Freitag, 25. Dezember 2015

Homeland Season 5: Showtime in Deutschland

In der vierten Staffel hatte die bipolare CIA-Agentin Carrie Mathison als „Drone Queen“ die moralische Schlagseite ihres Brötchengebers als ihre eigene erlebt und danach das Handtuch geworfen. In der neuen Season hat sie einen neuen Job gefunden – in Deutschland. Und nicht länger bei der Agency. Mit der 5. Staffel erreicht der kontrovers diskutierte Polit-Thriller von Showtime  einen vorderen Platz unter den Top-Serien des zurückliegenden Jahres: Raised up from the ashes.

Carrie (Claire Danes), die bei der CIA keine Zukunft mehr hatte, arbeitet nun als Sicherheitsberaterin für die deutsche Düring Foundation, die von dem steinreichen Otto Düring (Sebastian Koch) geleitet wird. Ihr Verhältnis zu ihrem Mentor Saul Berenson (Mandy Patinkin) ist zerrüttet: Saul macht seinen Schützling dafür verantwortlich, dass er bei der Besetzung einer Führungsposition übergangen wurde. Nun ist er Chief der CIA-Europaabteilung und muss sich erneut mit dem zwielichtigen Dar Adal (F. Murray Abraham) herumschlagen, der für die im Dunklen operierenden Black Ops verantwortlich ist und sich dabei mehr auf den Berliner Station Chief Allison Carr (brillant gespielt von Miranda Otto) verlässt als auf Saul. Das hat fatale Konsequenzen, als der IS in Berlin zuschlagen will. Terror, Intrige und Verrat: allein Carrie kann sich auf ihre Intuition verlassen und bald ist sie wieder mittendrin in all dem, was sie hinter sich lassen wollte.

„All that suffering, and nothing changes“

Wie immer ist die Main Title Sequence von „Homeland“ eine brillante Interpretation der Seelenlandschaft der Heldin und eine symbolisch aufgeladene Vorschau auf die kommenden Ereignisse. Sean Callery hat den Score mit einer traurig-melancholischen jazzigen Trompete unterlegt. Man sieht, wie schon in Season 4, am Anfang die Löwenmaske, im Off ist eine Frauenstimme zu hören: „Europa ist für Millionen, die aus den Kriegsgebieten im Nahen Osten...“ Der Satz wird verschluckt, Cut auf ein Tablet, das IS-Ziele in Syrien und im Irak zeigt: man sieht Carrie, die im Auto durch Berlin fährt, während im Off eine andere Frauenstimme zu hören ist: „Angela Merkel will weitere 30.000 Flüchtlinge in Deutschland ...“ Dann Carrie im Off: „Christ, I really thought I left all this behind.“

Flüchtlingskrise, IS-Terror, Edgar Snowden und Whistleblowing („the battlefield is online...“), der neue alte Feind Russland – neben den Bildern der politischen Topics, die in knapp 40 Sekunden die Themenfelder der neuen Season wie zerrissene Notizzettel an eine virtuelle Wand tackern, kippt der Rest der Sequenz ins Persönliche. Das ist in „Homeland“ allerdings niemals etwas Privates gewesen ist. 

„All that suffering, and nothing changes“: Carries Lamento im Off wird Sauls nicht weniger resignatives „I actually convinced myself were gonna change the world“ und Peter Quinns (Rupert Friend) kaum weniger deprimierendes „Carrie will never be free“ entgegengehalten. Und Ende als finales Statement die Conclusio von Carries neuer Flamme Jonas Hollander (Alexander Fehling): „So many people, so much blood on your hands.“
Das ist düster und es erzählt beinahe alles, was man danach zu sehen bekommt.
Die neue Main Title Sequence von „Homeland“ nimmt es dabei ästhetisch ganz locker mit den Opening Credits von „True Detective“ oder „House of Cards“ auf und gehört zum Besten, was ich in den letzten Jahren gesehen und gehört habe. Komprimiert und pointiert ist zu sehen, dass „Homeland“ nie nur ein Polit-Thriller war, sondern auch ein psychologisches Drama. Der neue Vorspann zeigt das Thema und kündigt auch das Ende an: Alle sind Verlierer und man kann sich nicht vorstellen, dass es nach dieser Season irgendwie weitergehen kann mit all diesen beschädigten und kaputten Figuren.

Genre-Klischees und präzise Momentaufnahmen

Carrie in Berlin – daran muss man sich gewöhnen. Aber es macht Sinn, denn der Kampf gegen den Terror wird schon längst in Europa ausgetragen. In der ersten Episode geht es darum, dass der Journalistin Laura Sutton (Sarah Sololovic) gehackte Dokumente der CIA zugespielt werden Damit könnte sie die illegalen Schnüffelaktionen von BND und CIA beweisen. Doch bald sind auch die Russen hinter den Dokumenten her und was als vielversprechende innerdeutsche Affäre beginnt, entwickelt sich rasch zu einem globalen Spionage-Thriller, in dem es um einen Terroranschlag des IS in Berlin, den Sturz des syrischen Despoten Baschar al-Assad durch die CIA, die Interessen des israelischen Mossad und – natürlich – auch um den Klassiker aller Spy Movies geht: den Verräter in den eigenen Reihen.

„Homeland“ bewegt sich dabei zwischen saftigen Genre-Klischees und beängstigend präzisen Momentaufnahmen. Dass die Russen alles tun, um den IS-Anschlag gelingen zu lassen, ist von bizarrer Logik, das strategische Ziel ist bitter-böse: Nur so könne man den dekadenten Westen aufrütteln, um ihn zum bedingungslosen Kampf gegen den Islamismus zu motivieren. 
Mit solchen steilen Thesen hat die Serie bereits in der Vergangenheit heftige Kritik provoziert, doch bei „Homeland“ ist die Ambivalenz Programm. Die Macher um die Showrunner Howard Gordon und Alex Gansa („24“) haben bereits in den vergangenen Staffeln regelmäßig divergierende Positionen in Stellung gebracht und dem Zuschauer klare Positionen verweigert. 

Das wird auch in der ersten Episode offensichtlich, als Carries Buddy Peter Quinn nach zweijähriger Special Ops-Arbeit gegen den IS seinen Bossen in Langley das Scheitern der amerikanischen Strategie um die Ohren haut: „Tell me what the strategy is and I’ll tell you if it’s working. That right there is the problem. They have a strategy. What do you think the beheadings, the crucifixions, the revival of slavery are about? It’s all in The Book. The only book they ever read, all the time, they never stop. To usher in a world without infidels - that’s their strategy and it’s been that way since the 7th century. You really think a few Special Forces teams are going to put a dent in that?“

Ist das islamophob oder realistisch? Und was tut die CIA in dieser Gemengelage in Berlin? Nun, sie killt. Saul Berenson hat im Auftrag der Agency eine Todesliste zusammengestellt, auf der zahlreiche IS-Aktivisten und –Sympathisanten stehen, eine Liste, die von Peter Quinn akribisch abgearbeitet wird. Mitten in Berlin. Fiktion? „Homeland“ ist vor diesem Hintergrund alles Mögliche vorzuwerfen – eine blühende Phantasie allerdings nicht, zumindest nicht in dem genannten Punkt (1).

Narrativ ist die Geschichte ein Mixtur aus kruden Ideen und erschreckend realistischen Mutmaßungen.
Die 5. Staffel ist mit Ausnahme der letzten Episode lange vor den Anschlägen in Paris fertig gestellt worden. Die „German Angst“, die sich angeblich wieder bei uns breit macht, dürfte die neue Staffel jedenfalls ziemlich beflügeln, wenn sie davon erzählt, dass eine IS-Terrorzelle in der Bundeshauptstadt einen Anschlag mit dem chemischen Kampfstoff Sarin plant.
Die dramatischen Ereignisse finden ihren Höhepunkt in den beiden letzten Episoden, in der die Terroristen den Berliner Hauptbahnhof attackieren – IS-Follower, die sich nicht etwa als Flüchtlinge getarnt in Deutschland eingeschlichen haben, sondern mitten unter uns als deutsche Staatsbürger mit Migrationshintergrund lebten und auf zahlreiche Sympathisanten in der muslimischen Gemeinde Berlins, aber auch an der Hochschule der Stadt zurückgreifen können. Das dürfte Ängste auslösen. Der permanente Vorwurf der Islamophobie, dem „Homeland“ seit jeher ausgesetzt ist, dürfte angesichts der aktuellen Ereignisse in Frankreich und Belgien schwächer ausfallen. Er wird in der Serie zudem sarkastisch kommentiert, denn es ist ausgerechnet ein bekennender libanesischer Atheist. Ein Akademiker mit deutschem Pass, der sich an Israel und Deutschland rächen will und den IS mit der erforderlichen Technik für den Anschlag versorgt.

Ein kompaktes Comeback

„Homeland“ in Deutschland: Da stellt sich natürlich die Frage, was amerikanischen Scriptwritern zu unserem Land so einfällt. Natürlich sind im Cast deutsche Schauspieler in mehr oder weniger wichtigen Rollen zu finden: neben Sebastian Koch und Alexander Fehling sind auch Nina Hoss als BND-Agentin Astrid und Martin Wuttke als lokaler BND-Chef Adler mit von der Partie, sogar Jörg Hartmann ist in einer Mini-Nebenrolle zu sehen.

Im Übrigen staunt man, was sich die Autoren zu Deutschland einfallen ließen: Deutsche Polizisten, die friedlich demonstrierende Bürgerrechtler zusammenknüppeln (allerdings nur kurz in einem TV-Einspieler zu sehen), BND-Agenten, die unter den Augen der örtlichen CIA-Vertreter einen Zeugen der Agency am helllichten Tag kidnappen und Martin Wuttke als BND-Leiter Adler, der die CIA-Schnüffler auf die Bundesregierung ansetzt, weil man das ja wegen der strengen Gesetze nicht selbst tun dürfe. Hier ist die Phantasie wohl aus dem Ruder gelaufen und das Schaf wurde zum Wolf gemacht.

Auch wenn nicht immer alles stimmig im Deutschland-Bild der Serienmacher ist, so ist „Homeland“ ein kompaktes Comeback gelungen. Die ätzenden Fragen landen treffsicher im Ziel: Sind Whistleblower naive Idealisten oder die letzte Bastion vor dem Fall der Bürgerrechte? Hat sich der Kampf gegen den Terror zu einer wahnwitzigen Karussellfahrt entwickelt, in der beide Seiten nur Leichenberge anhäufen? 
Antworten bleibt "Homeland" schuldig. Wenn die Scriptwriter am Ende allerdings dafür sorgen, dass der IS in Berlin scheitert, dann liegt das weniger an der Schlagkraft der CIA, sondern an den Gewissensqualen eines muslimischen Terroristen. Auch eine Antwort.

Und der Rest? „Homeland“ ist erneut ein psychologisches Drama, in dem es keine Gewinner gibt. Nur Verlierer und Opfer, die auf der Strecke bleiben. Carrie wird nichts von dem behalten, was ihr lieb und teuer ist. Saul Berenson wird im Laufe der Staffel immer mehr zur heimlichen Hauptfigur, die – doppelt und dreifach betrogen, von Freunden und Feinden – am Ende blutige Rache sucht und findet. Und die wirkliche Hauptfigur ist Peter Quinn, an dem im makabren Höhepunkt der Staffel die Terroristen die Wirkung des Nervengifts Sarin testen. Er ist noch mehr als Carrie ein Wanderer zwischen den Fronten – bedingungslos loyal zu Carrie, gnadenlos als Killer, seelisch bereits tot. 

Natürlich hat man oft das Gefühl, das alles bereits gesehen zu haben, aber die Intensität und Glaubwürdigkeit, mit der die neue Staffel ihre Geschichte erzählt, spiegelt in ihrer Atemlosigkeit in 12 Episoden wider, wie sich der momentane Zeitgeist anfühlt. Alle laufen wie besessen im Hamsterrad. Es dreht sich immer schneller und doch weiß keiner, was am nächsten Tag passieren wird.

(1) 2001 kündigte der US-Justizminister John Ashcroft an, dass die US-Regierung plant, Auftragsmorde im Ausland zu legalisieren und Mitarbeiter zu rekrutieren, die direkten Zugang zu Terrorzellen besitzen.
Erinnert sei auch an die Affäre Darkazanli, die zu Ermittlungen der Hamburger Staatsanwaltschaft und später auch der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe führte: angeblich haben die CIA oder Blackwater geplant, den als mutmaßlichen Al-Qaida geltenden Deutsch-Syrer zu liquidieren. Und über die rustikalen Auslassungen der ehemaligen Chefs der NSA und CIA, Michael Hayden, der die sogenannten „Kill Lists“ dementierte, aber einräumte, dass die Dienste gegnerische Kombattanten töten würde, hat der SPIEGEL mehrfach berichtet.


Noten: BigDoc = 1,5

Homeland - USA 2015 - Network: Showtime - 12 Episoden - Executive Producers: Howard Gordon, Alex Gansa - D.: Claire Danes, Rupert Friend, Mandy Patinkin, Alexander Fehling, F. Murray Abraham, Miranda Otto, Sebastian Koch, Martin Wuttke, Nina Hoss, Mark Ivanir, René Ifrah, Sarah Sokolovic.


Mittwoch, 2. Dezember 2015

True Detective 2 – Der Vorhof der Hölle

Bevor die Hauptfiguren herausfinden, was wahrhaftige Detektive sind, müssen sie durch die Hölle gehen. Polarisiert hat bereits Nic Pizzolattos erste Staffel. Wer sie geliebt hat, wird von der zweiten entweder restlos enttäuscht oder völlig begeistert sein. Dazwischen existiert keine Grauzone, in der man es sich bequem machen kann. Und wer die philosophiegetränkten Geschichten schon beim ersten Mal nicht gemocht hat, wird sich nun erst recht bestätigt fühlen. Nicht ganz zu Unrecht, denn der Showrunner hat mit der neuen Serie die Latte vermutlich zu hoch aufgelegt. 

Direkt ins Herz des Bösen

Die erste Staffel von „True Detective“ war das Serienereignis des Jahres 2014. Selbst das kongeniale „Fargo“ musste sich gewaltig strecken, um der prall mit Bedeutungen abgefüllten Serie von Nic Pizzolatto auf Augenhöhe begegnen zu können (...gewann allerdings die meisten Preise). „True Detective“ war und ist ein Solitär: Zu wortgewaltig waren Matthew McConaughey und Woddy Harrelson – angesiedelt zwischen Existenzfragen, philosophischem Nihilismus und einer bildgewaltigen Mythologie, die direkt ins Louisianas schwarzes Herz des Bösen führte.

Der Hype um die zweite Staffel, die erneut als Mini-Serie mit abgeschlossener Handlung realisiert wurde, fiel bereits im Vorfeld unrealistisch aus. Es war nicht zu erwarten, dass man einen Geniestreich beliebig oft wiederholen kann. Es kam, was viele befürchtet hatten: viele Kritiker und Zuschauer wandten sich im vergangenen Sommer enttäuscht ab.
Regisseur Cary Fukunaga fehlte in der Fortsetzung, agierte aber ebenso wie die beiden Hauptdarsteller der 1. Staffel, Matthew McConaughey und Woddy Harrelson, als Executive Producer. Pizzolatto schrieb für TD 2 alle Drehbücher. In der zweiten Staffelhälfte ließ er sich von Scott Lasser unterstützen. 
Bereits nach den ersten Folgen war aber das Dilemma nicht mehr wegzudiskutieren: die zweite Staffel wollte aus den großen Schuhen ihres Vorgängers heraustreten, anders sein und doch originell bleiben. Ersteres ist gelungen, aber die Originalität wurde teuer erkauft. Schlicht und einfach auf den Punkt gebracht: Die Geschichte der zweiten Season ist völlig überladen und lässt sich eigentlich nur anschauen, wenn man gleichzeitig eine Gebrauchsanleitung in der Hand hält oder sich alle Folgen ohne große Unterbrechung in einem Rutsch anschaut.

Worum geht es?
„True Detective 2“ spielt in Vinci, einer fiktiven Kleinstadt, in der es „mehr Arbeitsplätze als Einwohner gibt“. Vinci liegt im Nirgendwo zwischen Los Angeles und San Diego, die hochindustrialisierte Topografie des kleine Nests in Südkalifornien wird durch Highways und Freeways mit diesen Metropolen verbunden. Dieses Netzwerk frisst sich wie ein Krebsgeschwür in die Landschaft. Und es soll größer werden. Der Ex-Gangster Frank Semyon (Vince Vaughn) hat im großen Stil in ein Projekt investiert, das weiträumige Parzellen für den weiteren Ausbau des Straßensystems aufgekauft hat. Ein lukratives Investment, für das man notfalls auch die Böden vergiftet, um billiger an das Land zu kommen. 
Denn unter der mäandernden Oberfläche der Schnellstraßen wuchert ein ganz anderes Krebsgeschwür: Industrie und Handel, die Verwaltung, die Polizei und die herrschende Elite von Vinci sind über zahllose Querverbindungen mit dem organisierten Verbrechen verknüpft, das schon längst seine Finger im Spiel hat. Und als Semyons Mittelsmann Ben Caspere ermordet wird, sind plötzlich auch seine Millionen futsch. Das Kartell teilt ihm lapidar mit, das Geld nie erhalten zu haben.

Korrupt sind fast alle in Vinci. Die Oberschicht feiert Orgien mit Nutten, die zuvor unter Drogen gesetzt werden. Es wird gesoffen und gekokst und alle wollen dazugehören. Den Sumpf möglichst nicht aufräumen sollen nun die Cops Raymond „Ray“ Velcoro (Colin Farrell) vom Vinci Police Department, Antigone „Ani“ Bezzeridis (Rachel McAdams), die für den Sheriff von Ventura ermittelt, und der Highway Patrol Officer Paul Wooddrugh (Taylor Kitsch), der Casperes Leiche auf einem Parkplatz gefunden hat.
Um diese Figuren herum baut Pizzolatto ein undurchsichtiges Geflecht aus weiteren Figuren auf, die nicht nur in den Big Deal involviert sind, sondern auch noch folgenschwere Crime Plots abarbeiten müssen, die weit in die 1990er Jahre zurückreichen. 

 

Melodram und Kitsch: Die Gefühle in True Detective

Über diesen Geschichten liegt eine gewaltige Tristesse, die sich langsam wie ein schleichendes Gift in die verborgenen Motive und Ängste der vier Hauptfiguren hineingräbt. Was sie verbindet: Sie leben nicht gerne, eigentlich müssten sie tot sein, um ihren Frieden zu finden. Sie wurden in ihrer Jugend sexuell missbraucht und misshandelt (Frank, Antigone) oder sind schwer traumatisiert wie Ray und Paul.
Rays Ehe ist gescheitert, er kämpft verzweifelt um das Sorgerecht für seinen Sohn und weiß nicht, ob er dessen biologischer Vater ist. Gleichzeitig steht er auf Franks Lohnliste und erledigt für ihn dirty jobs. Vor Jahren hat Ray nach der Vergewaltigung seiner Frau von Frank einen Tipp bekommen, aber er hat danach den Falschen umgebracht. Das erfährt er, als alles fast schon zu spät ist. Auch Antigone schlägt sich mit Dämonen der Vergangenheit herum, auch sie wurde in ihrer Jugend missbraucht, ihre New-Age-Familiengeschichte ist ein Grab voller dunkler Geheimnisse. Paul dagegen leidet an einem nie völlig aufgeklärten Kriegstrauma und einer ambivalenten sexuellen Orientierung. Antigone und der Irak-Veteran sind die einzigen in Vinci, die nicht durch und durch moralisch verkommen sind.

„True Detective 2“ orientierte sich zwar unübersehbar am Film Noir, an Vorbildern wie David Lynchs „Mulholland Drive“ oder Roman Polanskis „Chinatown“. Aber nicht nur. Von der Kritik bislang fast völlig übersehen wird der Einfluss des Melodrams. Dessen komplexe Symbolsprache, die oft herkömmliche dramaturgische Gesetze ignoriert, taucht in TD 2 unübersehbar auf und geht auch in Pizzolattos Serie zulasten der erzählerischen Konsistenz. Alle Hauptfiguren sind auf unterschiedliche Weise auf der Suche nach unbedingter Liebe, Loyalität und Freundschaft, während der Rest der Welt von nackter Gier angetreiben wird. Pizzolattos Schlüsselfiguren sind in diesem Vorhof der Hölle auf eine beinahe auswegslose Weise schwer depressiv und beinahe handlungsunfähig. Dass sie sich trotz unterschiedlicher Motive in der Mitte der Staffel darauf einigen können, den Mordfall gemeinsam aufzuklären, macht sie zwar zu „True Detectives“, aber ihr Scheitern und ihr Untergang kündigt sich schon lange vor der letzten Episode an.

Diese Melange der Gefühle und der Sehnsucht in den Griff zu bekommen, ist nicht einfach. Gleich an der nächsten Ecke lauern das Klischee und der Kitsch. Beides sollte nicht reflexhaft als negativ betrachtet werden, immerhin reden wir von den ökonomisch erfolgreichsten Stilformeln des Kino. Ich empfehle in diesem Zusammenhang Georg Seeßlens vermutlich nur noch antiquarisch zu erhaltenden Theorieklassiker
Kino der Gefühle - Geschichte und Mythologie des Film-Melodrams" (1980). Seeßlens 35 Jahre alter Text macht deutlich, warum die Figuren in einem Melodram sogar über Banales in einer seltsam überhöhten affektiv aufgeladenen Sprache reden. So reden sie auch in TD 2 und Seeßlens Satz „Die melodramatische Weltsicht ist der des Kitsches verwandt, behält sich aber die Möglichkeit des Wahnsinns vor" erklärt allemal den Stil Pizzolattos besser als vieles, was ich bislang über diese Serie gelesen habe. Die Folgen für die Storyline sind nicht zu übersehen: Symbolische Strukturierung der Handlung, Komplexität statt Einfachheit, Emotion statt Diskurs. Dennoch: Der Literaturdozent Pizzolatto dürfte schon gewusst haben, was er seinen Figuren in den Mund gelegt hat.
 
Offenbar glaubte Pizzolatto aber, den überkonstruierten Plot zu meistern. Marcus Müntefering bezweifelt dies und schreibt in seiner lesenswerten Review: In der 1. Staffel wurde die letztlich ziemlich überschaubare Story durch eine komplexe Erzählstrategie verkompliziert, TD2 hingegen wird linear erzählt. Dafür ist dieses Mal die Story so komplex, dass es beinahe unmöglich ist, zwischendurch den Überblick zu behalten. Pizzolatto verliert den eigentlichen Fall immer wieder aus den Augen, der Zuschauer den Überblick – und zeitweise das Interesse."
Das Ergebnis ist eine Two-Shot-Serie. Ich habe diesen Begriff erfunden, um Pizzolattos Narrativ besser erklären zu können. Ein „Two Shot“ ist eigentlich eine klassische Filmeinstellung, in der zwei markante Personen zu sehen sind (typisch: die beiden Killer in „Pulp Fiction“, aber z.B. auch die Helden in TD 1) – in meiner Kritik zielt „Two Shot“ aber auf den Zuschauer ab. Er benötigt nämlich mindestens ‚zwei Schüsse’, um die Geschichte in TD 2 einigermaßen in den Griff zu bekommen. Pizzolatto erzählt sie hyperkomplex aus den unterschiedlichen Perspektiven seiner vier Hauptfiguren, die mit gut zwei Dutzend weiterer Nebenfiguren verbunden sind. Von den unwichtigen Nebenfiguren soll erst gar nicht die Rede sein. 
Der erste Schuss der Zuschauers: 1x das Ganze anschauen, die Stimmung aufnehmen und sich hoffnungslos verirren, danach nach einem guten Episode Guide suchen, alles ausdrucken und mit dem Text in der Hand (ca. 20 Seiten pro Episode) die Serie noch einmal anschauen und simultan die Interpretationen studieren. Das ist kein Witz. Das ist „True Detective“ (Season 2).

Stilistisch überragend

Nic Pizzolattos zweite Staffel ist in jeder Hinsicht stilistisch ein Hingucker. Die Main Title Sequence wurde erneut vom Design Studio Elastic um Creative Director Patrick Clair kreiert. Das Team hat 2014 einen Emmy für das Main Title Design der ersten Season gewonnen und zog nun für TD 2 kein neues Kaninchen aus dem Zylinder, sondern bediente sich äußerst kreativ der bekannten Stilmittel. Elastic hat neue Standards definiert. Andere Serienmacher kupfern bereits kräftig ab.

Die Filmmusik besorgte erneut T Bone Burnett, der sich diesmal stärker an elektronischen Motiven orientierte und einen wirklich beeindruckenden, fast hämmernden Score entwickelte. Das Opening Theme ist Leonard Cohens „Nevermind“ aus seinem 2014 erschienenen Album „Popular Problems“. Wer genau hinhört, wird bemerken, dass sich der Text mit jeder neuen Episode ändert. Auch die Musik sorgt in „True Detective 2“ für kryptische Bedeutungsebenen – einen wichtigen Anteil daran hat auch die Liedermacherin Lera Lynn, die einen Großteil der diegetischen Musik komponierte und spielte (also jener Musik, die in einer fiktiven Geschichte u.a. von handelnden Figuren gespielt wird). Selbstverständlich muss man sich die Songtexte besorgen, sonst versteht man die Szenen nicht...

Auch narrativ funktioniert Pizzolattos Serie auf hohem Niveau. Alle Episoden beginnen mit einem ausgefeilten Cold Open und einem proleptischen Mini-Cliffhanger. Das bedeutet: ein direkter Sprung in eine Szene oder die Einführung eines Motivs, die beide nicht ad hoc den Bezug zum vorherigen Handlungsverlauf aufdecken, aber Kommendes andeuten (auch symbolisch). 
In Pizzolattos Serie gibt es zudem auch die eine oder andere Eröffnungsszene, die psychologische Deutungen einer Figur anbietet, ohne dabei alle Geheimnisse zu lüften. Dies ist spätestens seit Breaking Bad, das diese Erzähltechnik enorm verfeinert hat, zum Standard von Qualitätsserien geworden, und in TD 2 führt dies zu einigen wirklich bemerkenswerten Innenansichten.

Auch darstellerisch zeigt TD 2 eine Performance, die man outstanding nennen kann. Vince Vaughn, der ständig zerknautschte Colin Farrell, Rachel McAdams und besonders Taylor Kitsch spielen eindrucksvoll gegen das hart am Pulp entlang driftenden Script an, das im Laufe der Zeit immer mehr in einem Meer der Tränen und in metaphysischen Tiraden versinkt. Sie können aber nicht verhindern, dass aus den Figuren manierierte Kunstgebilde werden – und das hat nun rein gar nichts mit der hard-boiled-Diktion des Noir oder Neo-Noir zu tun, umso mehr aber mit dem entschlossenen Willen Pizzolattos, ein bis ins kleinste Detail durchkomponiertes Jahrhundertwerk vorzulegen.


Hieronymus Bosch der Serienkultur

Nino Frank schrieb 1946 in „The Crime Adventure Story: A New Kind of Detective Film“, dass es im Film Noir eher nicht um die Lösung des Falls geht, sondern um die psychologischen Eigenschaften der Figuren. Sie sind häufig in die Verbrechen verwickelt, die sie aufzuklären haben, und sie bewegen sich in einer Grauzone der Moral, wenn sie dies tun.
 

„My ethics are my own“, war der Wahlspruch eines der ersten literarischen hard-boiled Detectives, nämlich dem von Carroll John Daly erschaffenen Race Williams. Das könnte so oder ähnlich auch Ray Velcoro behaupten, aber er ist bereits der dekadente Nachfahre der Sam Spades und Philip Marlowes, sein Weg aus der Korruption und zurück zu einem Codex ist mit Schnapsflaschen gepflastert und der Weg zurück zur Wahrheit ist dann auch nur eine Art, am Ende möglichst rechtschaffen zu sterben.

Genau davon erzählt „True Detective 2“. Es geht nicht nur um einen Gangster, der um sein Geld betrogen wurde. Es geht auch nicht um drei Cops, die mehr oder weniger zufällig in die Lösung eines mysteriösen Mordfalls verstrickt werden. Es geht um den Untergang, das Scheitern, die vergebliche Sehnsucht und das richtige Sterben. Es verwundert deshalb nicht, dass der von Vince Vaughn großartig gespielte Gangster ein bemerkenswert gebildeter Mann ist, der Tiefsinniges zu erzählen weiß und im nächsten Moment mit kalter Brutalität seine Gegner liquidiert. Er ist sozusagen auf dem Rust Cohle-Trip, nur brutaler. 
Alle Protagonisten werden in der Stadt Vinci so oder ähnlich zu existenziellen Grenzgängern, deren bereits beschlossener Untergang nur von einigen kleinen Siegen kurzfristig aufgehalten wird. TD 2 ist Tristesse pur. Am Ende sind fast alle tot, es gibt keine Hoffnung.

Dass die Hauptfiguren in TD 2 allesamt moralisch und existenziell gebrochene Figuren sind, die an ihrer eigenen Lebensschuld zu zerbrechen drohen, legt einen undurchdringlichen Schleier der Dunkelheit über die Geschichte, die in ihrer völligen Hoffungs- und Aussichtslosigkeit nur zu ertragen ist, wenn man als Zuschauer grundsätzlich an eine depressive Weltsicht gewöhnt ist.
Wenn es einen Bezug zur ersten Staffel gibt, dann ist es folgender: Das Böse – und das ist durchaus bei Pizzolatto in einem metaphysischen Sinn zu verstehen – gewinnt immer, auch wenn der eine oder andere Bösewicht auf der Strecke bleibt.
War es in TD 1 die satanische Geheimgesellschaft, die in Louisiana pädophil motivierte Mordrituale organisierte und  verschleppte Kinder einer jenseitigen Instanz opferte (was immerhin ein reales Vorbild hatte), so existiert in TD 2 ebenfalls eine Geheimgesellschaft aus mächtigen Familien, die seit Jahrzehnten dem absoluten Nihilismus frönt.
In TD 1 scheitern die Helden daran, die eigentlichen Strippenzieher zu entlarven, lediglich ein grobschlächtiger Handlanger geht am Ende drauf. In TD 2 gibt es am Ende nur die vage Hoffnung, dass man die Verantwortlichen vielleicht irgendwann zur Rechenschaft ziehen kann. In beiden Staffel liegt ein okkulter Wahnsinn über dem Ganzen, nur sehen die Helden in TD 1 am Ende wenigstens ein helles Licht.

In TD 1 verknüpfte Nic Pizzolatto die Story Arc mit raffinierten Rückblenden und intelligenten Bezügen zur Weird Fiction eines H.P. Lovecraft, was mit einem grandiosen Finale endet (trotzdem hält sich bis heute die von Kritikern und Zuschauern geteilte Auffassung, dass Pizzolatto und Regisseur Fukunaga die letzte Episode vor die Wand gefahren haben), in TD 2 entstand ein Amalgam aus Film Noir und Melodram, dessen Ende nur sprachlos macht.

Pizzolatto hat die Verknüpfungen in TD 2 bedeutungsschwanger verrätselt und dabei eine Reihe von Ködern und Codierungen ausgebreitet, die entweder in die Irre führen oder zu einer symbolischen Überfrachtung führen. Gerade Letzteres hat natürlich einige Interpreten auf den Plan gerufen, die akribisch jedes nur so geringe Detail ausgeleuchtet und interpretiert haben, so als könne TD 2 uns eine tiefere Wahrheit vermitteln. Das dürfte zunehmend schwer fallen, denn in TD 2 werden anfänglich intelligente Gedanken immer häufiger durch aufgeblasene Aphorismen, banale Scheinweisheiten und stoische Oneliner ersetzt. Völlig ironiefrei und ohne den leisesten Ansatz von Humor. Dass dies aber auch noch so erzählt wird, dass man der Geschichte nicht einmal folgen kann, ist eine Todsünde.
 

Pizzolatto hat etwas geschaffen, das ich Mega Noir nenne. Eine hyper-komplizierte Alternativwelt, in der die Figuren nicht den Gesetzen der Plausibilität gehorchen, sondern den Regeln des finstersten Genres der Film- und TV-Geschichte. Sie hängen wie Marionetten an den Spielregeln des Film Noir, allerdings aufgeblasen mit dem Pathos des Melodrams - eine Mixtur, die nicht ohne Weiteres funktioniert. Sie hängen an dem Ariadnefaden ihres Schöpfers, allerdings dürfen sie den Weg aus dem Labyrinth nur halbherzig finden. Pizzolatto führt sie allesamt, die Figuren und die Zuschauer, in ein elegant gefilmtes Zwischenreich, das womöglich der Vorhof der Hölle ist – oder bloß ein besonders gemeiner Traum. Das Ergebnis ist grenzenlose Tristesse, vollständige Ausweglosigkeit und der Verlust jeglicher Hoffnung. Nic Pizzolatto ist nach „True Detective 2“ endgültig zum Hieronymus Bosch der Serienkultur geworden.

Löst man sich von der Unzugänglichkeit der Story und der melodramatischen Sprache, findet man in True Detective 2 immerhin eine elegant zelebrierte Schein- und Kunstwelt, die spätestens nach der vierten Episode atmosphärisch keinen Wunsch offen lässt. Retten kann dies Pizzolattos Geschichte leider nicht.
Das „Kunststück“ hätte gelingen können, wenn der Showrunner und Autor minimalistisch vorgegangen wäre: fokussiert, straight erzählend, einfach statt barock, ironisch statt pathetisch. So aber wirkt „True Detective 2“, als hätten sich David Lynch und Philip K. Dick getroffen, sich grinsend etwas Undefinierbares eingeworfen, dann das Script geschrieben und anschließend völlig stoned auf William S. Burroughs gewartet. Dessen „Cut-up“-Technik bestand darin, die Manuskriptseiten in kleine Zettel zu zerschneiden und nach dem Zufallsprinzip  neu anzuordnen.


Die Kritik wurde am 3. Dezember überarbeitet.

Noten: BigDoc = 3,5
 

True Detective (Season 2) – USA 2015 – Showrunner, Buch: Nic Pizzolatto – Regie: Justin Lin u.a. – Musik: T Bone Burnett – Opener: „Nevermind“ von Leonard Cohen – Main Title Design: Patrick Clair u.a. (Elastic) – D.: Vince Vaughn, Colin Farrell, Rachel McAdams, Taylor Kitsch, Ritchie Coster, Afemo Omilami, David Morse u.a.

Wendezeit in Deutschland - „Als wir träumten“

Deutschland vor einem Vierteljahrhundert: In „Als wir träumten“ erzählt Andreas Dresen von Jugendlichen, die nach der Wende die neue Freiheit feiern und bei der Suche nach dem großen Glück scheitern. Wuchtige Bilder aus Deutschland mitten in einer Zeit der Wende.

Der Anfang nimmt das Ende vorweg. Dani trifft seinen alten Kumpel Mark in einem heruntergekommenen Kino. Mark war der lauteste in der alten Gang, nun ist er drogensüchtig und völlig am Ende. Den Stoff bezieht er von Pitbull. Dabei wollten alle doch immer zusammenhalten. Wie konnte s so weit kommen? Noch einmal werden alte Geschichten heraufbeschworen und Bilder tauchen auf, Bilder aus einer Zeit, in der fünf Freunde glaubten, dass ihnen die Welt gehört.
Dani (Merlin Rose) ist der einzige aus der alten Gang, dem man den Sprung aus dem maroden Leipziger Stadtteil zutraut. Er ist vielleicht der Klügste von allen, auf jeden Fall der Sensibelste. Rico (Julius Nitschkoff) hätte es auch schaffen können, aber der talentierte Boxer verliert nicht nur einen wichtigen Kampf, sondern danach auch die Nerven. Paul (Frederic Haselon) ist der Stille, der von Mädchen träumt, aber die geringsten Chancen hat. Der ungehobelte Pitbull (Marcel Heuperman) ist eher fürs Grobe zuständig, am Ende ist er Dealer und für Marks Tod verantwortlich. Und Mark (Joel Basman)? Immer am lautesten: durchgeknallt, euphorisch, überdreht auch ohne Drogen. Er verbrennt an seiner puren Energie.
Zusammen ziehen die Fünf durch Leipzig, randalieren, hängen ab, feiern sich rauschhaft, wenn sie in geklauten Autos durch ihr Revier fahren. Mittendrin ist auch Katja, das „Sternchen“ (Ruby O. Fee), die schönste Frau im Arbeiterviertel Reudnitz, von allen geliebt, besonders aber von Dani. Auch „Sternchens“ Träume platzen, sie wird in Reudnitz stranden und ihren Platz im Milieu finden, zwar selbstbewusst, aber auch sie ist gescheitert.
Aber vor dem tragischen Ende gibt es noch Hoffung in Andreas Dresens neuem Film. Und Träume haben alle in der Gang. Greifbar werden sie, als man die Vision eines eigenen Techno-Clubs in die Tat umsetzt. Es will improvisiert. Mit Musik, mit Getränken, mit Licht. Eigentlich ist der Club ein mieses Kellerloch, aber interessant genug. Denn schon bald tauchen Neo-Nazis im „Eastside“ auf. Sie melden brutal ihren Herrschaftsanspruch an und wollen im Club Drogen verkaufen. Der Anfang vom Ende.

Geschichte – ein Experiment mit offenem Ausgang

„Als wir träumten“ basiert auf dem gleichnamigen Roman von Clemens Meyer, der 2006 auch wegen seiner autobiografischen Bezüge als exemplarischer Wenderoman gefeiert wurde. Die Adaption besorgte Wolfgang Kohlhaase, der bislang dreimal mit Dresen zusammenarbeitete. Der 84-jährige Autor und Regisseur gilt als einer der wichtigsten Scriptwriter des deutschen Films und ist bekannt für seine präzisen Milieustudien. Für die atmosphärischen Bilder sorgte Michael Hammon, der als Kameramann bereits seit Jahren ein Teil der Dresen-Crew ist. Zusammen gelang dem Trio eine außergewöhnliche Coming-of-Age-Geschichte, die ihre Stärke weniger aus einem realistischen Erzählansatz zieht, sondern aus der furiosen stilistischen Umsetzung. Ein politischer Film ist „Als wir träumten“ nämlich nicht.

Und das, obwohl Andreas Dresen (u.a. „Halbe Treppe“, „Wolke 9“, „Halt auf freier Strecke“) und sein Team die Geschichte der Gang in Rückblenden erzählen und damit eine historische Aufarbeitung andeuten. Jugend in der DDR: die Flashbacks führen zurück in die Zeit, als alle noch dreizehn sind, Pioniere mit rotem Halstuch. „Immer aktiv sein. Immer mit dem Kollektiv vorneweg. So wird man ein guter Soldat“, wird ihnen in der Schule eingebläut. Siebzehn sind sie, als die Geschichte der DDR auserzählt ist. 
Immer wieder blendet der Film zurück in diese Zeit, in der sich Katja und Dani trotz rebellischer Ansätze weitgehend systemkonform verhalten. Aus der zeitlichen Verschränkung der frühen Sozialisation mit den exzessiven nächtlichen Sauf- und Drogentrips nach dem Mauerfall entsteht so eine dichte Milieustudie, immer unterlegt mit hämmernder Musik und metaphorisch gegliedert durch Zwischentitel wie „Mord in Deutschland“ oder „Straßenköter“. Sie erinnert auch wegen der Settings beinahe an die deutsche Nachkriegszeit. Von blühenden Landschaften keine Spur, Deutschland sieht im Leipzig der frühen 1990er Jahre eher aus wie eine abbruchreife Trümmerkulisse. Unter solchen Bedingungen ist Geschichte ein Experiment mit offenem Ausgang, ein Niemandsland, in dem alles möglich zu sein scheint. 


Als Genrefilm ein Meisterwerk

„Als wir träumten“ interessiert sich weniger für einen floskelhaften Geschichtsschulfunk, sondern für die Authentizität des Lebensgefühls, das die Protagonisten in einer ergebnisoffenen Zeit zwischen Aufbruch und Niedergang entwickeln. Wilde Träume zwischen Swinger-Clubs, Diskotheken und gammeligen Boxhallen, rauschhafte Kamerafahrten im nächtlichen Leipzig.
Warum die fünf Freunde und ihr „Sternchen“ das wurden, was sie sind, erzählt Dresen nicht. Auch die Rückblenden in die Jugendjahre der Clique bieten keine politischen oder psychologischen Handreichungen an. Die Kids wirken in ihrer Sprachlosigkeit so, als wären sie in die Wendezeit hinein Geworfenene, die einen mysteriösen existenziellen Riss erlebt haben. Irgendwie bleibt der aber im Nebel stecken. Wolfgang Kohlhaase wurde prompt dafür kritisiert, dass sein Entwurf nicht immer dem entspräche, was andere in Leipzig nach der Wende erlebt haben.
An der Erzählperipherie deutet „Als wir träumten“ immerhin behutsam und auch etwas provokativ an, dass der Kollaps der DDR etwas mit dem Pyrrhussieg einer Ideologie zu tun hatte, der nicht nur den Traum von Freiheit, sondern auch die eigenen humanistischen Ideale beiseite schob. Diesen werden hartnäckig von einigen Lehrern vertreten, die daran glauben, dass in ihren Erziehungsnischen ein Aufbruch in bessere Zeiten möglich ist. Ihre Visionen scheitern an einer mediokren repressiven Realität. Diese leisen Töne sollte man in Dresen ekstatischen Film nicht übersehen, analytisch macht dies den Film noch lange nicht.



Als „Weltklassekino“ bezeichnet die FAZ den Film, „schnell und ruppig“ sollte er werden, so Dresen. „Als wir träumten“ mag vielleicht nicht für jeden politisch korrekt sein, aber als kleiner schmutziger Genrefilm bietet er stilistisch mehr als das, was man sonst von deutschen Filmen erwarten darf. Ein kleines stilistisches Meisterwerk, das bis Mitte 2015 nicht einmal 100.000 Zuschauer in den Kinos sehen wollten.

Noten: BigDoc = 1,5, Melonie = 2, Klawer = 2,5

Als wir träumten - Frankreich/Deutschland 2015 – Laufzeit: 117 Min – Regie: Andreas Dresen – Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase (nach dem gleichnamigen Roman von Clemens Meyer) – FSK: ab 12 Jahren - Darsteller: Merlin Rose, Julius Nitschkoff, Marcel Heuperman, Joel Basman, Frederic Haselon, Ruby O. Fee, Chiron Elias Krase, Luna Rösner, Tom von Heymann, Nico Ramon Kleemann.