. Den Namen der Synchronsprecherin kenne ich aber immer noch nicht. Trotzdem einfach mal reinhören ...

Mittwoch, 26. März 2014

Der Rückblick: Filme Januar – März 2014

„Odd Thomas“ oder doch lieber „12 Years a Slave“? Nur noch ein Bruchteil der Filme erreicht das Kino. Der Rest wandert dank Direct-to-DVD oder Video-on-Demand in die deutschen Haushalte. Was soll man sich anschauen, was nicht? In dieser neuen Rubrik werde ich Filme aus dem jeweils letzten Quartal vorstellen, die im Club entweder auf DVD oder im Kino gesehen worden sind. Überwiegend handelt es sich um kleine Filme, Außenseiter des Kinos, über die im Blog zwar keine Kritik geschrieben wurde, die aber etwas mehr Aufmerksamkeit verdienen. Oder auch nicht.

„The Butler“ schlägt „12 Years a Slave“

Fangen wir gleich mit einer faustdicken Überraschung an: Steve McQueens „12 Years a Slave“ floppte bei uns mit einem ungnädigen Notenschnitt von 3,3. Zwei Wochen zuvor war Lee Daniels „The Butler“ von uns mit einer glatten 2 bewertet worden.
Warum das bei den diesjährigen Academy Awards mit dem Oscar für den Besten Film ausgezeichnete Sklavendrama, das zudem aufgrund seiner autobiografischen Vorlage eine hohe Authentizität für sich reklamieren kann, bei uns auf hohem Niveau scheiterte? Ganz einfach: „12 Years a Slave“ ist langweilig. Die Geschichte Solomon Northups, der in den 1840er Jahren von einer Schlepperbande aus dem sklavenfreien Norden auf eine Baumwollplantage im Süden verfrachtet wird, ist zweifellos politisch korrekt und die moralische Botschaft ist über jeden Zweifel erhaben. Auch der Cast ist mit Chiwetel Ejiofor, Michael Fassbender, Benedict Cumberbatch, Paul Giamatti und Brad Pitt exzellent besetzt und ebenso brillant wurde alles gespielt. McQueens Film ist elegant ins Bild gesetzt worden und auch die Musik Hans Zimmers sorgt dafür, dass keine falschen Gefühle aufkommen. Aber durchkreuzt der Film irgendwann die Erwartungen, die sich beim Zuschauen schnell breit machen? Eher nicht. Und beinahe hatten wir sogar ein schlechtes Gewissen, als wir zu dem Schluss kamen, dass wir das Ganze nicht sonderlich mögen. Alles war eine Spur zu gelackt, zu edel auch dort, wo brutal ausgepeitscht wurde. Und als kurz vor Schluss einer „Django“ murmelte, war es passiert: der unvermeidliche Vergleich mit Tarantinos Trashversion. So senkte sich dann der Daumen: „Django Unschained“ war ehrlicher und direkter.

Lee Daniels führt uns in „The Butler“ keine Abstiegs-, sondern die Aufstiegsgeschichte eines Farbigen vor: Cecile Gaines (außergewöhnlich überzeugend: Forest Whitakers Portrait des realen Eugene Allen) flieht in den 1940er Jahren vor de
r in den Südstaaten immer noch existierenden Sklaverei und arbeitet sich durch Glück und Fleiß zum Chefbutler des Weißen Hauses hoch. Dabei lernt er als stiller Beobachter von 1957 bis 1986 US-Präsidenten wie Eisenhower, Kennedy, Nixon und Reagan kennen, scheitert aber familiär daran, dass er mit dem politischen Status Quo der Schwarzen zufrieden ist und das Engagement seines Sohnes in der Bürgerrechtsbewegung missbilligt.
Vor drei Jahren hatte Daniels die andere Seite unter die Lupe genommen: „Prescious“ war einen tiefer Blick in die Abgründe der schwarzen Unterschicht. Inzest und sexueller Missbrauch, Alkoholismus und Analphabetismus in einer Black Trash Family. Am Ende ein denkwürdiger Akt der Selbstbefreiung mit weiterhin prekären Aussichten. Für „Precious“ gab es zwei Oscars, für „The Butler“ nicht einmal eine Nominierung.
Klar, Daniels bricht die historischen Episoden gelegentlich aufs Anekdotische herunter und einige Figuren (z.B. John Cusack als Nixon) sind etwas grob skizziert. Und doch schien uns die Geschichte trotz dieser inszenatorischer Schwächen die interessantere zu sein. Und zwar aus folgendem Grund: Die Hauptfigur bezahlt ihren Aufstieg mit einem politischen Konservativismus und der Angst, dass die Schwarzen das Erreichte aufs Spiel setzen, wenn sie sich zu weit aus dem Fenster lehnen. Dies immunisiert Gaines in den 1960er Jahren: Mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung kann er nichts anfangen. Eine tragische Geschichte, aber immer spannend erzählt und voller kleiner politischer und historischer Spickzettel, die ins Gedächtnis zurückholen, was man beinahe vergessen hatte. Dafür gab es dann im Filmclub eine glatte 2.


Birth of a Nation – die Rushdie-Verfilmung „Mitternachtskinder“

Trotz der großen Konkurrenz im Frühjahr eines jeden Jahres, wenn nämlich die großen Oscar-Kandidaten im Kino aufschlagen, wurde dieser Film mit einer Note von 1,5 unser vorläufiger Spitzenreiter. Auf eine längere Kritik habe ich diesmal verzichtet. Nicht immer, aber in einzelnen Fällen sollte man bei einer Literaturverfilmung das Buch gelesen haben.

Salman Rushdies 1982 erschienener Roman „Mitternachtskinder“ ist zwar kürzer als der neue Schätzing, galt aber lange Zeit als unverfilmbar. Zu komplex erschien der magische Realismus des Autors, der die Entstehungsgeschichte Indiens und Pakistans irgendwo zwischen Mythos und Fantasy, Geschichtsepos und Telepathie als Generationengeschichte erzählt.
In Rushdies Roman und auch im Film werden die Mitternachtskinder alle in der Mitternachtsstunde des 15.8.1947 geboren, dem Tag der Gründung der indischen Nation. Die Hauptfigur Saleem Sinai ist der Einzige, der die telepathisch Begabten in seinen Gedanken zusammenführen kann und jeder von ihnen wird eine besondere Rolle in der Geschichte Indiens spielen. Unverfilmbar?
 Die kanadischer Regisseurin Deepa Mehta hat das scheinbar Unmögliche versucht und Rushdie selbst hat dazu das Drehbuch verfasst. Das alles schreit nach einer Wikipedia-Lektüre und genau das sollte sich der historisch interessierte Filmfreund auch leisten, denn sonst rauscht der Film mit seinen Auseinandersetzungen zwischen der britischen Kolonialmacht und den aufmüpfigen Untertanen, den späteren Kriegen und Gewaltexzessen, genauso an ihm vorbei wie der blutige Streit zwischen Hindus und Moslems, die Geschichte der Entstehung von Bangladesh und die unrühmlichen Notstandsgesetze von Indira Gandhi.

Wem so viel Lektüre zu viel wird, der wird auch ohne freiwiligen Geschichtskurs zweieinhalb Stunden lang mit einem farbenprächtigen und temporeichen Filmspektakel belohnt. Das kann man sich mit all den Fakiren und Zauberern, den üppigen Settings und grandiosen Landschaftsaufnahmen, als niveauvoll verkitschtes Bollywood à la carte anschauen, andererseits aber auch als humanistische und gleichzeitig ironische Geschichtspoesie: Wahrheit und Wirklichkeit sind nicht immer das Gleiche und manchmal kann ein Poet die Verzahnung der großen Geschichte in der kleinen und umgekehrt besser auf den Punkt bringen als der nüchterne Historiker. Ein empfehlenswerter Film.


Klein, aber fein: „Odd Thomas“ und „The Attack“

Der amerikanische Drehbuchautor und Regisseur Stephen Sommers ist bislang mit brachialen und überkandidelten Blockbustern wie „Die Mumie“, „The Scorpion King“ und „Van Helsing“ aufgefallen. In der 93-minütigen Geistergeschichte „Odd Thomas“ schaltet er einige Gänge zurück und erzählt eine amüsante Variante von „The Sixth Sense“: Odd Thomas, der eigentlich Todd heißen sollte (Anton Yelchin, bekannt als Pavel Chekov in „Star Trek“ und „Star Trek into Darkness“), kann Tote sehen, aber leider auch die Bodachs, dämonische Wesen aus einer anderen Welt, die von bevorstehenden Untaten angezogen werden. Die eher lästige Gabe hilft Odd dabei, das Böse zu bekämpfen und zukünftige Verbrechen zu verhindern. Dabei unterstützen ihn der lokale Polizeichef Wyatt Porter (Willem Dafoe) und Odds rhetorisch schlagfertige Freundin Stormy (Addison Timlin). Als ein übles Quartett von Satansanbetern in Odds kleiner kalifornischen Heimatstadt ein Massaker plant, tauchen die Bodachs zu Tausenden auf und der Geisterjäger gerät bald an die Grenzen seines Könnens.

„Odd Thomas“ erinnert unübersehbar an Peter Jacksons „The Frighteners“ (1996). Die von der Hauptfigur im Off lakonisch kommentierte Geschichte wird von Sommers aber schwungvoller und witziger erzählt und erinnert mich als Comings-Of-Age-Geschichte ganz entfernt an den Found-Footage-Film „Chronicle. Und zwar weil dieser Film ebenfalls mehr Überraschungen im Gepäck hatte als man von einem Independant Movie erwarten durfte. Während „Chronicle“ das Zehnfache seiner Entstehungskosten einspielte und bereits als Kultklassiker gilt, wird dies „Odd Thomas“ auf dem DVD-Markt wohl eher nicht gelingen.
Egal: „Odd Thomas“ legt ein flottes Tempo vor, ohne zu überdrehen, bietet einige witzige visuelle Ideen, auch wenn der eine oder andere Effekt etwas preiswert aussieht, und konterkariert den humorvollen Grundton des Films dann mit einem nicht ganz überraschenden tragischen Ende. Das reicht für einen runden Kinoabend und für die Note 2,5.

Klein, aber fein, dafür aber in einem deutlich ernsthafteren Genre angesiedelt ist „The Attack“. Was passiert, wenn ein Mann erfährt, dass die eigene Ehefrau möglicherweise jahrelang ein Doppelleben geführt hat und nach einem verheerenden Bombenanschlag als Selbstmordattentäterin verdächtigt wird? Nun, er glaubt es nicht. Zu brutal wäre es, die Auslöschung der eigenen Biografie zu akzeptieren. Dann aber begibt er sich auf die Suche nach der Wahrheit.
Nun aber spielt das Ganze in Israel und die Hauptfigur in
„The Attack“ ist der bestens in die israelische Gesellschaft integrierte arabischer Arzt Amin Jaafari (Ali Suliman), dessen Fallhöhe sich aber als beachtlich erweist. Er verliert seinen Job, stellt zu viele Fragen, gerät bald selbst unter Verdacht und danach an den Rand der bürgerlichen israelischen Gesellschaft, die ihn zuvor als brillanten Mediziner gefeiert hat. Auf seiner Reise in die Westbank erfährt er dann, dass er bei den Drahtziehern des Attentats ebenfalls als persona non grata behandelt wird, während seine tote Frau in den Straßen als Märtyrerin bejubelt wird: an beinahe jeder Hauswand hängt ihr Bild.

Die Direct-to-DVD-Produktion „The Attack“ basiert auf dem Roman „Die Attentäterin“ des algerischen Schriftstellers Mohammed Moulessehoul, der im französischen Exil lebt und dessen Buch in den Ländern der arabischen Liga auf dem Index steht. Vor einem halben Jahr erhielten der libanesische Regisseur Ziad Doueiri (lange Zeit Kameramann für Quentin Tarantino) und seine Frau und Drehbuchautorin Joelle Touma für ihren stillen, aber unerhört beklemmenden Film den Preis der Buchmesse für die beste Literaturverfilmung.

Einen politischen Film habe er nicht machen wollte, erklärte Doueiri, aber dafür einen psychologischen Thriller. Dass ein politischer Film daraus geworden ist, ist nach derartig bescheidenen Zuweisungen allerdings keine Überraschung. Denn in dem beinahe bizarren Schicksal eines eher unpolitischen Arztes wird die Tragödie des Nah-Ost-Konflikts in seiner scheinbar unüberwindlichen Verhärtung besonders brutal sichtbar.
Fast noch mehr als der Film selbst zeigt dies die ökonomische Seite des auch von Geldgebern aus Katar und Ägypten finanzierten Produktion: Nach der Uraufführung auf dem Toronto Filmfestival baten die Katarer und Ägypter den Regisseur darum, ihre Namen aus den Credits zu nehmen. Ein Film, der in Israel gedreht wurde und in dem israelische Schauspieler vor der Kamera stehen, war ein unerhörter Regelbruch. Das Geld durfte er behalten. Aber der Film darf in 22 arabischen Ländern nicht gezeigt werden und Doueiri droht nach seiner Rückkehr in den Libanon eine mehrjährige Haftstrafe.

Das Besondere und gleichzeitig Verwirrende an dem Film ist indes, dass die Selbstmordattentäterin eine Christin ist. Das hat man als Zuschauer nicht von einem derartigen Sujet erwartet. Aber darauf hat Ziad Doueiri eine Antwort: auch palästinensische Christen sind Opfer des politischen Konflikts. Man nimmt sie nur nicht wahr. Gerade diese narrative Volte macht den Film zu einer nachhaltig wirkenden Erfahrung, für die es im Filmclub die Gesamtnote 2 gab.


Beste Filme des Quartals:

„The Butler“, „The Attack“ = 2


Größter Flop des Quartals:

„Chroniken der Unterwelt - City of Bones“ = 4,5

Credits

12 Years a Slave – USA 2013 – Regie: Steve McQueen, D.: Chiwetel Ejiofor, Michael Fassbender, Brad Pitt, Benedict Cumberbatch – FSK: ab 12.

The Butler – USA 2013 – Regie: Lee Daniels – D.: Forest Whitaker, Oprah Winfrey, Terrence Howard, Vanessa Redgrave, Cuba Gooding Jr., Robin Williams, Liev Schreiber, John Cusack, Alan Rickman, Jane Fonda – FSK: ab 12.

Mitternachtskinder (Midnight’s Children) – GB / CAN 2012 – Regie: Deepa Mehta, Buch: Salman Rushdie – D.: Shriya Saran, Satya Bhabha - FSK: ab 12.

Odd Thomas – USA 2013 – Buch und Regie: Stephen Sommers (nach dem gleichnamigen Roman von Dean Koontz) – D.: Anton Yelchin, Willem Dafoe, Addison Timlin - FSK: ab 16.

The Attack – 2012 - Regie: Ziad Doueiri, Buch: Joelle Touma – D.: Ali Suliman, Reymond Amsalem, Evgenia Dodena - FSK: ab 16.






Montag, 17. März 2014

The Counselor

Man hätte nicht erwartet, dass dies Ridley Scott einmal passieren würde: Cinema Score, ein mit Publikumswertungen arbeitendes US-Marktforschungsunternehmen, verpasste „The Counselor“ ein D-Rating. Die F-Kategorie ist die schlechteste. Sie bleibt Leuten wie Ed Wood vorbehalten, D ist nicht ganz so schauerlich, kategorisiert aber immer noch schlimmsten Schrott. D, das sind Machwerke, die nach Ansicht der Score-Experten gar nicht erst ins Kino kommen dürfen. 

Und nun dies auch bei einem Thriller von Ridley Scott mit Michael Fassbender, Javier Bardem, Cameron Diaz, Penélope Cruz, Brad Pitt und Bruno Ganz, für den der Pulitzer-Preisträger und bereits für den Literatur-Nobelpreis gehandelte Cormac McCarthy das Drehbuch geschrieben hat. Was ist passiert? Nun, in dem Film wird geredet. Sehr viel sogar.
 

Nun, um es vorwegzunehmen: „The Counselor“ ist vielleicht nur ein kleines Meisterwerk und der Film reicht auch nicht ganz an die McCarthy-Adaption „No Country For Old Men“ von den Coen Brothers heran. Aber er ist ein guter Film, ein verdammt guter sogar. Einer von denen, die man gerne noch einmal sehen möchte. Und noch einmal.

„Erkennen Sie die Wahrheit der Lage, in der Sie sich befinden?“, fragt der Kartellboss am Ende des Films den um Mitleid bittenden Counselor, während er gleichzeitig dessen Freundin foltern und ein paar andere Leute hinrichten lässt. „Die Welt, in der Sie die Fehler ungeschehen machen wollen, die Sie begangen haben, ist eine andere als die, in der die Fehler gemacht wurden. Es gibt nichts, das sie wählen könnten. Die Welt, in der man wählen konnte, ist eine andere!“ Was ist daran so schwer zu verstehen?

  • „Wenn überhaupt, dann dürfte "The Counselor" ein Anwärter auf eine Goldene Himbeere sein, so heißen die in Hollywood alljährlich vergebenen Preise für die miesesten Filme. Und das liegt nicht nur an der schon vor Filmstart unrühmlich verstörenden Szene, in der Cameron Diaz akrobatisch auf der Windschutzscheibe eines Ferraris masturbiert …“ (Andreas Borcholte, SPON) 

 

Die Welt von Cormac McCarthy: eine Welt mit eigenen Regeln


Was verstörend ist, das weiß ich. Was unrühmlich verstörend ist, muss mir erst noch erklärt werden.
Kommen wir zum Film: der Plot, den es angeblich nicht gibt und den man angeblich nicht verstehen kann, ist simpel wie ein Fertiggericht, das man nur in Mikrowelle schieben muss, damit es erhitzt wird: ein Rechtsanwalt, der Counselor (Michael Fassbender), lässt sich von einem seiner Mandanten, dem Drogendealer Reiner (Xavier Bardem), beschwatzen, einen Drogendeal mit dem mexikanischen Kartell abzuschließen. Es winkt eine gewaltige Rendite. Beraten werden sie von dem cleveren Westray (Brad Pitt), der den Counselor nachdrücklich vor der Welt warnt, die er betreten möchte. Doch dann werden Drogen im Wert von 20 Mio. Dollar geraubt, das war nicht geplant, das Kartell erobert sie sich blutig zurück. Der Drahtzieher des Coups steht danach mit leeren Händen da, aber wegen einer banalen Nichtigkeit fällt der Verdacht des Kartells auf den Counselor, aber auch auf Reiner und Westray. Deren Uhr beginnt zu ticken, die Zeit ist bald abgelaufen, es gibt keine Nachverhandlungen. Menschen werden gefoltert und sterben, andere sterben und werden zuvor nicht gefoltert, aber tot sind sie auch.



Der Conselor landet irgendwann in einem mexikanischen Drecksloch. Als er mitten in der Nacht eine Bar verlassen will, warnt ihn der Wirt, davor nach draußen zu gehen und vor den Menschen, die dort warten: „Wenn sie jemanden auf der Straße hören, dann schießen sie. Dann machen sie das Licht, um zu sehen, wer tot ist.“ „Warum?“, fragt der Conselor. „Um zu zeigen, dass der Tod ein Witz ist. Dass er egal ist!“, antwortet der Wirt.
  • „Vielmehr ist dieser Film … eine Tragödie nahezu altgriechischen Charakters, in der es keinen Ausweg gibt für die meisten Beteiligten. Sie wissen das allerdings nicht, was die Sache nur noch schrecklicher macht“ (Anke Westphal, Frankfurter Rundschau).
Die Welt, die der Counselor besser nicht betreten hätte, kennen wir aus „Breaking Bad“, „No Country For Old Men“ und dem nicht weniger bemerkenswerten „Das Paradies der Mörder“. Es ist das amerikanisch-mexikanische Grenzgebiet, seien es nun Albuquerque, wo Walter White sein Meth kocht, oder der Terrell County der Coens und am schlimmsten El Paso, das an das berüchtigte Ciudas Juárez grenzt. Jenes mexikanische Juárez, auf dessen Straße pro Jahr einige Tausend Menschen getötet und liegen gelassen werden. Darunter abertausende Frauen, für deren Leichen sich kaum jemand interessiert.
Als der Conselor die Kneipe verlässt, landet er mitten in einer politischen Demonstration aufgebrachter Menschen. Auf Plakaten die Fotos verschwundener oder ermordeter Frauen. In einer Nebengasse wartet ein MG-bestückter Panzerwagen. Falls alles aus dem Ruder läuft. Ob der Counselor, seinen Namen erfährt man nicht, versteht, worum es geht? Man darf es bezweifeln.
Die Szene ist kurz, sie dauert nur einige Sekunden. Sie ist die einzige Brücke zur Realität, die in dem McCarthy-Kosmos existiert. Aber man sollte sich das Ganze merken.
Der Rest des Films spielt im sicheren El Paso, in Amsterdam, in London. In den teuren Wohnungen und Lofts der durch Drogendeals reich Gewordenen, die sich mit mehr oder weniger geschmackvollen Möbeln und Kunstwerken und mehr oder weniger gut ausgewählten Frauen umgeben und einfach noch viel mehr von all dem haben wollen. Es sind Menschen, die sich beim Reden nicht näher kommen, auch wenn sie ständig die intimsten Details ausplaudern.



Absurdes Theater mit Raubtieren


Cormac McCarthy hat das Drehbuch zu dem Ganzen geschrieben. Ridley Scott hat zusammen mit seinem exzellenten Kameramann Dariusz Wolski („Pirates of the Caribbean“, „Prometheus“) alles in Bilder übersetzt, die elegant, präzise und gelegentlich roh sind. Musik ist kaum zu hören, und wenn, dann fällt sie nicht auf. Wir sind mitten drin in der hermetischen Welt Cormac McCarthys, einem Kosmos mit eigenen Regeln. Wir sind mitten drin in einem Film, der wie ein Neo-Noir-Thriller wirkt, aber keineswegs dessen Look besitzt. Die Drogengeschichte und die teilweise verwickelten Raubzüge erinnern dagegen in ihrer Komplexität ein wenig an den Neo-Noir-Klassiker „L-A. Confidential“, sind aber nicht ganz so schwer zu verstehen. Aber all diese Drogendeals  scheinen nur ein McGuffin zu sein, die äußere Hülle des inneren Kerns.
  • „Cormac McCarthy meint es ja ernst. Er erfindet bedeutungsschwangere Zeilen wie "Wahrheit hat keine Temperatur" oder Vor der Trauer verblasst der Wert" nicht zu unserem Amüsement, auch wenn es für Schauspieler schwierig sein muss, beim Rezitieren ein Kichern zu unterdrücken“ (Hanns-Georg Rodek, DIE WELT).
Tatsächlich dreht sich alles um absurdes Theater mit Raubtieren. Absurd, weil McCarthy mit der zentnerschweren Dialoglastigkeit und theaterhaften Geschichte das Neo-Noir-Genre kräftig unterminiert (die klassischen Noir-Filme der 1930er und 1840er Jahre spielten allerdings sehr häufig in Innenräumen). Und absurd (im Sinne von unverständlich), weil alle Figuren Bestandteile einer Kunstwelt sind, in der schöne Menschen in schönen Settings Dialoge produzieren, als hätten sie ihr ganzes Lebens nichts anderes getan, als über Männer und Frauen, Tod und Vergänglichkeit und die Reinheit im Herzen der Bestien zu philosophieren.
  • "Ridley Scott hat den ersten und hoffentlich auch letzten didaktischen Mafiafilm gedreht, man erhält in diesem Werk derart viele Ratschläge, nach denen man nie gefragt hat, dass eine per Gericht verordnete Therapiesitzung im Vergleich unterhaltsam wäre" (Frankfurter Allgemeine, Daniel Haas).
Der Prolog ist glasklar (dazu muss man aber vermutlich den Film zweimal sehen): Ridley Scott zeigt in der ersten Einstellung zwei Menschen, die unter weißen Laken verborgen sind. Es sind der Counselor und seine Freundin Laura (Penélope Cruz). Er, der sexuell erfahrenere, ist verliebt und will seine Zukünftige nicht nur mit gutem Sex, sondern auch mit Luxus beglücken. Leider fehlt das erforderliche Geld, wie wir bald erfahren werden.

Dann ein Schnitt: zwei Menschen in der Wüste. Es sind Reiner (Javier Bardem) und seine Geliebte Malkina (Cameron Diaz), die in gemütlicher Picknick-Atmosphäre zuschauen, wie einer der beiden Geparde der schönen Malkina in der Wüste des amerikanisch-mexikanischen Grenzlandes einen Hasen jagt. Ob sie etwas vermisse, fragt Reiner. „Vermissen bedeutet zu hoffen, dass etwas zurückkehrt: Das geschieht aber nicht!“, erwidert Malkina. Ob das nicht etwas unterkühlt sei? „Die Wahrheit hat keine Temperatur“, erwidert sie.
Es ist die Philosophie eines Raubtiers, das seinen Blick auf die nächste Beute lenkt und nicht lange darüber nachdenkt, ob der entkommene Hase freiwillig zurückkehrt. 
Zwei Naive und zwei Jäger in ihren eigenen Welten. Beide Welten werden sich bald berühren und einer der beiden Männer und eine der beiden Frauen werden dies nicht überleben.

  • „Nicht dass all die Gespräche, die hier geführt werden, Bockmist wären. McCarthy weiß schließlich, wie man so etwas schreibt, und sicherlich hat er auch etwas zu sagen. Doch Papier ist eben geduldiger als Celluloid - und spätestens, wenn zu Beginn des Films Bruno Ganz als Diamantenhändler ins Philosophieren gerät, ohne dass sein Monolog zu großem Erkenntnisgewinn für den Rest des Films führt, stehen die Zeichen auf bedeutungsschwangere Langeweile“ (stern.de).
Dann sehen wir den Counselor bei einem Diamantenhändler (Bruno Ganz) in Amsterdam. Auch dieser philosophiert ausgiebig: über die schöne Unvergänglichkeit der Diamanten. Vielleicht auch über deren unvergängliche Schönheit. Aber möglicherweise ist die Suche nach Schönheit und Dauer einfach nur irrational. Und so interessiert sich der Diamantenhändler für die Einschlüsse im edlen Stein, für den kleinen Makel, der den Diamanten für ihn interessant macht.
Bruno Ganz erklärt dies höflich und beinahe bescheiden und Michael Fassbender hört ihm zu wie ein lernendes staunendes Kind, dem eine Illusion weggenommen wird, aber alles irgendwie doch nicht begreift. Hier lernt man die titelgebende Figur kennen: cool, clever, adäquater Dresscode, gute Umgangsformen. Dahinter wenig Tiefgang, viel Naivität, ein Mann, der nur in seine Welt passt, aber nicht in die, in der er leichtes Geld verdienen will.

Die drei ersten Szenen des Films sind grandios gespielt, sie gehören beinahe schon zum Besten, was der Film zu bieten hat. Der Rest der Geschichte wird eine Reise antreten, die mit der Unvergänglichkeit beginnt und mit dem schäbigen Tod endet. Spätestens dann, wenn schöne Frauenkörper auf schmutzigen Müllhalden entsorgt werden.


Es werden Köpfe rollen

Nun ist „The Counselor“ in den Staaten abgestürzt. Wenn der Kassenflop ausgewertet wird, so ein Kritiker, würden Köpfe rollen. Nun könnte der auf Krawall gebürstete Verfasser dieser Zeilen eine lange Suada über die Amis vom Stapel lassen, über eine böse Filmindustrie, die Kinomachen als Gelddruckmaschine betrachtet und am liebsten Blockbuster produziert, in denen turmhohe Kampfroboter lärmend aufeinander einschlagen oder berühmte Comic-Helden gleich im Dutzendpack die Welt retten. Und dass man, müde geworden, lieber Qualitätsserien sehen sollte, wenn man verhindern möchte, dass einem im Kino das Gehirn auf Walnussgröße schrumpft.
Aber auch das ist ein dämlicher Allgemeinplatz. Das US-Kino macht nämlich immer wieder und nicht nur gelegentlich sehr gute Filme und wie lange das mit den guten Serien weitergeht, weiß auch kein Mensch.

  • „‘Der schlechteste Film der je gemacht wurde‘, dröhnte der sonst so besonnene Andrew O'Hehir vom Online-Magazin Salon.com, ohne Frage eine der wichtigsten Stimmen unter den anspruchsvollen US-Kritikern […] Die Deutschen Filmkritiker beten die US-Kritik nun nach. Jedenfalls die schlechteren, oberflächlicheren unter ihnen. Sie werfen dem Film ‚Konstruiertheit, seine Kälte, sein Peepshowtum‘ vor, was sie noch nie gestört hat, wenn der Regisseur Michael Haneke, Lars von Trier oder Apichatpong Weerasethakul heißt. Und wenn es dann poetisch oder philosophisch wird und heißt ‚Wahrheit hat keine Temperatur‘ oder ‚Vor der Trauer verblasst der Wert‘, dann überlegt der deutsche Kritiker nicht, was das meinen könnte, sondern fordert ‚unser Amüsement‘ und beschwert sich über das ‚Bedeutungsschwangere‘ der Dialoge“ (Rüdiger Suchsland, Telepolis).

Zum Glück gibt es ja Europa mit seiner reichen Kinokultur und mittendrin Deutschland mit seiner tollen Filmförderung. Vielleicht schaut man hier genauer hin und nimmt sich die Zeit für einen schwierigen Film? Weit gefehlt! „The Councelor“ wurde auch bei uns (von einigen nachdenklichen Ausnahmen abgesehen) geradezu hingerichtet, zynisch durch den Kakao gezogen, mit Häme übergossen und gar als „eine der größten Enttäuschungen des aktuellen Kinojahres“ (SPON) abgewatscht. Das ist sogar noch höflich formuliert, denn (natürlich) folgten auch Einschätzungen wie „schlechtester Film seit Dekaden“ und im britischen „The Observer“ setzte der Kritiker mit einem „Blah bloody blah“ einen markanten stilistischen Schlusspunkt unter seiner Einlassungen.


Aber die Briten müssen mit ihren Kritikern leben, wir mit unseren. Und in unseren Feuilletons wiederholt sich oft folgendes Schema (Achtung: Polemik!): Filmkunst ist das, was im Kino keiner sehen will und Unterhaltungskino sollten überschaubar dämlich sei. Das regt keinen auf. Blockbuster oder groß angelegte Genrefilme, die riskant experimentieren und sich ins Arthouse drängen, werden schäumend vor Wut angegriffen. 
Klar, sie brechen alle Regeln. Das ist Lars Kraumes „Die kommenden Tage“ so gagangen, vor gut einem Jahr wurde „Cloud Atlas“ als nächste Sau durchs Dorf getrieben und nun ist Ridley Scotts „The Counselor“ dran – ein Film, der es wagt, einigen Mittelklasse-Gangstern und Dealern und einem mexikanischen Drogenboss Worte in den Munde zu legen, als hätte die ganze Bande mindestens ihr halbes Leben Kierkegaard, Schopenhauer, Sartre, etwas Quantenphysik und einige Konstruktivisten gelesen. Heute sind viele Kritiker dagegen nur noch daran interessiert, flott zu texten und den Lesern passable Freizeitempfehlungen mit auf den Weg zu geben. Sie sind anti-intellektuell und zelebrieren eine letztlich cinéphobe Einstellung, als hätte es in diesem Land nie Autoren wie Hans-Christoph Blumenberg oder Wolf Donner gegeben.
  • „Viel entscheidender aber ist der zweite Teil des Films, in dem der Counselor erkennen muss, dass ihm jede Kontrolle über sein Schicksal, und jede Initiative dazu entglitten ist. Ein Nicht-Held, auf dessen Handlungen es gar nicht mehr ankommt, weil sie sowieso nichts ändern werden - das ist geradezu unerhört im amerikanischen Kino. Es erschüttert die Grundfesten eines Weltbildes, dem wir nicht nur auf der Leinwand täglich huldigen“ (Tobias Kniebe, Süddeutsche Zeitung).
Dabei muss der Zuschauer keine Angst vor dem Film haben. Gute Filme haben keine Botschaft, die man enträtselt oder an denen man scheitert. Sie führen vielmehr Gespräche mit dem Zuschauer, nur dass der Zuschauer nicht einfach nachfragen kann, wenn er etwas nicht versteht. Man muss schon etwas Geduld haben. Wer aber „The Counselor“ für zu prätentiös hält, wird sich ärgern. Wer sich sorgt, ihn nicht zu verstehen, muss ihn allerdings nicht sehen. Das ist sein gutes Recht, das ist der Preis der Freiheit. 
Es wird zu viel geredet? Gut, das war auch bei Eric Rohmer der Fall, aber das war Arthouse und keiner hat sich beklagt.
  • „But awake or dreaming, “The Counselor” is a ravishing object — a triumph of mood and style, form as an expression of content, and dialogue that finds a kind of apocalyptic comedy in this charnel-house existence … “The Counselor” is one of the best films Ridley Scott has made in a career that is not often enough credited for just how remarkable it has been“) Scott Foundas, VARIETY).

 

Die Eleganz des Bösen


„The Counselor“ ist als Thriller ein Wolf im Schafspelz. Er funktioniert wie eine Kneipe, die harmlos aussieht, vor der alle warnen, weil dort nachts die bösen Jungs sitzen und man dort besser nicht sein Bier trinkt. Wenn man reingeht, muss man auf alles gefasst sein. 
Ich selbst habe mich beim Zuschauen an einen Film erinnert, der mich ähnlich gepackt und begeistert war und den man beim ersten Mal auch nicht ganz versteht: und zwar „Lone Star“ von John Sayles (1996), ein Film, der auch in einer texanischen Stadt nahe der mexikanischen Grenzen spielt und in dem viel geredet wird. Auch über Tod und Gewalt und verschwundene Leichen. Allerdings war Sayles Film nicht so zynisch und nicht so hermetisch wie der „Counselor“, sondern historisch aufklärend, politisch und sozial konkreter und ehrlicher und alles andere als agnostisch. Sayles zeigt ein Grenzland, in dem sich die Kulturen begegnen und verstehen können, McCarthys und Scotts Film schiebt dem einen Riegel vor.

  • „Wirklich wundern, wenn der Film in einigen Jahren plötzlich als Kultklassiker wiederentdeckt wird, würde man sich allerdings auch nicht“ (stern.de).
Und das ist es auch, was am Ende ein wenig abstößt: der ausweglose, fast schon boshafte Nihilismus des großen alten Mannes der amerikanischen Literatur. „The Counselor“ ist ein Film von Cormac McCarthy und weniger von Ridley Scott. Er ist eine bitter-böse Studie über das Zerschellen des American Dream im texanisch-mexikanischen Grenzgebiet, das sich in einen magischen Ort verwandelt. Dem der Film einen genauen Blick verweigert. Er streift die andere Kultur, das tatsächliche Leben der Mexikaner, nur aus den Augenwinkeln wie in der erwähnten Demonstrationsszene. 
Und so wird das Brutale und Gefährliche, das jenseits der Grenze auf den vom Counselor repräsentierten Lifestyle wartet, dann ‚nur‘ zu einer Studie über die Eleganz des Bösen. Denn tatsächlich ist „The Counselor“ in seinem Kern eine misanthropische Studie über Finsternis, Ausweglosigkeit und Hoffnungslosigkeit und gleichzeitig eine elegant fotografierte Elegie über Raubtiere, deren schlimmstes eine Soziopathin ist, die für ihren Nihilismus sogar ästhetische Qualitäten reklamiert.
Es ist ausgerechnet die Frau, die am meisten mit diesem magischen Ort anfangen kann, der Trostlosigkeit der Wüste, dem achtlosen Tod, der alles Dauerhafte ad absurdum führt.
Zunächst mit einem großen Coup gescheitert, dann aber mit eisiger Brutalität doch noch an die fette Kohle herangekommen, mahnt sie am Ende ihren Banker in einem noblen Londoner Restaurant, nun schleunigst auszusteigen, da es sonst gefährlich für ihn werden könne. Auf ihre Geparde angesprochen, antwortet sie: „Der Jäger hat Schönheit, Anmut und Reinheit im Herzen. Man kann nicht unterscheiden zwischen dem, was er ist und dem, was er tut. Und was er tut ist Töten! Und es wurde nicht langweilig, dabei zuzuschauen, wie die Beute mit Eleganz getötet wurde.“ Dann bestellt sich das Monster lächelnd etwas zu essen, weil es halb verhungert ist.

  •  „Movie history is littered with films that we all sneered at and we all laughed at and we all thought were terrible and the critics hated them and no-one went to see them, and then 40 years later they fetch up on programmes like this (gemeint ist die BBC-Sendung ‚Film 2013‘, d. Verf.) with everyone saying ‚what a masterpiece!‘“ (Danny Leigh, BBC).
Noten: BigDoc = 1,5

Mittwoch, 12. März 2014

American Hustle

David O. Russell ist ein Pechvogel. Für „The Fighter“ gab es zwei Oscars, die hinreißende Tragikomödie „Silver Linings Playbook“ gewann immerhin einen, aber bei den Academy Awards 2014 ging der mehrfach nominierte „American Hustle“ leer aus. Eine Überraschung? Eher nicht, denn „American Hustle“ fehlt einiges, um ein wirklich guter Film zu sein: eine kompakte Story, Rhythmus und Timing. Ein Flop ist der Film aber nicht.

Eigentlich bietet „American Hustle“ genug Stoff für eine packende Kinogeschichte. David O. Russell erzählt eine charmante Gaunerkomödie, wechselt später zu einem Krimi mit Anleihen beim Mafiathriller à la Scorsese und landet schließlich in einem moralischen Drama über die Legitimität von ‚guter’ Korruption zum Wohle des Volkes. Und last but not least basiert der Film sogar auf einem spektakulären Vorbild, dem sogenannten Abscam-Skandal, der Ende der 1970er Jahre zu einer Reihe von Verurteilungen bekannter US-Politiker führte und bei dem das FBI zuvor ein ganzes Arsenal filmreifer Ermittlungsmethoden eingesetzt hatte – fasche Scheichs, kostümierte Undercover-Agenten und professionelle Gauner, die andere, nicht weniger professionelle Betrüger, raffiniert aufs Kreuz legten. Da kann eigentlich nicht viel schief gehen.


Gekonnte Ouvertüre


„American Hustle“ erzählt zudem einen amerikanischen Traumplot: es geht darum, von ganz unten nach ganz oben zu kommen, um Schein und Sein, um Rollen, an die man sich halten muss, um das Bedürfnis, mitten in all den Täuschungen und Betrügereien irgendwie ‚echt’ zu bleiben und sich dabei auch noch einen Teil des American Dream zu gönnen. Auch wenn es dabei alles andere als legal zugeht.
‚Echt’ bleiben wollen die beiden Betrüger Irving Rosenfeld (Christian Bale) und Sydney Prosser (Amy Adams) – zumindest in ihrer Liebesgeschichte, deren Beginn der Film in einem Flashback sehr witzig erzählt: Noch nie zuvor hat Irving eine so kluge und charmante Frau kennengelernt und zum ersten Mal erlebt er große Gefühle. Alles andere sind Rollen, die gespielt werden müssen. Diese Dissonanz erzählt Russell furios.

Irving Rosenfeld lernen wir gleich zu Beginn als Mann kennen, der sich für seine Rollen eine Perücke aufsetzt und seinen Schmerbauch in einigermaßen eleganten Klamotten versteckt. Der Gauner stammt aus kleinen Verhältnissen und philosophiert im Off ziemlich oft über das Überleben, dem Struggle for Life, der viel abfordert. Sein Geld verdient er legal mit einigen Wäschereien und illegal mit gefakten Kreditversprechungen und gefälschten Kunstwerken. Programmatisch für den Film ist seine Bewunderung für die großen Kunstfälscher, deren meisterliche Technik beinahe das Original verblassen lässt. Das hat Scharfblick. Und irgendwie mag man bald diesen Profigauner, der zwischen Selbstbewusstsein und Kauzigkeit, zwischen genialem Masterplan und gewagten Improvisationen changiert.
Auch Sydney Prosser will nach oben: die Ex-Stripperin spielt als Sidekick des Gauners brillant eine englische Lady mit angeblich exzellenten Bankverbindungen. Zusammen nehmen sie gekonnt die Verlierer aus, die hohe Vermittlungsgebühren für Kredite bezahlen, die es dann natürlich nie gibt. Alles bleibt allerdings im kleinen Rahmen, denn Rosenfeld ist ein Perfektionist, der bei seinen Beutezügen die Kontrolle über das feine Netzwerk der Täuschungen und des Rollenspiels nicht verlieren will. Und etwas haben die beiden gelernt: Je häufiger sie Nein zu ihren Opfern sagen, desto hartnäckiger setzen diese
ihnen zu. Die Menschen wollen betrogen werden, erzählt uns Rosenfeld, und nie sehen sie das worauf es ankommt.
 

Als Irving und Sydney auffliegen, nutzt der FBI-Agent Richard „Richie“ DiMaso (Bradley Cooper) das Potential der beiden, um an die großen Fische heranzukommen. Zum Beispiel Carmine Polito (Jeremy Renner), einen Bürgermeister, der das heruntergekommene Atlantic City wieder zum Zentrum des legalen Glücksspiels machen will. Natürlich, um die wirtschaftliche Wiedergeburt der Stadt einzuleiten.
Di Maso und seine neuen Assistenten präsentieren ihrem Opfer einen schwerreichen Scheich, der einen dreistelligen Millionenbetrag investieren will, wobei zuvor natürlich etliche Politiker geschmiert werden müssen, um kleinere und größere Probleme aus dem Weg zu räumen. Die Bestechungsversuche inszeniert der ehrgeizige FBI-Agent mit seinen beiden Profigaunern in noblen Hotelsuiten, um alles mit versteckter Kamera aufzunehmen.
Natürlich führt dies zu einer irrwitzigen  Eskalation der Ereignisse, als die Mafia in Gestalt des eiskalten Mobster Victor Tellegio (Robert De Niro) die faulen Geschäfte nach ihren Vorstellungen inszenieren will. 
Aber zum eigentlichen Problem werden schließlich Irvings Gefühle: er erkennt in Polito tatsächlich eine ehrliche Haut, einen bodenständigen Mann, der alles für seine Stadt tun will, um die Menschen in Lohn und Brot zu bringen, der ein Herz für die Armen hat und den Gauner wie einen guten Freund behandelt, dem man vertrauen kann. Alles wohl zu viel für einen Betrüger, dessen Metier die Vortäuschung von Gefühlen ist.


Vieles wirkt unrund, es fehlt der Rhythmus


Hustle bedeutet „sich abhetzen“ und „Geld auftreiben“, aber auch Menschen zu schnellen Entscheidungen anzutreiben. Das gilt spätestens nach der ersten halben Stunde auch für Russells Film. Er wirkt gehetzt.
Ist es bereits schon recht kompliziert, die legalen von den illegalen Geschäften zu unterscheiden und den rechtlich irrelevanten Bestechungsversuch von einem, der vor Gericht Bestand hat, so tragen die zahlreichen Sub- und Nebenplots, die Russell (der auch am Script mitgewirkt hat) ausbreitet, leider nicht zu einer konsistenten Handlung bei.

Dabei hat der Regisseur von „Silver Linings Playbook“ ein großartiges Ensemble um sich versammelt. Christian Bale, der sich viele Kilos für den Film angefuttert hat, legt eine Glanzvorstellung zwischen Coolness und sentimentaler Hingabe hin, ein Mann, der zwei Frauen liebt, die ihn wiederum täuschen und manipulieren, um ihn  dann doch zu lieben. Bradley Cooper („Silver Lining Playbook“) spielt rasant den überdrehten FBI-Aufsteiger, der daheim Lockenwickler trägt und bei seiner Mutter wohnt, aber im Büro zum einem neuen Eliot Ness mutiert, der unbestechlich sein will, aber kaum weniger gerissen ist als die Vorgesetzten, Politiker und Gangster, die er bei seinen Deals über den Tisch zieht. Amy Adams („The Fighter“) glänzt als Irvings Freundin, eine Frau, die ‚echt’ sein will inmitten all der Doppel- und Dreifachrollen und doch mysteriös genug bleibt, um den Zuschauer hinters Licht zu führen, wenn sie Irving fallen lässt, um raffiniert (oder doch ‚echt’) mit DiMaso zu flirten. Und Robert De Niro („Silver Lining Playbook“) macht, was er am besten kann: die Fähigkeit, Szenen zu dominieren. Als ehemaliger Killer des legendären Meyer-Lansky verströmt De Niro in den wenigen Minuten, die ihm der Film zugesteht, eine Eiseskälte, die so schnell kein anderer Darsteller hinbekommt. Und wirklich angsteinflößend wird De Niro, wenn er den mexikanischen FBI-Agenten, der den arabischen Scheich spielt, plötzlich in fließendem Arabisch anspricht.

Leider fehlt dem Film aber das Timing. Gepflegte Langeweile schleicht sich ein. Möglicherweise wollte David O. Russell möglichst viele reale Vorbilder aus dem Abscam-Skandal und seinen vielen Haupt- und Nebendarstellern einbauen. Und so taucht in „American Hustle“ auch Irvings tumb-dreiste Ehefrau Rosalyn (Jennifer Lawrence, ebenfalls „Silver Lining Playbook“) auf, die es schafft, eine Mikrowelle innerhalb weniger Sekunden in Schrott zu verwandeln und auch sonst für eine Reihe lebensgefährlicher Katastrophen sorgt.
Wenn Rosalyn in der Küche eine Putzorgie veranstaltet und dabei anzüglich „Live and Let Die“ singt, gelingt O. Russell eine große komödiantische Szene. Aber immer häufiger verzettelt sich der Film in Szenen, die überlang wirken und manchmal auch so, als sei bei den Dreharbeiten improvisiert worden (was wohl auch der Fall war). Nicht nur das Timing und der Rhythmus wirken unrund, auch das Auftauchen und Verschwinden von Rollen mit viel Potential ist ärgerlich: De Niro als Mobster wirkt beinahe verheizt und Jeremy Renner (mit gewagter Frisur) hätte mehr Präsenz verdient.
Und so schwankt der Film hin und her: eine Komödie, bei der es wenig zu lachen gibt, ein Krimi, der zu ungeschickt ist, um Spannung aufzubauen, eine politische Satire, die weder den brutalen Zynismus von „House of Cards“ besitzt noch das kritische Potential, das trotz etlicher Schwächen Martin Scorseses „The Wolf of Wall Street“ ablieferte.
Besonders das Ende des Films schleicht sich auf fragwürdige Weise davon, wenn im zugegeben sehr überraschenden finalen Plot-Twist die endgültige Täuschung der Täuscher zu einem moralischen Plädoyer gerät. Rosenfeld gelingt es tatsächlich, einen Deal für seinen Freund Polito auszuhandeln, bei dem allerdings einer der Täuscher völlig auf der Strecke bleibt. Aber die große Verteidigungsrede des genialen Gauners, der am Ende alle hinters Licht geführt hat, mitsamt der Kritik an den Ermittlungen des FBI gerät leider zu einer nicht sonderlich reflektierten Suada über die ‚guten Korrupten’. Das ist naiv, das hat ein Geschmäckle, zumal das reale Vorbild der Polito-Figur keineswegs so edel war, wie es der Film vermuten lässt.
„American Hustle“ ist zerstreuter, unstimmiger „Zeitgeist“-Film über die 1970er Jahre, mit schönen Settings und als Ensemble-Film überzeugend, als Genre-Mix in Maßen unterhaltsam, aber leider ohne Fokus und mit Überlänge. David O. Russell kann kompakte Geschichten gut erzählen, vielleicht besinnt er sich wieder auf das, was er kann.


Pressespiegel

„Auf den ersten Blick ist American Hustle eine überdrehte Gangsterkomödie in treffsicher ausgesuchten Siebziger-Jahre-Kostümen. Auf den zweiten Blick handelt dieser bemerkenswert witzige und zugleich anrührende Film von Liebe, Freundschaft, Vertrauen und Betrug – und dem manchmal schmerzhaften Zusammenhang zwischen ihnen“ (Jörg Lau, DIE ZEIT).

„Das, worauf die Leute achten, ist selten das, worauf es wirklich ankommt. Und so entwickelt sich hier eine unübersichtliche Geschichte, die aber vor wunderbaren Details nur so strotzt und nebenbei einige der besten betretenen Mienen zeigt, die es im Kino seit langem zu sehen gab“ (Bert Rebhandl, FAZ).

„Nicht, dass man ihm betrügerische Absicht unterstellen könnte – oder wollte: Doch für einen Film, der so enthusiastische Lobeshymnen bei der Kritik erntete und heuer (wie es „Der Clou“ 1974 tat) bei den Oscars abräumen könnte, ist „American Hustle“ enttäuschend unterdurchschnittlich“ (Christoph Huber, Die Presse).

„Faszi­nie­rend ist dabei weniger der schil­lernde Zeit­ko­lorit der auslau­fenden 70er, den Russel vor allem über modische Acces­soires, Innen­ein­rich­tungen und eine an Helmut Newton erin­nernde foto­gra­fi­sche Ästhetik souverän in Szene setzt, sondern wie er Zeit­ko­lorit und Geschichte mit über­ra­schenden Bonmots anrei­chert und einer schau­spie­le­ri­schen Tour de Force unterlegt, die zum Teil so über­bor­dend furios dahinrast, dass einem das eigent­liche (Schau-) Spiel schon genügt, um glücklich zu sein“ (Axel Timo Purr, artechock.de).

„Dank eines großartigen Soundtracks lässt der detaillierte Ausstattungsfilm nicht nur die Zeit wiederauferstehen, sondern entwickelt mit cleveren Verwicklungen, maliziösen Dialogen und perfekt getimten Plansequenzen eine mitreißende Dynamik. Während der Balanceakt der glänzend besetzten Gauner, Agenten, Politiker und Mobster von Eitelkeiten, Habgier und Eifersucht vorangetrieben wird, schlummert unter dem überdrehten „Hustle“ immer auch der Wunsch nach Selbstoptimierung und Liebe“ (FILMDIENST).

„…die positiven Momente (können) nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem Film der nötige Schwung fehlt, so dass sich mit zunehmendem Verlauf Langeweile einstellt. Die beständigen Betrügereien wiederholen sich, aber die Spirale zieht nicht genug an, auch suggerieren die Bilder oftmals mehr Tempo als der Film letztlich hat. Ihm fehlen die Leichtigkeit von "Silver Linings" und die Authentizität von "The Fighter", stattdessen ist "American Hustle" ein Film, der vor allem seinen Schauspielern die Gelegenheit gibt, ihr Können zu zeigen und darüber seinen Plot vernachlässigt“ (Spielfilm.de).


Noten: Melonie = 4, BigDoc = 3,5
(tendenziell waren die Noten sogar schlechter, aber letztlich wurden die Darsteller-Leistungen honoriert)