Mittwoch, 29. April 2015

Ex machina

Den Deus ex machina kennen wir als ‚Gott aus der Maschine’, etwa wenn in einer antiken Tragödie eine olympische Gottheit auftritt, die unerwartet einen aussichtslosen Konflikt löst. Um überhaupt auf der Bühne erscheinen zu können, bedarf es einer mechanischen Vorrichtung, mit deren Hilfe man die Gottheit in den Theaterraum schweben lässt. Die Mechanik wird allerdings von Menschen gebaut. Wenn Alex Garland in seiner KI-Spekulation „Ex machina“ das Deus aus dem Filmtitel streicht, bleibt immerhin die Frage, was denn nun in der Maschine steckt und welcher Konflikt gelöst werden soll.

In Alex Garlands filmischem Kammerspiel gibt es wie in Alan Turings „Imitationsspiel“ drei Teilnehmer. Anders als bei Turing ist aber von Anfang an klar, wer was ist, die Karten liegen auf dem Tisch. In „Ex Machina“ gibt einen Versuchsleiter, einen Tester und das Testobjekt, eine intelligente Maschine. Alle kennen ihre Identität. Nun soll nur noch die Frage beantwortet werden, ob der weibliche Android Ava auch empfindungsfähig ist. 

Strippenzieher des Experiments ist der stinkreiche CEO Nathan Bateman, der Milliarden mit der Suchmaschine „Blue Book“ verdient hat und sich in die Einsamkeit Alaskas zurückgezogen hat, um in einer unterirdischen Forschungsanlage eine Künstliche Intelligenz (KI) zu entwickeln. Ob das Experiment gelungen ist, soll der Nachwuchs-Programmierer Caleb Smith herausfinden. 
Der schüchterne, aber hochintelligente Nerd hat den Besuch bei dem Internet-Mogul in einem Firmen-Preisausschreiben gewonnen und wird von dem Wodka saufenden Macho-Boss und dessen hemdsärmeliger Freundlichkeit zunächst regelrecht überrumpelt. Doch Nathan ist kein Kumpeltyp und der vermeintlich nette Kurzurlaub entpuppt sich als klaustrophobischer Laborversuch, bei dem sich die Türen schließen und die Anlage nicht mehr ohne Weiteres verlassen werden kann.

Caleb (Domhnall Gleeson: „Harry Potter and the Deathly Hallows“, Part 1 und 2, 2010; „Anna Karenina“, 2012) erfährt recht schnell, welche Rolle ihm zugedacht ist. Naiv spekulierend vermutet er, dass in einer KI-Software möglicherweise neue Götter stecken, sein Gegenüber Nathan (Oscar Isaac: „The Bourne Legacy“, 2012; „Inside Llewyn Davis“, 2013, „A Most Violent Year“, 2014), bezieht den Begriff selbstverliebt auf sich selbst, ist er doch der Schöpfer der KI. Menschliche Hybris und Naivität prallen also aufeinander, bevor Caleb das erste Gespräch mit dem Androiden Ava (Alicia Vikander: „Anna Karenina“, 2012) führen kann, und es ist offensichtlich, dass zumindest die Naivität schnell verschwinden wird.

Wie in einem Laborversuch unterteilt Alex Garland mit Zwischentiteln die Etappen des Films in Abschnitte. Auch Caleb verhält sich in den Gesprächen mit Ava methodisch und organisiert, aber während der von Nathan per Kamera überwachten Versuchssitzungen wird er zunehmend von Avas neugierigem und charmanten Auftreten überwältigt. Besonders auch, weil der Android eine Testfrage rhetorisch durchschaut und mit einer schlagfertigen Gegenfrage einfach den Spieß umdreht.
Humor? Sarkasmus? Alles ein Beweis von Intelligenz?

Caleb erfährt von Nathan, dass Ava ein bio-chemisches Gehirn mit hoher Lernfähigkeit besitzt und damit nicht ausschließlich software-basiert funktioniert. Zudem besitzt der Android sensorische Rezeptoren, die Ava eine eigene Sexualität ermöglichen. Es sei inkonsequent, beim Test einer KI auf so ein diskretes Merkmal zu verzichten, erklärt Nathan.
Dass ein anderer, allerdings stummer weiblicher Android Nathan offenbar als Dienerin und Sexsklavin dient, löst bei Caleb Widerwillen aus. 
In dem fensterlosen Labor stimmt etwas nicht. Caleb dämmert dies, als Ava ihn während eines Stromausfalls davor warnt, Nathan zu trauen.
Die narzisstischen Eigenschaften seines Gastgebers hat Caleb inzwischen kennengelernt, nun tauchen auch noch ethische Fragen auf. Als er fragt, was mit Ava passieren wird, falls sie den Test nicht besteht, erklärt Nathan, dass Ava ein Prototyp sei und er vor der Konstruktion der finalen Version steht. Ein Scheitern des Test würde bedeuten, dass Ava „formatiert“ und ihr Gedächtnis gelöscht wird. Caleb entwendet daraufhin dem stockbetrunkenen Nathan die Key Card und entdeckt auf einem Laborcomputer zahlreiche Videoprotokolle, die Nathans Versuche mit Avas Vorgängermodellen dokumentieren. Die Videos zeigen einen gefühlosen Entwickler, dem es offensichtlich völlig egal ist, dass seine Geschöpfe entweder wahnsinnig werden oder lethargisch kollabieren. Caleb ist nun klar, dass er Ava aus dem Labor befreien muss.


Was Androiden denken und fühlen – oder auch nicht

Alex Garland, der als Autor u.a. die Filmskripts für Danny Boyles „28 Days Later“ und „Sunshine“ geschrieben hat, orientiert sich in seinem Regiedebüt durchaus an dem von Alan Turing 1950 erdachten Test, allerdings anders als erwartet. Turing hatte sein Imitationsspiel zunächst für menschliche Teilnehmer entwickelt. Ein Fragesteller sollte herausfinden, welcher seiner unsichtbaren Gesprächspartner ein Mann und wer eine Frau ist. Dass das Täuschen und Manipulieren bei einer der Personen zur Versuchsanordnung gehörte, während die andere den Fragesteller unbedingt unterstützen musste, schloss keineswegs aus, das Test-Setting auch auf Mensch und Maschine zu übertragen – der Turing-Test. 

Angestaubt ist Turings Versuch nicht, bislang hat ihn allerdings kein Computerprogramm zufriedenstellend lösen können. Die Debatte über Turing hält an. Interessant scheint seine Frage zu sein, ob Menschen sich als Maschinen und Maschinen als denkende Entitäten beschreiben lassen. In den 1950er Jahren war man der Auffassung, dass beides kategorisch auszuschließen ist, aber der eigentliche Witz war Turings Überlegung, ob die Fragestellung nicht an sich unsinnig ist.
Dies ist wohl der Fall.

65 Jahre später ist die Hirnforschung immer noch nicht in der Lage zu erklären, was denn Bewusstsein ist, was Qualia sind und was eine ‚Person’ ausmacht. Aber man ist etwas weitergekommen, die Hypothesen sind interessant und teilweise können sie sogar empirisch verifiziert werden. Dabei schwanken die Vertreter der Neuro- und Kognitionsforschung zwischen einem Reduktionismus auf neuronale Substrate (mentale Zustände werden durch lokale neuronale Zustände markiert) und der Hypothese eines emergenten Bewusstseins (kurz gesagt: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile) hin und her. Aber wenn man sich nicht einmal selbst versteht, sind Spekulationen über KI eigentlich müßig.

Trotzdem können wir nicht von ihnen lassen.

Wenn man António Damásios Konzept Glauben schenkt, dann ist menschliches Bewusstsein, und damit auch unsere spezifische Intelligenz, unlösbar mit unseren körperlichen Zuständen verknüpft. Der portugiesische Neurowissenschaftler beschreibt in seinem Buch „Descartes’ Irrtum“, dass wir emotionale Erfahrungen in einem körpereigenen Signalsystem speichern, den somatischen Markern. Diese wiederum liefern uns in Entscheidungssituationen ein erstes Feedback, lange bevor wir mit sprachlichen oder analytischen Mitteln beginnen, unsere Entscheidungen reflektiert anzugehen. Die Trennung von Geist und Körper, bekannt als Leib-Seele-Dualismus, könnte tatsächlich einer der größten Irrtümer der Philosophiegeschichte sein.


Bewusstsein als körperliche Erfahrung ist deshalb etwas, was der weibliche Android in „Ex machina“ nicht besitzen kann, auch wenn sich Ava zunächst hübsche Kleider anzieht und sich dann auch Haut- und Fleisch-Implante aufträgt. Wenn Körper und Fühlen und Denken gemäß Damásio zusammengehören, so bedeutet dies aber nicht, dass Denken ohne Körper unmöglich ist. Womit man wieder bei Turing gelandet ist.
Dass Ava nicht nur denken kann, sondern auch versteht, was Menschen fühlen, wird in Garlands Film immer deutlicher. Sie flirtet mit Caleb, macht sich hübsch für ihn, schafft intime Situationen und weckt seine Beschützerinstinkte. Alicia Vikanders Spiel ist ein kleines Wunder aus Schauspielkunst und verblüffender Tricktechnik. Und obwohl durch die netzartige Bekleidung die Mechanik des stählernen Skeletts durchschimmert, ist man als Zuschauer geneigt zu glauben, dass der Android ‚menschlich’ ist.
Eine moderne Fragestellung des Bewusstseins würde nun lauten: Erlebt die KI ihre mentalen Zustände auch? So wie wir Schmerz oder die Farbe Rot auf besondere Weise erleben? Oder ist Denken und intentionales Handeln auch ohne dieses diskrete menschliche Charakteristikum möglich?

Soweit treibt Garland die Überlegungen seiner Figuren in „Ex machina“ zunächst nicht. Caleb will wissen, woher Ava ihr Wissen bezieht und Nathan erklärt es ihm: Seine KI, und dies ist durchaus witzig oder Angst einflößend, bezieht es nicht aus einer eigenen Kindheit, aus Erziehung und Erfahrung, aus emotionalen Erlebnissen und den Erfahrungen von Glück und Enttäuschung, sondern aus dem World Wide Web.
Früher dachten immer alle, dass Suchmaschinen die Sammlung dessen seien, was die Menschen denken, erklärt Nathan ganz zu Anfang. Es ist aber ganz anders: Suchmaschinen offenbaren uns, wie die Menschen denken.
Ava ist also mit dem gefüttert worden, wonach wir bei Google suchen und zieht ihre eigenen Schlüsse daraus. Sie filtert quasi die Archetypen unserer Bedürfnisse heraus. Ava ist also eigentlich eine Meta-Suchmaschine, die allein durch die gigantische Menge der angelieferten Daten lernt, nach Verknüpfungen und Mustern zu suchen. Dies entspricht in groben Zügen dem, was in einem Goggle Brain-Projekt im kalifornischen Mountain View derzeit versucht wird (1). Stichwort: Deep Learning.

Genauso wie die Betreiber von Cookies und Suchmaschinen unsere Daten erfassen, abspeichern und analysieren, damit wir uns in der personalisierten Werbung wiedererkennen, spiegeln auch Calebs Gespräche mit Ava zunehmend deren ‚Verstehen’ von Calebs Empfindungen wider. Aber wie im realen Leben und im virtuellen Web ist dies ohne Strategie und Intentionalität kaum denkbar. Doch welche Ziele verfolgt Ava?
Auch der Zuschauer findet sich plötzlich in der fiktiven Versuchsanordnung des Films wieder und läuft wie im wirklichen Leben vor eine Wand, hinter der sich komplexe und unverständliche Strukturen befinden. Wenn wir Caleb sprechen hören, können wir die Bedeutung seiner Fragen verstehen. Avas Antworten können wir zwar grammatikalisch und semantisch analysieren, aber nicht restlos verstehen, weil wir nicht fühlen können, wie sich ihr Denken und ihre Wortbedeutungen anfühlen.Hat KI ihre eigenen Qualia?

 
Aber wie bei Turing ist die Täuschung in "Ex machina" Teil des raffinierten Spiels. Ausgerechnet der manipulative und egozentrische Nathan ist bereits einen Schritt weiter: Ihm ist klar, dass die Künstliche Intelligenz den Sieg davontragen wird und Menschen in der Welt der denkenden Maschinen irgendwann die Rolle bemitleidenswerter Tiere einnehmen werden.
Aber wie werden sie  mit uns verfahren?
Es ist deshalb kein überraschender Plot-Twist, dass nicht Ava die Testperson ist, sondern Caleb. Die eigentliche Frage lautet: Wer täuscht denn nun wen und mit welchen Mitteln?


Die Träume des Kinos

Künstliche Intelligenz hat das Kino seit Fritz Langs „Metropolis“ beschäftigt. Und häufig ging es dabei um die Frage: Ist sie menschlich? Ob diese Frage überhaupt Sinn macht, ist eine Sache. Die Antworten, die das Kino gab, ist eine andere. Kino befriedigt Ängste und Sehnsüchte, mal im Diskurs, häufiger aber als Frage nach der Emotion. Und immer wieder ging es um die Suche nach dem Menschlichen im Nicht-Menschlichen.

Das gab es rudimentär im „Terminator“ zu entdecken: Die Maschine musste in einer Art von Rollenspiel den Vater mimen und eigentlich sollte es klar sein, dass dies nur eine freundliche Täuschung des Zuschauers sein konnte. „Robocop“ musste dagegen seine Erinnerungen zurückerobern, um unsere empathische Auslegung seiner Identität als ‚Person’ emotional zu unterfüttern.

Bleiben noch die Ängste, mit denen das Sci-Fi-Kino ebenfalls lustvoll spielt, wenn es um denkende Maschinen geht. Etwa, wenn in „2001 – A Space Odyssee“ der Bordcomputer HAL notwendig verrückt wird, weil er die Dilemmata seines Auftrags nicht anders lösen kann. Ein Running Gag des Genres ist auch die Angst vor einer vom Organischen losgelösten Evolution des menschlichen Geistes in einem Supercomputer („Transcendence“, 2014), der trotz (oder wegen?) seines humanen Ursprungs zu einer weltbeherrschenden Superintelligenz mutiert. Und so zeigt das Kino, dass wir KI in ihren unterschiedlichen Spielarten offenbar nur verstehen können, wenn wir unsere eigenen Gefühle auf sie projizieren und unterstellen, dass wir eine menschliche Antwort erhalten, auch wenn diese nur ein Spiegelbild unserer Defizite ist.

Beeindruckend führte Steven Spielberg in „A.I.“ vor, wie diese Projektionen funktionieren. Der zu Unrecht unterschätzte (2) Film demonstrierte, wie unsere emotionalen Übertragungen in die Sackgasse führen. Mit seinem Schlussbild zeigte Spielberg, dass die Welt keine Versöhnung bereithält, weder für Menschen noch für Andoriden. Jedenfalls nicht im Rahmen ihrer spezifischen ‚Programme’. „A.I.“ erzählt nicht von der Menschwerdung eines Androiden, sondern von der Selbst-Findung einer nicht-menschlichen Spezies im Rahmen der durch die Software festgelegten Denk- und Gefühlsmuster.

Am konsequentesten in Sachen KI war und ist Ridley Scotts „Blade Runner“. Scott verrätselte nicht die Identität seiner Hauptfigur (ist er selbst ein Replikant?), sondern brachte auch unsere paranoide Angst vor dem Künstlichen auf den Punkt. In „Blade Runner“ wird den Replikanten im Voight-Kampff-Test bereits durch die Testparameter unterstellt, dass sie empathiefrei sind, während der Film eher den Schluss zulässt, dass es die zur Ausmerzung entschlossenen Menschen längst nicht mehr sind. Der vermeintlich emotionslose Replikant Roy (Rutger Hauer) demonstriert am Ende des Films in seinem berühmten Monolog (3) kurz vor seinem Tod, dass die Poesie eines Androiden keineswegs die eines Menschen ist, aber Menschen verstehen können, dass es Poesie ist.

Spike Jonze’ „Her“ erzählte dagegen davon, dass Anthropomorphisierung zu unserem zukünftigen Umgang mit KI gehören wird – die Eigenschaft, Dingen menschliche Eigenschaften zuzuschreiben. Es scheint tatsächliche plausibel zu sein, dass wir uns während der Konfrontation mit einer Künstlichen Intelligenz nicht besonders für logische oder ontologische Probleme interessieren werden, sondern für den emotionalen Mehrwert des Ganzen. 


Dabei ist das nicht die Quintessenz des Problems. Es geht nicht darum, ob Maschinen denken. Auch nicht darum, ob sie Gefühle haben. Oder Qualia. Sondern darum, dass dies alles, wenn es denn eines Tages von uns erschaffen wird, definitiv nicht menschlich sein wird. Das aber macht die Kommunikation mit KI eigentlich noch spannender.

Trotz seiner interessanten Spekulationen bleibt „Ex machina“ hinter seinen großen Vorbildern ein wenig zurück, ist aber im Großen und Ganzen ein denkwürdiger Beitrag zum Thema. Die bildgewaltige Kinometapher Ridley Scotts wirkt immer noch wie ein Monolith und Spike Jonze’ phantasievolle Version war auch im Diskurs schlagfertiger, aber Garlands Film kann ordentlich mithalten, auch wenn das Filmende doch etwas zu konventionell geraten ist. Denn in „Ex machina“ bleibt den Protagonisten am Ende die gewalttätige Auseinandersetzung um die Deutungshoheit nicht erspart. Das müffelt ein wenig und riecht nach Klischee, ist innerhalb des von Garland entworfenen Plots aber plausibel.
Sollten wir jemals eine KI entwickeln, könnte sich zeigen, dass sie uns vermutlich studieren wird, um sich danach von uns abzuwenden. Entweder, weil wir zu stupide sind oder weil sie andere Interessen hat als eine biologische Entität. Die Frage nach der Intelligenz rückt dann aus dem Zentrum und zeigt eigentlich nur, dass menschliche Intelligenz-Tests für eine KI nur die menschlichen Hypothesen und Parameter replizieren.

Data hat dies in „The Quality of Life“ (Star Trek – The Next Generation, Season 6, Ep. 9) auf den Punkt gebracht: Der Android hat erst gar nicht nach Intelligenz gefragt, sondern Dr. Crusher mit einer anderen Frage konfrontiert: „Was ist Leben?“ Dabei ging es um die sogenannten Exocomps, Maschinen, die in der Lage sind, selbstständig Werkzeuge für unterschiedliche, meist gefährliche Einsatzzwecke zu bauen. Als eine der Maschinen einen Einsatzort verlässt, kurz bevor es zu einem Störfall kommt, wird Data stutzig. Handelt so eine Maschine? Nach Datas Hypothese folgen alle Lebensformen der Prämisse, ihr Leben zu erhalten.
Diese Überlegung scheint mir deutlich klüger zu sein als der ganze Klimbim mit Intelligenzmustern, Empfindungen und Gefühlen. Künstliche Intelligenz wird einfach ANDERS sein. Sie wird um ihr Leben bangen und angesichts der moralischen Verfassung ihrer Schöpfer damit beginnen zu kämpfen. Das wiederum hat Garland ziemlich überzeugend in „Ex machina“ vorgeführt. Es ist in etwa das, was passieren würde, wenn eine KI das dritte Asimov'sche Gesetz der Robotik an die erste Stelle stellt und die beiden anderen kassiert.

(1) Zum Thema
Deep Learning empfehle ich den Spektrum-Aufsatz „Wie Maschinen lernen lernen". Fortgeschrittene können sich gleich auf der Homepage des Projekts umschauen.

(2) Lesenswert ist hier John Searles vernichtende Kritik in DIE ZEIT (6.9.2001).

(3) “I’ve seen things you people wouldn’t believe. Attack ships on fire off the shoulder of Orion. I watched C-beams glitter in the dark near the Tannhauser Gate. All those moments will be lost in time like tears in rain ... Time to die.”


Noten: BigDoc, Klawer = 2

Ex Machina, GB 2015 - Regie, Buch: Alex Garland. Kamera: Rob Hardy. D.: Domhnall Gleeson, Alicia Vikander, Oscar Isaac. Laufzeit: 108 Minuten.

Freitag, 24. April 2015

Avengers: Age of Ultron

Die Helden werden müde. Nicht alle, aber bei einem wird es überdeutlich. Tony Stark aka Iron Man macht sich Gedanken über ein „Global Defense Program“ namens Ultron. Er hat wieder einmal nichts dazu gelernt. Aber auch den anderen Superhelden geht es nicht gut. Sie retten die Welt und gehören eigentlich auf die Couch eines guten Psychiaters.

In Marvel’s The Avengers hatte Iron Man (Robert Downey jr.) die Welt auf spektakuläre Weise gerettet. In Iron Man 3 zahlt der narzisstische Rüstungsfabrikant dann den Preis: eine posttraumatische Belastungsstörung quält Tony Stark. Er hat einfach genug von allem: Waffentechnologie in falschen Händen hatte ihren Erbauer wie eine Nemesis immer wieder heimgesucht. Klüger hat es ihn nicht gemacht. Nun soll ein von ihm programmiertes globales Sicherheitsnetzwerk von der KI (Künstliche Intelligenz) Ultron gesteuert werden und den Avengers häufiger eine Verschnaufpause verschaffen. Ja richtig, Iron Man hat Captain America: Winter Soldier komplett verschlafen, sonst hätte er verstanden, dass größenwahnsinnige Weiterentwicklungen des Patriot Acts direkt in den Faschismus führen.

Iron Man war schon immer der technisch fortgeschrittenste Superheld, politisch aber der dümmste. Beinahe folgerichtig ist er dann während der Umsetzung des Ultron-Programms dämlich genug, um einen der berühmt-berüchtigten Infinity Steine, den Mind Gem, zu verwenden. Als die offenbar nicht ganz ausgereifte Software dank des mysteriösen ‚Denksteins’ (zuletzt wurde in Guardians of the Galaxy einem Infinity Stein nachgejagt) initialisiert wird, stört sie nicht nur einen netten Herrenabend der Avengers, sondern macht auch J.A.R.V.I.S. platt, Starks nicht ganz so empathiefreie KI, die sich mittlerweile auf Unternehmensführung spezialisiert hat. Danach erklärt Ultron, dass die Erde nur dann wirklich sicher ist, wenn die Spezies Mensch ausgerottet ist und dass er zuvor erst mal mit den Avengers anfängt. Irgendwie konsequent. Darüber sollten sich auch einmal die Grünen Gedanken machen.


Interessante Schurken

Damit präsentiert Avengers: Age of Ultron einen wirklich interessanten Oberschurken. So gehört es sich in einem Comic, erst Recht im Marvel-Universum, das zudem immer wieder intelligente Zwischentöne in die Handlung einschmuggelt. Ultron, dem James Spader (Blacklist) seine suggestive Stimme geliehen hat, sorgt auf seine Weise dafür. Er ist das ultra-brutale Gegenteil der freundlichen KI aus Her. Nicht wirklich böse, eher biblisch, denn nach der alttestamentarischen Ausrottung der Menschheit soll eine neue Generation alles besser machen. Doch anders als bei Noah wird es in Ultrons Vision keine Arche geben. 

Um dem jugendlichen Publikum keine virtuelle KI zuzumuten, manifestiert sich Ultron in Joss Whedons neuer, allerdings auch letzter Comic-Adaption, als Roboter im Terminator-Look und kann diese mechanischen Hüllen auch ziemlich flott wechseln. Zeitgleich kontrolliert er ein Heer fliegender Drohnen. Erst als ihm der Rückzug ins Internet versperrt wird, geht es ihm an den Kragen.

Nebenschurken wie Baron von Strucker (Thomas Kretschmann) verschwinden dagegen etwas zu schnell aus der Handlung, sodass auch die Aktivitäten von Hydra vorläufig in den Hintergrund treten. Dafür erfahren die Avengers auf der Jagd nach Ultron durch zwei neue Superhelden kräftigen Gegenwind: Aaron Taylor-Johnson (Kick-Ass) spielt Pietro Maximoff aka Quicksilver (bekannt aus den X-Men), Elisabeth Olsen ist seine Zwillingsschwester Wanda aka Scarlet Witch. Die Zwillinge arbeiten zunächst für von Strucker, schließen sich dann Ultron an und wechseln schließlich in das Lager der Avengers, als sie den Ernst der Lage erkennen. Da die Eltern der beiden umgekommen sind, weil die von Stark Industries produzierten Waffen wieder mal in den falschen Händen gelandet sind, haben sie anfänglich noch eine Rechnung mit dem ‚Blechmann’ zu begleichen. Quicksilver hilft dabei seine übermenschliche Schnelligkeit, während die Talente von Scarlet Witch vielfältiger sind: dank ihrer telekinetischen und hypnotischen Fähigkeiten vergiftet sie die Avengers mental mit schrecklichen Visionen – und rennt dabei offene Türen ein. 


Die Depression der Helden

Scarlet Witch ist nicht der Auslöser für die emotionale Misere der Superhelden, aber ein wirkungsvoller Brandbeschleuniger. Iron Man plagt eine Vision, in der er versagt hat und nun vor seinen sterbenden und toten Mitstreitern steht. Thor (Chris Hemsworth) wird ebenfalls von Traumgesichten beeindruckt, die ihn beunruhigen, während Black Widow (Scarlett Johansson) üble Flashbacks ihrer brutalen Berufsausbildung mitsamt der an ihr vollzogenen Sterilisation peinigen. Und Hulk (Mark Ruffalo) rastet aufgrund des manipulativen Eingriffs von Scarlet Witch gar völlig aus, was etliche Zivilisten das Leben kostet und Bruce Banner in eine akute Suizidgefährdung stürzt. Dabei gelingen dem Film trotz der rastlosen Actionsequenzen einige schöne und intime Szenen mit Hulk und Black Widow. Doch Banner, der den Hulk in sich immer mehr fürchtet, ist auch durch dieses Love Interest nicht mehr aus seiner tiefen Depression zu befreien und trifft am Ende eine fatale Entscheidung.
Schwer angeschlagen sind sie, die Marvel-Helden. Am wenigsten scheint dies Captain America (Chris Evans) zu treffen, aber der glaubt noch an Teamwork und hat zudem nur noch wenig Illusionen zu verlieren.


Kein Film für Einsteiger

Joss Whedons Marvel’s The Avengers (2012) hält nicht nur im Rückblick, sondern auch im direkten Vergleich die konsistentere Story Arc bereit. Avengers: Age of Ultron kann nicht ganz mithalten. Das hat verschiedene Gründe.
Whedon stürzt mit einem Cold Open den Zuschauer gleich in der ersten Filmminute in eine wilde Schlacht. Die Avengers habenden Auftrag, Lokis Zepter dem Hydra-Schurken Baron von Strucker zu entwenden. Keine Zeit zum Luftholen: in einer beeindruckenden Choreografie wird, noch bevor der Filmtitel zu sehen ist, eine Geschichte komprimiert, die mühelos für einen ganzen Film gereicht hätte. Die elegante Plansequenz ist ein Beispiel dafür, wie man 3 D umsetzen sollte. Rasante Prologe wie jener in
Age of Ultron sind keine Seltenheit, aber damit wird auch deutlich gemacht, dass der Film einerseits die Schlagzahl erhöhen will, sich andererseits nur noch bedingt für Einsteiger eignet.

Das Marvel Cinematic Universe (MCU) besteht mittlerweile aus elf Filmen und die Planung des Franchise reicht bis ins Jahr 2019. So erwarten den Fan unter anderem Captain America: Civil Wars (2016) und 2018 und 2019 die Teile 1 und 2 des Avengers-Abenteuers Infinity War. Zudem stehen neue Figuren wie Dr. Strange, Black Panther und Captain Marvel auf der Türschwelle, während mit
Ant-Man eine weitere wichtige Figur in diesem Sommer den Brückenschlag zwischen den Comic- und dem Film-Universum von Marvel herstellen wird. Auch Spider-Man (dessen Filmrechte Marvel wohl etwas vorschnell abgegeben hat) steht im Verdacht, in naher Zukunft bei den Avengers mitzumischen. 

Damit wird alles noch komplexer und Avengers: Age of Ultron zeigt, dass die Planer nur noch eingeschränkt auf Zuschauer Rücksicht nehmen wollen, denen die Marvel-Mythologie nicht geläufig ist. Wer also Konsistenz wünscht, wird sich alles anschauen müssen, was die Comic-Schmiede auf die Leinwand bringt. So gibt es in
Age of Ultron dezente Querverweise für Kenner, bei denen der Quereinsteiger nur noch Bahnhof versteht. Die Comic-Nerds, die wissen, dass es irgendwann zwischen den Avengers und den X-Men krachen wird, werden (ähnlich wie auch bei The Walking Dead) das filmische Marvel-Universum dafür lieben, dass bereits jetzt schon Verbindungen zwischen beiden Welten angedeutet werden.
Mit anderen Worten: Marvels MCU ist mittlerweile ein Biotop wie die Welt von Apple, in der auch alles miteinander verzahnt ist. Die Konsumenten sind daher auch aufgefordert, den TV-Ableger Agents of S.H.I.E.L.D zu kennen. Die Serie wurde in der Mitte der ersten Season massiv von der Ereignissen in Captain America: The Winter Soldier beeinflusst, wobei TV-Ausstrahlung und Kinostart passend synchronisiert wurden. Dieser Effekt geht natürlich für deutsche Zuschauer, die die Serie erst zwei Jahre später im Free TV sehen konnten, verloren. Der Einfluss auf den Handlungsverlauf der Serie erzeugte wiederum einen neuen Output, der es ermöglichte, die Rolle von
S.H.I.E.L.D und Nick Fury im neuen Avengers-Film besser verstehen zu können. In den USA wurde die stringente Marvel-Politik bereits kritisiert, zumal der Druck auf die kreativen Köpfe nicht geringer wird. Alles muss passen, Logikbrüche werden von den Nerds schnell erkannt. Standalone-Filme werden daher immer unwahrscheinlicher, das horizontale, besser gesagt: das crossmediale Erzählen fordert seinen Preis. Und der Zuschauer? Er ist entweder ganz im Rettungsboot oder er ertrinkt.

Gigantomachie

Dramaturgisch hakt es gelegentlich im neuen Marvel-Film. Bislang gelang es meistens, den Rhythmus zwischen Hyperaction und Dialogszenen auszubalancieren. Auch in Avengers: Age of Ultron gibt es Intermezzi, die dem Zuschauer Zeit zur Besinnung geben. Trotzdem wirkt Joss Whedons Film insgesamt etwas hektischer und nervöser, allerdings ohne dabei eine Bruchlandung hinzulegen.
Das liegt nicht nur an den neuen Figuren, zu denen sich am Ende auch noch J.A.R.V.I.S. als Vision (Paul Bettany) dazugesellt, sondern auch an dem Zwang, möglichst vielen bekannten Figuren bis hin zu den Nebenfiguren einen Auftritt zu verschaffen. Für Hawkeye (Jeremy Renner) wurde eine gelungene Familienszene eingebaut, Nick Furys (Samuel L. Jackson) Gastauftritt ist dramaturgisch plausibel, aber die bruchstückhaften Kurzszenen von Don Cheadle (War Machine), Anthony Mackie (Falcon), Idris Elba (Heimdall) und Stellan Skarsgard (Erik Selvig) waren verzichtbar. Es sei denn, man wollte zeigen, dass man mit Grandezza aus dem Vollen schöpfen kann. Vielleicht wird es irgendwann einmal die ursprünglich vierzig Minuten längere Schnittfassung geben. Im Moment sehen wir die Kurzfassung. Nachtrag: Der Extended Cut wird bereits angekündigt.

Auch die technische Umsetzung kann – auch hier sind es lediglich Nuancen – nicht durchgehend überzeugen. Die 3 D-Effekte werden dezent und überzeugend eingesetzt, es gibt einige spektakuläre Momente, etwa die Pre-Title-Sequence, in der die Kampfszenen durch die räumliche Dimension eine besondere Qualität erhalten. Häufig erschließt sich aber nicht der räumliche Kontext der Figuren. Abzüge gibt es deshalb überraschenderweise bei der Montage, die im Vergleich zu Marvel’s The Avengers zu aufgeregt ausfällt, obwohl mit Jeffrey Ford und Lisa Lassek bewährte Kräfte am Ball waren. Das Schnitttempo ist zu hoch, was für 3 D einfach nur Gift ist.

Wer spektakuläre CGI-Action erwartet, wird nicht enttäuscht, aber die Avengers sorgten im ersten Teil der Saga offen gestanden für mehr Verblüffung. Wenn im finalen Höhepunkt vom Bösewicht Ultron eine ganze Stadt aus der Erdoberfläche herausgeschält wird, hat man dies bereits in X-Men auf ähnliche Weise gesehen – wie auch die Bullet Time-Szene von Quicksilver. Nur war dies alles bei den X-Men deutlich spektakulärer.

Vielleicht lässt sich manches eben nicht mehr toppen. Um so bedauerlicher ist es, dass Joss Whedon aus der Marvel-Achterbahn aussteigen wird. Damit verliert Marvel nicht nur einen leidenschaftlichen Regisseur und Autor, sondern auch den Mann, der sich bislang alle Marvel-Scripts angeschaut hatte und zusammen mit 'Showrunner' Kevin Feige für Kontinuität sorgte. Zum Glück hat Whedon in seinem letzten Film für Marvel den Markenkern der Saga noch einmal gestärkt: Figurenentwicklung und intelligenter Humor gehören dazu und hier enttäuscht der Film auf keinen Fall. Die Szenen mit Hulk und Black Widow hätte man in Hollywoods Comic-Blockbuster-Agenda vor 30, 40 Jahren vergeblich gesucht. Und obwohl
Age of Ultron altersmäßig die gleiche Zielgruppe adressiert wie die gegenwärtig angesagten Teenager-Dystopien, geht es im Marvel-Universum deutlich erwachsener zu. Die Referenzen an virulente Gegenwartsthemen und ihre drastische Übersteigerung in der Sprache des Comics sorgen für jenen bekannt bissigen Witz, dem jugendlichen Zuschauer wohl nicht auf Anhieb folgen können, der das erwachsene Publikum aber erneut amüsieren wird. Reines Popcorn-Kino sieht anders aus.

So ist auch das ironische Ende des Films ein intelligenter Schlusskommentar. Wenn die Kamera während des Abspanns über in Marmor gegossenen Avengers gleitet, so erinnert dies augenzwinkernd an das Hochrelief des Pergamonaltars, dessen Sockel den Kampf der olympischen Götter gegen die Giganten dargestellt hat – die sogenannte Gigantomachie. Bereits vor 2200 Jahren hat man sich also Superhelden-Geschichten erzählt. Oder so. Das Bildungsbürgertum hat früher ergriffen die Erhabenheit der Antike bestaunt. Heute wird im Kino gegrinst, wenn Thor den Hammer schwingt. Auch deshalb eine schöne Metapher.


Kritiken


„So vertraut auch Whedon letztlich auf gute alte Erzähler-Tugenden und Darsteller, die in ihre Rollen hineingewachsen sind und das Heldenspektakel glaubhaft und berührend machen. Zusammen haben sie noch einmal das eigentlich Unmögliche vollbracht: Popcorn-Kino mit Helden, Herz und Verstand“ (Andreas Borcholte in SPON)

„Mit Kenneth Branaghs Thor, Iron Man 3 und Return of the First Avenger hatte Marvel in den vergangenen Jahren bewiesen, dass innerhalb des Comic-Formats eine Menge kreativer Spielraum für zeitgeschichtliche Verweise, metaphorische Subtexte und ein gerüttelt Maß an Selbstironie besteht. Von alledem ist in dem lieblos zusammengeschütteten Age of Ultron nichts mehr zu spüren. Die Mixtur erinnert eher an ein Resteessen als an ein Menü. Hier wurde einfach noch einmal die Gelddruck-Maschine angeworfen und es steht zu befürchten, dass sich das Prinzip maximaler Profit bei minimaler Originalität erneut auszahlen wird“ (Martin Schwickert in ZEIT ONLINE).

Nachdrücklich empfehle ich Dietmar Daths sehr lange, sehr gründliche und detailversessene Kritik (FAZ), die zeigt, dass ein Kritiker auch Fan sein kann:
„Durchtriebenere Liebe zum Genre und größere Sorgfalt mitten im Bombast aber als bei „Avengers: Age of Ultron“ von Joss Whedon wird man nirgends finden. Denn Whedons Gespür für Momente, die alles zusammenfassen, was man von Spektakeldramen über außergewöhnliche Gestalten in extrem unglaubwürdigen Situationen erwartet, wenn man den Unglauben ans Unmögliche für zwei Stunden abstreifen will, schenkt ihm alle paar Minuten Szenen, an denen man künftige Kader für die Arbeit im Genre noch jahrzehntelang ausbilden wird...“




Noten: Melonie, BigDoc = 2


Avengers: Age of Ultron - USA 2015 - Regie, Buch: Joss Whedon - Laufzeit: 141 Minuten - FSK: ab 12 - D.: Robert Downey Jr., Chris Evens, Chris Hemsworth, Scartlett Johansson, Mark Ruffalo, Jeremy Renner, Elisabeth Olsen, Aaron Taylor-Johnson, James Spader, Paul Bettany, Don Cheadle, Cobie Smoulders, Samuel L. Jackson.

Donnerstag, 23. April 2015

Teenager-Dystopien: Immer diese ätzenden Verbote!

In naher oder ferner Zukunft ist die Gesellschaft für Jugendliche nicht besser geworden. Immer wird etwas verboten. In den Dystopien, die Jugendliteratur und Kino zu bieten haben, ist das in der Regel noch krasser als gewohnt. Zum Glück gibt es den Helden – vorzugsweise die Heldin -, die alle rettet und in eine glorreiche Zukunft führt. Damit lässt sich Geld verdienen, und zwar sehr viel.

Man sollte sich abgewöhnen, von Utopien und Dystopien zu sprechen. Dann landet man nämlich sehr schnell bei quasi-platonischen Vorstellungen, in denen die Ideen herumschwirren und die Artefakte ihre Symbole sind. Besser ist es, von utopischen und dystopischen Erzählungen zu sprechen. So wird klar, dass A eine Geschichte erzählt, die von B konsumiert wird. Auf diese Weise haben wir es wenigstens mit einer Beziehung zu tun, deren Dialektik auf ein Drittes verweist. Ob dieses Dritte sich dann beim Nachdenken als ‚Sinn’ entpuppt oder als Gelddruckmaschine, bleibt zu klären.

Dystopische Erzählungen sind Gedankenexperimente: Wie kann eine zukünftige Gesellschaft aussehen, wenn sie alles zerstört, was im Hier und Heute noch als regelkonform betrachtet wird? Welche Gründe hat sie? Und wie reagieren Menschen auf den Verlust des Alten? Wenn sie überhaupt noch das Alte kennen!
Die Utopie betreibt das gleiche Geschäft – nur andersrum. Im Blochschen Sinne des Vor-Scheins beschreibt sie, was sein soll – ein besseres, gerechteres Leben, die Überwindung gravierender gesellschaftlicher Probleme, Sinn, Freiheit, Schönheit, Glück. Aber das ist halt nicht so spannend. Besonders nicht für Jugendliche.

Spannend dürfte für die Zielgruppe allerdings sein, dass vielen dystopischen Erzählungen etwas Irreales anhaftet. Eine Welt voller Angst und Schrecken ist genauso irreal wie ein liebevolles Utopia, in dem sich alle Streicheleinheiten verpassen. Beides wirkt wie aus der Zeit genommen und scheint, obwohl es mit viel Getöse das Gegenteil behauptet, irgendwie unhistorisch zu sein. Dystopische Geschichten folgen dabei dem Prinzip des „Cold Open“: die Figur werden einfach in die Katastrophe hineingeworfen. Das Irreale ist „the Cream in the Coffee“.

Das ist in Dystopien für Erwachsene anders: Michael Radfords Verfilmung von „1984“ hat sich ebenso wenig verbraucht wie Francois Truffauts „Fahrenheit 451“ oder Richards Fleischers „Soylent Green“. Diese Filme haben das Genre, das traditionell mit Science Fiction verbandelt ist, aber auf historischer Erfahrung basiert, parametrisiert. 
Dagegen erfährt man in „Mad Max“ nie wirklich, warum die Welt so ist wie sie ist. In „Interstellar“ nimmt sich Christopher Nolan etwas mehr Zeit und man kann wenigsten ahnen, warum die Erde ökologisch den Bach heruntergegangen ist und wieso die ‚sanften’ Öko-Terroristen die Technologie-Geschichte umschreiben wollen.

Schreckliche Welten für Kids sind schablonenhafter: In „Hüter der Erinnerung – The Giver“ hat man wie in „Star Trek“ die Armut, die Kriege und die Gewalt abgeschafft, auf der „Enterprise“ wirft sich aber nicht wie in der Verfilmung von Lois Lowrys Roman morgens Pillen ein, um die Gefühle zu unterdrücken. 
Auch wenn es Ausnahmen gibt, wirken viele dystopische Erzählungen für Jugendliche so, als hätte man sich die Versuchsanordnung im literarischen Labor ausgedacht oder ganz einfach ein paar bekannte Formeln neu arrangiert, um alten Wein in neuen Schläuchen zu verkaufen. Letzteres scheint besonders für jenes Genre zu gelten, dem bereits ein eigener Name verpasst wurde: nämlich „Teenager-Dystopie“.


Abschied von der Geschichte: somnambul im Kinosaal

An sich müssten sich Autoren und Filmemacher nicht so schrecklich bei der Erfindung zündender Plots verrenken. Unsere reale Geschichte bietet ausreichend Stoff, meistens den von der schlimmen Sorte.
 Dies liegt auch am Zeitpfeil. Die klassische Utopie begründet sich durch recht vage Vorstellungen von dem, was sein soll. Bereits Karl Marx konnte die bessere Welt nicht beschreiben, er wollte die schlechte erst mal abschaffen. Die Utopie hat nichts erfahren und kann nur fiktiv erproben, was Sache ist. Sie irrt sich daher oft, so wie es auch die großen Futurologen der Vergangenheit getan haben. 

Die Dystopie hat dagegen Zugriff auf historisches Wissen, denn alles Üble, was man sich ausdenkt, ist irgendwann in ähnlicher Form schon geschehen. Orwell wird genaue Kenntnisse von den Schauprozessen in der Sowjetunion gehabt haben, um ein totalitäres Brainwash-System zu erdenken, das seine Gewalt durch die Fälschung historischer Fakten und die Einführung eines Neusprechs ausübt. Und wenn man sich in der Gegenwart umschaut, dann liefern Datenmassenspeicherung, der globale Mitschnitt unserer Handygespräche, „Apple Watch“ und Google Glass“ doch genug interessante Ausgangsbedingungen für phantasievolle Geschichte über eine neue „Brave New World“, oder? Aber vielleicht will man das nicht wissen.

Das war nämlich schon mal anders. Utopische und dystopische Erzählungen sind Kinder der Weltliteratur, auch wenn man sie heute für ein Subgenre des Sci-Fi-Films hält. Thomas Morus hat sein „Utopia“ im 16. Jh. geschrieben, die pessimistischen Gegenentwürfe wie Orwells „1984“ und Huxleys „Brave New World“ sind Reflexe des 20. Jh. auf die Moderne und den Siegeszug des Faschismus in Europa. Beim Schreiben wurde historische Erfahrung offenbar noch ernst genommen.
Da man aber nicht mit einer Handvoll kanonisierter Standardwerke über die Runden kommen kann, blieben beide Erzählstrategien spannend genug, um die Epigonen auf den Plan zu rufen. In der Science-Fiction-Literatur sind Dystopien ein Muss, in der Jugendliteratur sind sie seit geraumer Zeit ein Renner. 
Dabei ist die Utopie als Klassenstreber und langweilige pädagogische Belehrungsstunde auf der Strecke geblieben. Das Ausmalen möglicher Schrecken ist spannender – die Kunst lebt nicht erst seit Shakespeare von den Dramen über Macht und Intrige, Wahn und Unterdrückung, über die Zerstörung der Freundschaft und der Familie, anders gesagt: über Lug und Trug und warum Bösewichter die spannenderen Zeitgenossen sind.

Fehlt aber die historische Verzahnung, wie wir sie von großen Vorbildern kennen, haben dystopische Geschichten in Literatur und Film ganz einfach die Anfangsbedingungen willkürlich auf Null gesetzt und führen zudem ein Arsenal neuer Regeln ein. Die Simplifizierung spielt wie in einem Laborversuch durch, wie Menschen unter diesen neuen Bedingungen leben – und rebellieren. Denn dystopische Zustände sollen und müssen überwunden werden, koste es, was es wolle. Das erledigen aber nicht die Erwachsenen, sondern die Kids, neuerdings die Mädels.
Besonders dem jugendlichen Publikum will man dabei offenbar allzu Anstrengendes ersparen, folglich wird alles auf das Bildungsniveau Zehnjähriger heruntergebrochen, was die 14- bis 16-Jährigen im Kino dann nicht einmal merken.
Und dann diese Verbote! In Teri Terrys Roman „Zersplittert“ und dem Sequel „Gelöscht“ muss die weibliche Hauptfigur Kyla nett sein, weil sonst die Staatsgewalt zuschlägt. Aber schlimmer kann es eigentlich nicht werden, denn Kyla wurde „geslated“ – ihre Persönlichkeit wurde gelöscht. Was ist ihr Geheimnis? Zum Glück gibt es da diese Erinnerungsfetzen ...
In Scott Westerfelds „Uglies“-Serie verpasst Vater Staat den Teenies neben einer Schönheits-Operation offenbar auch eine Gehirnwäsche. Und so weiter. Es scheint, als würden die Autoren ihre Kernplots untereinander austauschen. Reiche Kinder können Stellvertreter buchen, die für ihre Verbrechen büßen. Im nächsten Buch wird Jesus Christus aus den Geschichtsbüchern gestrichen und im übernächsten ist die Liebe eine Seuche, man präferiert die Vernunft und der Autor kann sich wohl sicher sein, dass die Kids garantiert nicht „Invasion of the Body Snatchers“ gesehen haben und erst recht nicht all die alten Horror-Sci-Fis aus den 1950er Jahren kennen, in denen Gefühle etwas Böses sind oder man Angst haben muss, dass sie uns gestohlen werden. Die Jugendliteratur ist im Moment randvoll mit derartigen Plots abgefüllt, die Filmindustrie ist begeistert und sichert sich angesichts der überwältigenden Verkaufszahlen in weiser Vorausschau die Rechte. Kenntnisse der Literatur- und Filmgeschichte von Jugendlichen zu erwarten, wäre allerdings etwas betriebsblind, natürlich auch, weil Erwachsene unter dem gleichen klinischen Befund zu leiden haben.

Natürlich könnte man jetzt wieder zu Platon zurückkehren, dessen „Höhlengleichnis“ die Filmtheoretiker anzieht wie das Licht die Motten. Nicht ganz daneben lag der französische Filmtheoretiker Jean Louis Baudry, der Gemeinsamkeiten von Höhle und Kino entdeckte. Im dunklen Saal vor der Leinwand befänden sich die Zuschauer in einem realitätsfernen und schlafähnlichen Zustand. Manche scheinen gar zu träumen. Doch Baudry war wie auch Christian Metz dann doch eher an den psychoanalytischen Aspekten dieses Zustands interessiert, der uns im Moment doch arg auf den Nägeln brennen sollte. 



Wenn es schmeckt, kocht man immer das Gleiche

Vielleicht ist das gar nicht so kompliziert, wenn man sich die ökonomische Verwertungskette anschaut. Bücher und Produkte der Medienindustrie sind Waren, auch wenn diese vermeintlich platte Einsicht beinahe schon zum Gähnen ist. Mit Dystopien lässt sich richtig Geld verdienen. Und da das ideenarme und ausgelaugte Kino des 21. Jh. immer noch recht zielstrebig seine Verwertungstalente unter Beweis stellt, hängt es sich wie ein Parasit an erfolgreiche literarische Sujets, kauft die Rechte und verwurstet das Ganze massenkompatibel bis an die Grenze des Erträglichen.

Wie also strickt man eine gute Teenie-Dystopie zusammen? Hier sind die Topoi:

  • Nichts ist so, wie es erscheint.
  • Die Gedankenmanipulation durch Medien, Apparaturen, Chips und Aliens.
  • Die Unterdrückung der Gefühle.
  • Religiöse Kontrolle.
  • Ideologische Kontrolle.
  • Die reiche Oberschicht beutet alle anderen aus.
  • Post-Apokalypse.
  • Der jugendliche Außenseiter ist der Held.
  • Das Love Interest.
  • Der Initiationsritus.
  • Das Geheimnis.
  • Rebellion.

Übertragen auf aktuelle Teenie-Dystopien ergibt dies folgende Arrangements:

„Maze Runner“: Nichts ist so, wie es erscheint. Post-Apokalypse. Der jugendliche Außenseiter ist der Held. Das Love Interest. Der Initiationsritus. Das Geheimnis.
(Dank der „Lost“-Stimmung und der sehenswerten Settings ist der Film allerdings eher eine Abenteuergeschichte und gehört zu den besseren Exemplaren der Gattung).

„Hüter der Erinnerung – The Giver“: Nichts ist so, wie es erscheint. Die Unterdrückung der Gefühle. Die Auslöschung des Individuums. Ideologische Kontrolle. Der jugendliche Außenseiter ist der Held. Das Love Interest. Das Geheimnis. Rebellion.
(Dass die drogenabhängige Community alles in Schwarz-Weiß sieht, ist aus „Pleasantville“ geklaut. Dass man die Erinnerungen an die böse emotionale Vergangenheit allerdings von einem „Hüter“ bewahren lässt, ist genau strunzdämlich wie die Eindimensionalität fast aller Figuren. Leider, denn der Film von Phillip Noyce ist der einzige unter den aktuellen Produktionen, der sich in der Tradition von „1984“ mit dem Problem der historischen Wahrheit auseinandersetzen will. Wenn aber Flashbacks die verschwiegene Menschheitsgeschichte ins Bild setzen, sieht man neben Vietnam-Schnipseln und Bildern der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung nur Anheimelndes auf billigem Postkartenniveau).

„Seelen“: Die Gedankenmanipulation durch Aliens. Das Love Interest. Rebellion.
(Nomen est omen – eine seelenlose Geschichte, über die man wenig Gutes berichten kann. Eigentlich keine Teenie-Dystopie. In Deutschland an der Kasse gnadenlos gefloppt. Das macht Hoffnung).

„Die Bestimmung - Divergent“: Ideologische Kontrolle. Der jugendliche Außenseiter ist der Held. Der Initiationsritus. Rebellion.
(Die Unterteilung in eine Kastengesellschaft liefert den Auslöser für eine Reihe actionhaltiger Initiationsriten, deren kalkulierte Formelhaftigkeit beinahe traurig stimmt. Die Storyschablonen erinnern an die „Panem“-Filme. In Deutschland zum Glück ebenfalls gefloppt).

„Die Tribute von Panem - Mockingjay“: Post-Apokalypse. Die reiche Oberschicht beutet alle anderen aus. Die Gedankenmanipulation durch Medien. Der jugendliche Außenseiter ist der Held. Das Love Interest. Rebellion.
(Das Lieblingskind der Kritiker und der fast 6 Mio. Zuschauer in Deutschland hat offenbar durch seine medienkritischen Einsprengsel Pluspunkte gesammelt. Und das, obwohl immer noch der Verdacht im Raum steht, dass der Roman von Suzanne Collins ein Plagiat von Koushun Takamis „Battle Royal“ ist. In „Mockingjay“ fällt das Konzept dank einer langweiligen Dramaturgie vollends auf den Bauch, auch wenn die Heldin nun Propaganda-Videos in eigener Sache drehen muss. Eine Besprechung des 1. Teils gibt es hier).


Das Verständnis der Medienpädagogik ist nicht die Logik der Industrie

Aus medienpädagogischer Sicht scheint alles nachvollziehbar zu sein. „Jugendliche wollen wissen, was auf sie zukommt, welche Lebenswirklichkeit sie erwartet. Lebensstile und Lebensziele vermitteln sich auch über Filme, sie sind willkommene Projektionsflächen, die Jugendkulturen beeinflussen. In den dystopischen Filmen fokussiert sich ein Bild des Unbehagens und der Bedrohung, welches sich durch die konsequente Weiterentwicklung gegenwärtiger Missstände erklärt“, deutete vor einem Jahr der Dozent und Medienpädagoge Horst Schäfer die Bedürfnisse der Kids. Überwiegend ginge es ihnen um Selbstvertrauen und Mut, Anerkennung und Respekt, Freundschaft und Solidarität bei der emotionalen Wahrnehmung interessanter Identifikationsfiguren. Gleichzeitig würde auf diese Weise auf die eigenen pubertären und sozialen Nöte reagiert, etwa auf die Situation in der Schule und die Angst vor fehlenden Zukunftsperspektiven. Und je mehr sich die dystopischen Filme aus der aktuellen Lebensrealität der Jugendlichen ableitet, desto wirkungsvoller seien sie.
Leider kann Letzteres bei der Durchsicht der aktuellen Filmangebote nicht ohne Weiteres nachgewiesen werden. Alles, was in diesem Text untersucht wurde, hat mit der Lebensrealität der Jugendlichen nichts zu tun. Es sei denn, man bemüht die Psychoanalyse ...

Der filmindustrielle Aspekt der Teenager-Dystopien lässt sich dagegen schlüssiger erfassen: Adressierung einer klar umrissenen Zielgruppe (jugendliche Leser umsatzstarker dystopischer Romane), die symbiotische Beziehung zu den Autoren, die bereits mit Trilogien und/oder Serien die passende Steilvorlage liefern und last but not least die Kalkulierbarkeit des Invests.

Natürlich gibt es Teenager-Dystopien, die an der Kasse gescheitert sind, doch im Großen und Ganzen funktionieren die Filme, mit denen die große Lücke nach dem Mega-Erfolg der Fantasy-Filme à la Harry Potter (weltweites Einspielergebnis: 6 Mrd. US-Dollar) und “Twilight“ geschlossen werden sollte, dann doch sehr berechenbar. 
Man muss nicht einmal das Rad neu erfinden. Stereotypie und Formelhaftigkeit sind keine Attribute des Jugendkinos, sie charakterisieren auch das Kino der Gegenwart. Das ist auch in der Teenager-Dystopie so gewollt, das Pferd wird so lange geritten, bis es tot ist. Und die Industrie weiß schon lange, dass es gerade der Eskapismus ist, der zum Erfolg führt.

Teenager-Dystopien sind deshalb geschichtsvergessener. Vor drei Jahren habe ich in meiner Panem-Kritik noch geschrieben: „Wenn es Dystopien in Literatur und Film nicht gelingt, das Neue in einer repressiven Gesellschaft als das bereits vorhandene Alte vorzuführen, sind sie gescheitert.“ Geändert  hat sich seither nicht allzu viel. Vielleicht werden die Kids aber einfach nur unterschätzt. Dabei haben sie mit Sicherheit mehr Phantasie als die Unterhaltungsindustrie, die sie nur mit Surrogaten und Krücken versorgt. Sie wird es weiter versuchen, denn in den USA werden 30% aller Kinokarten von 12- bis 24-Jährigen gekauft. Und über 60 neue Projekte sind bereits in Planung.

Donnerstag, 9. April 2015

Better Call Saul

Im Universum der Qualitätsserien ist „Breaking Bad“ einer der ganz großen Superstars. Begleitet wurde der Aufstieg des gutbürgerlichen Walter White („Remember my name!“) zum mörderischen Drogenbaron von einem windigen und aalglatten Rechtsanwalt, der lange vor Walter White die Grenze zur Kriminalität überschritten hatte. Wie Saul Goodman (Bob Odenkirk) zu dem wurde, was er in „Breaking Bad“ ist, will ein Spin-off erzählen: „Better Call Saul“ wird als neuer Teil des Franchise ebenfalls von AMC produziert und läuft in Deutschland zeitnah und synchronisiert als VOD bei Amazon und Netflix.

In „Better call Saul“ wird Saul Goodmans Geschichte nicht weitererzählt, die Serie springt vielmehr zurück ins Jahr 2002. Saul Goodman trägt noch nicht seinen Markennamen, sondern heißt Jimmy McGill und ist ein mittelmäßig erfolgreicher Pflichtanwalt in Albuquerque. Viel Geld ist damit nicht zu verdienen. McGill ist ein Typ, dem man keinen Gebrauchtwagen abkaufen würde. Sein Büro ist eine Bruchbude, ein Hinterzimmer in einem Nagelpflegestudio. Eine Sekretärin hat der Mann auch nicht, den Job erledigt er mit verstellter Stimme selbst. Als er einem Ehepaar die Mandantenerklärung in einem Fast-Food-Diner vorlegt, fixiert er zu gierig die Hand seines potenziellen Mandanten, der gerade unterschreiben will. Und schon ist der Job futsch.


Eingespieltes Team am Start

Spin-offs sind hochriskante Projekte. Man muss lange nachdenken, um sich an erfolgreiche Ableger einer Erfolgsserie zu erinnern. Kennt jemand die Spin-offs von „X-Files“ (Akte X) oder „Bones“ (Bones – Die Knochenjägerin)? Ja? Gratuliere. Sie sind ein Seriennerd allererste Güte. Nein? Kein Wunder. Viele Ableger sterben nach einer Staffel einen stillen, unbeachteten Tod. Allein die zahlreichen CSI- und Navy CIS-Ableger konnten lange und erfolgreich den Markt penetrieren.
An Spin-offs hängt das große Vorbild wie ein Klotz am Bein. Die Fans erwarten eine Wiederholung ihrer Lieblingsserie oder wenigstens etwas Ähnliches. Häufig ist dies schon deshalb unrealistisch, weil die Hauptfiguren der alten Serie nicht einmal Gastauftritte haben. Und wenn, wie in „Better call Saul“, die Geschichte ein Prequel ist, weiß man nicht einmal, ob sich irgendwann die Geschichten treffen werden.


„Better call Saul“ macht es von Anfang gut und fast alles richtig. Man spürt eine Handschrift, die Serie surft auf der gleichen Welle, die „Breaking Bad“ getragen hat. Erzählt wird also Neues, das sich vertraut anfühlt.
Showrunner der Serie ist Vince Gilligan und der hat fast das gesamte „Breaking Bad“-Produktionsteam am Start. Inklusive Peter Gould, der bereits in „Breaking Bad“ erfolgreich als Writer und Producer mitgemischt hat. Man ist also unter sich, kennt sich und weiß, wie man von Beginn an raffiniert verschachtelte Plot-Bausteine arrangiert. Während „Breaking Bad“ eine gewisse Anlaufzeit benötigte, um die perfekte Mischung aus Drama und skurril-brutalem Zynismus hinzubekommen, müssen Gilligan und sein Team nur ihre alten Werkzeuge auspacken und schon kann es losgehen.

Die erste Episode von „Better call Saul“ beginnt mit einer jener raffinierten und berühmten Pre-Title-Sequenzen, mit denen Gilligan bereits in
„Breaking Bad“ mithilfe eines Flashforwards ein Rätsel präsentierte: In schönstem Schwarz-Weiß sieht man Hände, die Teig kneten. Ein Kuchen entsteht, das Ganze spielt offenbar in einem Diner. Dann fährt die Kamera hoch und man sieht Bob Odenkirk mit falschem (?) Bart und einem Basecap. Er wird von einem großen, massigen Mann angestarrt. Gefahr im Verzug? Der Riese erhebt sich und stampft wortlos an Odenkirk vorbei und begrüßt eine Freundin. Schnitt. Odenkirk sitzt in einem halbdunklen Raum, starrt ins Leere und schiebt dann eine Kassette in den Player, auf der ein Commercial zu hören ist, das für einen gewissen Saul Goodman wirbt. Aufgelöst wird dieses Rätsel in der ersten Staffel nicht. Man ahnt aber, dass wir Saul Goodman begegnet sind, der nach den Vorfällen in „Breaking Bad“ irgendwo im Mittelwesten abgetaucht ist und immer noch um sein Leben fürchten muss. Willkommen bei „Better Call Saul“.

Mit dieser Einleitung führt Vince Gilligan uns in die uns aus „Breaking Bad“ vertraute Welt von ein und stellt sie
gleichzeitig ästhetisch auf den Kopf. Es ist die gleiche Strategie, mit der sich in „Breaking Bad“ Katastrophen als unausweichlich angekündigt haben, nur dass man auch dort nicht im Geringsten wissen konnte, wie denn zum Teufel der Teddybär in den Pool kommt. Visuell wird die sonnenüberflutete Optik von „Breaking Bad“ in „Uno“ (Ep 1) konterkariert - mit einer Mischung aus Cinema Verité und neorealistischer Atmosphäre. Ein klares Signal: Wir machen alles neu, aber keine Angst: Wir ändern nichts.

Am Anfang Klamauk, am Ende großes Drama

Hier zeigt also jemand, dass er die Fäden noch ziehen kann. Und wie! Getragen wird die Geschichte von zwei Figuren, die überhaupt nicht zusammenpassen wollen: Jimmy McGill und Mike Ehrmantraut (Jonathan Banks). 
Odenkirk spielt den erfolglosen Anwalt zunächst als komische Figur, die sich mit aberwitzigen Fällen herumschlagen muss. Zum Beispiel mit zwei Skateboardern, die eine Großmutter abzocken wollen, deren Enkel ausgerechnet der allen „Breaking Bad“-Fans wohlbekannte Tuco ist („Mijo“, Ep 2). 
Nach diesem Warm-up gerät McGill an ein Ehepaar, das eine fette Summe aus der Gemeindekasse unterschlagen hat – ein Sub-Plot, der immer wieder auftaucht. In den Mittelpunkt rückt dafür immer mehr die komplizierte Beziehung McGills zu seinem Bruder Chuck (Michael McKean), der in Albuquerque ein Staranwalt bei der renommierten Kanzlei Hamlin Hamlin & McGill (HHM) gewesen ist, nach einem mysteriösen Zusammenbruch aber an einer Zwangskrankheit leidet und kaum noch das Haus verlassen kann. Immer wieder rollen lange Rückblenden in die frühen 1990er Jahre McGills Vergangenheit als Kleinganove „Slippin’ Jimmy“ auf und damit auch die komplizierte Beziehung zu seinem Bruder („Hero“, „Schäferbub“, Ep 4 und 5). McGill kümmert sich rührend um Chuck und als er in „RICO“ (Ep 8) herausfindet, dass in einem Altenheim die Senioren übers Ohr gehauen werden, hat er plötzlich einen großen Fisch an der Angel. Doch es kommt anders und plötzlich zeigt sich, wie brüchig McGills Biografie und die Wertschätzung seines Bruders eigentlich ist.

Die zweite starke Figur in „Better Call Saul“ ist Mike Ehrmantraut. Es war ein kluger Schachzug, den bei den Fans ziemlich populären Jonathan Banks für das Spin-off zu gewinnen. Die Gegensätze können kaum größer sein: hier der immer etwas überdrehte Odenkirk, dort der schweigsame Ex-Cop, der am Anfang in einem Parkwächterhäuschen sitzt und sich kurz angebunden mit McGill wegen ungültiger Parkscheine fetzt.
McGill und Ehrmantraut nähern sich in „Better Call Saul“ nur zögerlich an. Immer wieder werden Ehrmantrauts eigene Geschichten erzählt. In „Five-O“ (Ep 6) erfährt der Zuschauer in einer Single Episode, warum Ehrmantraut zu einem ungenießbaren Misanthropen geworden ist. Regie führte Adam Bernstein (u.a. „Breaking Bad“, „Californication“, „Fargo“, Emmy Award für „30 Rock“) und herausgekommen ist eine rabenschwarze Noir-Geschichte mit einer frostigen Kälte, die davon erzählt, wie Ehrmantraut sich brutal für die Ermordung seines Sohns durch korrupte Cops rächt – ein kleines Masterpiece und zweifellos der Höhepunkt der ersten Staffel von „Better Call Saul“.

„Five-O“ markiert auch den Wendepunkt der Serie. Was etwas klamaukig begann, entwickelt sich danach mehr und mehr zu einem Drama mit pessimistischen und tieftraurigen Momenten. McGill, soviel wird klar, ist nur auf den ersten Blick ein lustiger Sonnyboy. Hinter der Fassade verbirgt sich ein schwer angeschlagener Mann, der verzweifelt um Anerkennung kämpft und sich dabei eine Niederlage nach der anderen einfängt.
Sein Side-kick Ehrmantraut ist kaum besser dran: ein Mann mit massiven Blessuren und einer beschädigten Familiengeschichte, dessen Professionalität sich wie in „Pimento“ (Ep 9) eruptiv und gewalttätig entladen kann. Ehrmantraut ist ein gefährlicher Mann.
Das Staffelfinale wird möglicherweise enttäuschen. „Marco“ erzählt eine weitere traurige moralische Geschichte, in der McGill zunächst während einer Bingo-Veranstaltung einen Nervenzusammenbruch hat und dann auch noch den Tod eines guten Freundes erleben
muss. Am Ende sitzt er im Auto und summt lächelnd „Smoke on the Water“. Man ahnt, warum: der Mann hat eine Entscheidung getroffen. Kein Kracher, kein raffinierter Cliffhanger. Und dennoch ein Highlight der pointierten Kunst des Geschichtenerzählens.

Und ist „Better Call Saul“ nun auf Augenhöhe mit seinem großen Vorgänger? Natürlich muss man eine Serie nicht unbedingt danach beurteilen, aber dass die Gretchenfrage gestellt wird, ist sonnenklar. „Breaking Bad“ hatte einen klar umrissenen Main Plot, „Better Call Saul“ kommt eher krytisch-verschlungen daher. „Breaking Bad“ hatte einige Anlaufschwierigkeiten und entfaltete erst in Season 2 sein ganzes Potential, „Better Call Saul“ kommt gleich zu Beginn ungemein packend aus den Startlöchern und entfaltet ein riesiges Arsenal von Rückblenden und verschachtelten Handlungselementen, die sich nicht auf Anhieb entschlüsseln lassen, dann aber in einem schlüssigen Gesamtkonzept immer klarer werden.
Ein Spin-off muss Charme, Atmosphäre und Handlungswitz besitzen. „Better Call Saul“ hat dies vorzuweisen und wenn es so raffiniert und elegant weitergeht, werden wir möglicherweise eine Serie sehen, die an die großen Traditionen des Quality TV nahtlos anschließt. „Better Call Saul“ ist neben „Fargo“ und der 3. Season von „House of Cards“ zurzeit der spannendste Spieler auf dem Feld.