Donnerstag, 23. April 2015

Teenager-Dystopien: Immer diese ätzenden Verbote!

In naher oder ferner Zukunft ist die Gesellschaft für Jugendliche nicht besser geworden. Immer wird etwas verboten. In den Dystopien, die Jugendliteratur und Kino zu bieten haben, ist das in der Regel noch krasser als gewohnt. Zum Glück gibt es den Helden – vorzugsweise die Heldin -, die alle rettet und in eine glorreiche Zukunft führt. Damit lässt sich Geld verdienen, und zwar sehr viel.

Man sollte sich abgewöhnen, von Utopien und Dystopien zu sprechen. Dann landet man nämlich sehr schnell bei quasi-platonischen Vorstellungen, in denen die Ideen herumschwirren und die Artefakte ihre Symbole sind. Besser ist es, von utopischen und dystopischen Erzählungen zu sprechen. So wird klar, dass A eine Geschichte erzählt, die von B konsumiert wird. Auf diese Weise haben wir es wenigstens mit einer Beziehung zu tun, deren Dialektik auf ein Drittes verweist. Ob dieses Dritte sich dann beim Nachdenken als ‚Sinn’ entpuppt oder als Gelddruckmaschine, bleibt zu klären.

Dystopische Erzählungen sind Gedankenexperimente: Wie kann eine zukünftige Gesellschaft aussehen, wenn sie alles zerstört, was im Hier und Heute noch als regelkonform betrachtet wird? Welche Gründe hat sie? Und wie reagieren Menschen auf den Verlust des Alten? Wenn sie überhaupt noch das Alte kennen!
Die Utopie betreibt das gleiche Geschäft – nur andersrum. Im Blochschen Sinne des Vor-Scheins beschreibt sie, was sein soll – ein besseres, gerechteres Leben, die Überwindung gravierender gesellschaftlicher Probleme, Sinn, Freiheit, Schönheit, Glück. Aber das ist halt nicht so spannend. Besonders nicht für Jugendliche.

Spannend dürfte für die Zielgruppe allerdings sein, dass vielen dystopischen Erzählungen etwas Irreales anhaftet. Eine Welt voller Angst und Schrecken ist genauso irreal wie ein liebevolles Utopia, in dem sich alle Streicheleinheiten verpassen. Beides wirkt wie aus der Zeit genommen und scheint, obwohl es mit viel Getöse das Gegenteil behauptet, irgendwie unhistorisch zu sein. Dystopische Geschichten folgen dabei dem Prinzip des „Cold Open“: die Figur werden einfach in die Katastrophe hineingeworfen. Das Irreale ist „the Cream in the Coffee“.

Das ist in Dystopien für Erwachsene anders: Michael Radfords Verfilmung von „1984“ hat sich ebenso wenig verbraucht wie Francois Truffauts „Fahrenheit 451“ oder Richards Fleischers „Soylent Green“. Diese Filme haben das Genre, das traditionell mit Science Fiction verbandelt ist, aber auf historischer Erfahrung basiert, parametrisiert. 
Dagegen erfährt man in „Mad Max“ nie wirklich, warum die Welt so ist wie sie ist. In „Interstellar“ nimmt sich Christopher Nolan etwas mehr Zeit und man kann wenigsten ahnen, warum die Erde ökologisch den Bach heruntergegangen ist und wieso die ‚sanften’ Öko-Terroristen die Technologie-Geschichte umschreiben wollen.

Schreckliche Welten für Kids sind schablonenhafter: In „Hüter der Erinnerung – The Giver“ hat man wie in „Star Trek“ die Armut, die Kriege und die Gewalt abgeschafft, auf der „Enterprise“ wirft sich aber nicht wie in der Verfilmung von Lois Lowrys Roman morgens Pillen ein, um die Gefühle zu unterdrücken. 
Auch wenn es Ausnahmen gibt, wirken viele dystopische Erzählungen für Jugendliche so, als hätte man sich die Versuchsanordnung im literarischen Labor ausgedacht oder ganz einfach ein paar bekannte Formeln neu arrangiert, um alten Wein in neuen Schläuchen zu verkaufen. Letzteres scheint besonders für jenes Genre zu gelten, dem bereits ein eigener Name verpasst wurde: nämlich „Teenager-Dystopie“.


Abschied von der Geschichte: somnambul im Kinosaal

An sich müssten sich Autoren und Filmemacher nicht so schrecklich bei der Erfindung zündender Plots verrenken. Unsere reale Geschichte bietet ausreichend Stoff, meistens den von der schlimmen Sorte.
 Dies liegt auch am Zeitpfeil. Die klassische Utopie begründet sich durch recht vage Vorstellungen von dem, was sein soll. Bereits Karl Marx konnte die bessere Welt nicht beschreiben, er wollte die schlechte erst mal abschaffen. Die Utopie hat nichts erfahren und kann nur fiktiv erproben, was Sache ist. Sie irrt sich daher oft, so wie es auch die großen Futurologen der Vergangenheit getan haben. 

Die Dystopie hat dagegen Zugriff auf historisches Wissen, denn alles Üble, was man sich ausdenkt, ist irgendwann in ähnlicher Form schon geschehen. Orwell wird genaue Kenntnisse von den Schauprozessen in der Sowjetunion gehabt haben, um ein totalitäres Brainwash-System zu erdenken, das seine Gewalt durch die Fälschung historischer Fakten und die Einführung eines Neusprechs ausübt. Und wenn man sich in der Gegenwart umschaut, dann liefern Datenmassenspeicherung, der globale Mitschnitt unserer Handygespräche, „Apple Watch“ und Google Glass“ doch genug interessante Ausgangsbedingungen für phantasievolle Geschichte über eine neue „Brave New World“, oder? Aber vielleicht will man das nicht wissen.

Das war nämlich schon mal anders. Utopische und dystopische Erzählungen sind Kinder der Weltliteratur, auch wenn man sie heute für ein Subgenre des Sci-Fi-Films hält. Thomas Morus hat sein „Utopia“ im 16. Jh. geschrieben, die pessimistischen Gegenentwürfe wie Orwells „1984“ und Huxleys „Brave New World“ sind Reflexe des 20. Jh. auf die Moderne und den Siegeszug des Faschismus in Europa. Beim Schreiben wurde historische Erfahrung offenbar noch ernst genommen.
Da man aber nicht mit einer Handvoll kanonisierter Standardwerke über die Runden kommen kann, blieben beide Erzählstrategien spannend genug, um die Epigonen auf den Plan zu rufen. In der Science-Fiction-Literatur sind Dystopien ein Muss, in der Jugendliteratur sind sie seit geraumer Zeit ein Renner. 
Dabei ist die Utopie als Klassenstreber und langweilige pädagogische Belehrungsstunde auf der Strecke geblieben. Das Ausmalen möglicher Schrecken ist spannender – die Kunst lebt nicht erst seit Shakespeare von den Dramen über Macht und Intrige, Wahn und Unterdrückung, über die Zerstörung der Freundschaft und der Familie, anders gesagt: über Lug und Trug und warum Bösewichter die spannenderen Zeitgenossen sind.

Fehlt aber die historische Verzahnung, wie wir sie von großen Vorbildern kennen, haben dystopische Geschichten in Literatur und Film ganz einfach die Anfangsbedingungen willkürlich auf Null gesetzt und führen zudem ein Arsenal neuer Regeln ein. Die Simplifizierung spielt wie in einem Laborversuch durch, wie Menschen unter diesen neuen Bedingungen leben – und rebellieren. Denn dystopische Zustände sollen und müssen überwunden werden, koste es, was es wolle. Das erledigen aber nicht die Erwachsenen, sondern die Kids, neuerdings die Mädels.
Besonders dem jugendlichen Publikum will man dabei offenbar allzu Anstrengendes ersparen, folglich wird alles auf das Bildungsniveau Zehnjähriger heruntergebrochen, was die 14- bis 16-Jährigen im Kino dann nicht einmal merken.
Und dann diese Verbote! In Teri Terrys Roman „Zersplittert“ und dem Sequel „Gelöscht“ muss die weibliche Hauptfigur Kyla nett sein, weil sonst die Staatsgewalt zuschlägt. Aber schlimmer kann es eigentlich nicht werden, denn Kyla wurde „geslated“ – ihre Persönlichkeit wurde gelöscht. Was ist ihr Geheimnis? Zum Glück gibt es da diese Erinnerungsfetzen ...
In Scott Westerfelds „Uglies“-Serie verpasst Vater Staat den Teenies neben einer Schönheits-Operation offenbar auch eine Gehirnwäsche. Und so weiter. Es scheint, als würden die Autoren ihre Kernplots untereinander austauschen. Reiche Kinder können Stellvertreter buchen, die für ihre Verbrechen büßen. Im nächsten Buch wird Jesus Christus aus den Geschichtsbüchern gestrichen und im übernächsten ist die Liebe eine Seuche, man präferiert die Vernunft und der Autor kann sich wohl sicher sein, dass die Kids garantiert nicht „Invasion of the Body Snatchers“ gesehen haben und erst recht nicht all die alten Horror-Sci-Fis aus den 1950er Jahren kennen, in denen Gefühle etwas Böses sind oder man Angst haben muss, dass sie uns gestohlen werden. Die Jugendliteratur ist im Moment randvoll mit derartigen Plots abgefüllt, die Filmindustrie ist begeistert und sichert sich angesichts der überwältigenden Verkaufszahlen in weiser Vorausschau die Rechte. Kenntnisse der Literatur- und Filmgeschichte von Jugendlichen zu erwarten, wäre allerdings etwas betriebsblind, natürlich auch, weil Erwachsene unter dem gleichen klinischen Befund zu leiden haben.

Natürlich könnte man jetzt wieder zu Platon zurückkehren, dessen „Höhlengleichnis“ die Filmtheoretiker anzieht wie das Licht die Motten. Nicht ganz daneben lag der französische Filmtheoretiker Jean Louis Baudry, der Gemeinsamkeiten von Höhle und Kino entdeckte. Im dunklen Saal vor der Leinwand befänden sich die Zuschauer in einem realitätsfernen und schlafähnlichen Zustand. Manche scheinen gar zu träumen. Doch Baudry war wie auch Christian Metz dann doch eher an den psychoanalytischen Aspekten dieses Zustands interessiert, der uns im Moment doch arg auf den Nägeln brennen sollte. 



Wenn es schmeckt, kocht man immer das Gleiche

Vielleicht ist das gar nicht so kompliziert, wenn man sich die ökonomische Verwertungskette anschaut. Bücher und Produkte der Medienindustrie sind Waren, auch wenn diese vermeintlich platte Einsicht beinahe schon zum Gähnen ist. Mit Dystopien lässt sich richtig Geld verdienen. Und da das ideenarme und ausgelaugte Kino des 21. Jh. immer noch recht zielstrebig seine Verwertungstalente unter Beweis stellt, hängt es sich wie ein Parasit an erfolgreiche literarische Sujets, kauft die Rechte und verwurstet das Ganze massenkompatibel bis an die Grenze des Erträglichen.

Wie also strickt man eine gute Teenie-Dystopie zusammen? Hier sind die Topoi:

  • Nichts ist so, wie es erscheint.
  • Die Gedankenmanipulation durch Medien, Apparaturen, Chips und Aliens.
  • Die Unterdrückung der Gefühle.
  • Religiöse Kontrolle.
  • Ideologische Kontrolle.
  • Die reiche Oberschicht beutet alle anderen aus.
  • Post-Apokalypse.
  • Der jugendliche Außenseiter ist der Held.
  • Das Love Interest.
  • Der Initiationsritus.
  • Das Geheimnis.
  • Rebellion.

Übertragen auf aktuelle Teenie-Dystopien ergibt dies folgende Arrangements:

„Maze Runner“: Nichts ist so, wie es erscheint. Post-Apokalypse. Der jugendliche Außenseiter ist der Held. Das Love Interest. Der Initiationsritus. Das Geheimnis.
(Dank der „Lost“-Stimmung und der sehenswerten Settings ist der Film allerdings eher eine Abenteuergeschichte und gehört zu den besseren Exemplaren der Gattung).

„Hüter der Erinnerung – The Giver“: Nichts ist so, wie es erscheint. Die Unterdrückung der Gefühle. Die Auslöschung des Individuums. Ideologische Kontrolle. Der jugendliche Außenseiter ist der Held. Das Love Interest. Das Geheimnis. Rebellion.
(Dass die drogenabhängige Community alles in Schwarz-Weiß sieht, ist aus „Pleasantville“ geklaut. Dass man die Erinnerungen an die böse emotionale Vergangenheit allerdings von einem „Hüter“ bewahren lässt, ist genau strunzdämlich wie die Eindimensionalität fast aller Figuren. Leider, denn der Film von Phillip Noyce ist der einzige unter den aktuellen Produktionen, der sich in der Tradition von „1984“ mit dem Problem der historischen Wahrheit auseinandersetzen will. Wenn aber Flashbacks die verschwiegene Menschheitsgeschichte ins Bild setzen, sieht man neben Vietnam-Schnipseln und Bildern der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung nur Anheimelndes auf billigem Postkartenniveau).

„Seelen“: Die Gedankenmanipulation durch Aliens. Das Love Interest. Rebellion.
(Nomen est omen – eine seelenlose Geschichte, über die man wenig Gutes berichten kann. Eigentlich keine Teenie-Dystopie. In Deutschland an der Kasse gnadenlos gefloppt. Das macht Hoffnung).

„Die Bestimmung - Divergent“: Ideologische Kontrolle. Der jugendliche Außenseiter ist der Held. Der Initiationsritus. Rebellion.
(Die Unterteilung in eine Kastengesellschaft liefert den Auslöser für eine Reihe actionhaltiger Initiationsriten, deren kalkulierte Formelhaftigkeit beinahe traurig stimmt. Die Storyschablonen erinnern an die „Panem“-Filme. In Deutschland zum Glück ebenfalls gefloppt).

„Die Tribute von Panem - Mockingjay“: Post-Apokalypse. Die reiche Oberschicht beutet alle anderen aus. Die Gedankenmanipulation durch Medien. Der jugendliche Außenseiter ist der Held. Das Love Interest. Rebellion.
(Das Lieblingskind der Kritiker und der fast 6 Mio. Zuschauer in Deutschland hat offenbar durch seine medienkritischen Einsprengsel Pluspunkte gesammelt. Und das, obwohl immer noch der Verdacht im Raum steht, dass der Roman von Suzanne Collins ein Plagiat von Koushun Takamis „Battle Royal“ ist. In „Mockingjay“ fällt das Konzept dank einer langweiligen Dramaturgie vollends auf den Bauch, auch wenn die Heldin nun Propaganda-Videos in eigener Sache drehen muss. Eine Besprechung des 1. Teils gibt es hier).


Das Verständnis der Medienpädagogik ist nicht die Logik der Industrie

Aus medienpädagogischer Sicht scheint alles nachvollziehbar zu sein. „Jugendliche wollen wissen, was auf sie zukommt, welche Lebenswirklichkeit sie erwartet. Lebensstile und Lebensziele vermitteln sich auch über Filme, sie sind willkommene Projektionsflächen, die Jugendkulturen beeinflussen. In den dystopischen Filmen fokussiert sich ein Bild des Unbehagens und der Bedrohung, welches sich durch die konsequente Weiterentwicklung gegenwärtiger Missstände erklärt“, deutete vor einem Jahr der Dozent und Medienpädagoge Horst Schäfer die Bedürfnisse der Kids. Überwiegend ginge es ihnen um Selbstvertrauen und Mut, Anerkennung und Respekt, Freundschaft und Solidarität bei der emotionalen Wahrnehmung interessanter Identifikationsfiguren. Gleichzeitig würde auf diese Weise auf die eigenen pubertären und sozialen Nöte reagiert, etwa auf die Situation in der Schule und die Angst vor fehlenden Zukunftsperspektiven. Und je mehr sich die dystopischen Filme aus der aktuellen Lebensrealität der Jugendlichen ableitet, desto wirkungsvoller seien sie.
Leider kann Letzteres bei der Durchsicht der aktuellen Filmangebote nicht ohne Weiteres nachgewiesen werden. Alles, was in diesem Text untersucht wurde, hat mit der Lebensrealität der Jugendlichen nichts zu tun. Es sei denn, man bemüht die Psychoanalyse ...

Der filmindustrielle Aspekt der Teenager-Dystopien lässt sich dagegen schlüssiger erfassen: Adressierung einer klar umrissenen Zielgruppe (jugendliche Leser umsatzstarker dystopischer Romane), die symbiotische Beziehung zu den Autoren, die bereits mit Trilogien und/oder Serien die passende Steilvorlage liefern und last but not least die Kalkulierbarkeit des Invests.

Natürlich gibt es Teenager-Dystopien, die an der Kasse gescheitert sind, doch im Großen und Ganzen funktionieren die Filme, mit denen die große Lücke nach dem Mega-Erfolg der Fantasy-Filme à la Harry Potter (weltweites Einspielergebnis: 6 Mrd. US-Dollar) und “Twilight“ geschlossen werden sollte, dann doch sehr berechenbar. 
Man muss nicht einmal das Rad neu erfinden. Stereotypie und Formelhaftigkeit sind keine Attribute des Jugendkinos, sie charakterisieren auch das Kino der Gegenwart. Das ist auch in der Teenager-Dystopie so gewollt, das Pferd wird so lange geritten, bis es tot ist. Und die Industrie weiß schon lange, dass es gerade der Eskapismus ist, der zum Erfolg führt.

Teenager-Dystopien sind deshalb geschichtsvergessener. Vor drei Jahren habe ich in meiner Panem-Kritik noch geschrieben: „Wenn es Dystopien in Literatur und Film nicht gelingt, das Neue in einer repressiven Gesellschaft als das bereits vorhandene Alte vorzuführen, sind sie gescheitert.“ Geändert  hat sich seither nicht allzu viel. Vielleicht werden die Kids aber einfach nur unterschätzt. Dabei haben sie mit Sicherheit mehr Phantasie als die Unterhaltungsindustrie, die sie nur mit Surrogaten und Krücken versorgt. Sie wird es weiter versuchen, denn in den USA werden 30% aller Kinokarten von 12- bis 24-Jährigen gekauft. Und über 60 neue Projekte sind bereits in Planung.