Samstag, 25. Januar 2014

All is Lost

Verloren in den Weiten des Indischen Ozeans, aber erst dann aufzugeben, wenn wirklich alles verloren ist – das ist kein Codex, sondern Haltung. Wie dies angesichts des wahrscheinlichen Todes aussehen kann, demonstriert der 77-jährige Robert Redford in einem minimalistischen Lehrstück auf bewundernswerte Weise.
„All is Lost“ ist aber auch ein starkes Stück Kino.


Einige Katastrophen kommen schnell und der Tod lässt dann nicht lange auf sich warten. Andere Katastrophen kommen ebenfalls schnell, aber wenn sie da sind, kann man sich beim Sterben zuschauen. In der zivilisierten Welt werden die entsprechenden Pendants durch Autounfälle und Krebs definiert. 
Dass ein alter Mann lossegelt und dann 1700 Seemeilen entfernt vom Festland ausgerechnet von einem Container voller Turnschuhe gerammt wird, das ist fast wie ein höhnischer Kommentar des Schicksals. Hier kündigt sich der Tod auf Raten an.

In J.C. Chandors („Margin Call“) naturalistischem Drama entsteht die Kraft des Erzählens aus der Liebe zum Detail, oder besser gesagt: zu den Dingen. „Zeug“ hat Martin Heidegger die Dinge genannt, die uns umgeben. Der namenlose Held (nennen wir ihn einfach Redford) in Chandors Film muss schnell ihre Wertigkeit erkennen, als das Wasser bedrohlich schnell ins Boot läuft. In der richtigen Reihenfolge, denn sie können sein Leben retten. Er reagiert fast emotionslos und fokussiert, als er durch den Crash geweckt wird. Schnelle Blicke und eine rasche Einschätzung, dann verwendet er einen Seeanker, um sein Boot vom Container zu lösen. Anschließend wird mit dem, was an Bord ist, das Loch verklebt, gestopft und einigermaßen seefest gemacht. Die beschädigte Pumpe wird repariert und auch dabei fällt kein Wort. 
Mit wem sollte er auch reden.

Geredet hat er am Anfang, im Off. Später erfährt man, dass es seine letzten Worte sind.
"I'm sorry. I know that means little at this point, but I am. I tried. I think you would all agree that I tried. To be true, to be strong, to be kind, to love, to be right. But I wasn't.“ Nun aber ist alles verloren, und dass dies der Prolog des Films ist, lässt nichts Gutes erahnen.


Naturalistische Filmprosa im Stile Hemingways

Die Katastrophe ist allerdings noch nicht eingetreten, und obwohl das Kommunikations- und Navigationssystem ausgefallen ist, befindet sich das Boot in einem manövrierfähigen Zustand.
Dann kommt der große Sturm und damit der Anfang vom Ende. Der Mast bricht, Redford geht über Bord, kämpft sich zurück und rettet sich mitsamt einiger Vorräte, einem Behälter mit Wasser, einem Sextanten, einer Seekarte und anderem Zeug in eine Rettungsinsel, von der er dann den Untergang seines Bootes beobachtet.

Mythisches in dem Geschehen zu erkennen, wird unweigerlich zur Kritikerpoesie. Es gibt nichts zu erklären. Der Film ist das, was man sieht: ein Mann kämpft um sein Leben.
Während Ang Lee in seinem ozeanischen Drama „Life of Pi“ mit diegetischen Tricks und raffinierten Plot Points ein anderes, sehr symbolgeladenes Seedrama vorführte, erzählt Chandor die Geschichte lakonisch und mit akribischer Genauigkeit. Er nimmt sich die erforderliche Zeit für jedes Detail und protokolliert den fortschreitenden Verlust der Ressourcen, die seinen Helden vom Meer und damit vor dem Ertrinken bewahren.
Dies ist kein Realismus, sondern naturalistische Filmprosa. Die Reduktion der filmischen Mittel, der Minimalismus der Erzählung, die Konzentration auf das „Zeug“, das immer weniger wird, erinnert dabei an die Art, wie Ernest Hemingway seine Novellen und Romane geschrieben: knapp, präzise, in einfachen Aussagesätzen. 

Dabei öffnet sich „All is lost“ natürlich für allerlei Deutungen, die möglicherweise sowohl zulässig als auch unsinnig sind. Wer Allegorisches sehen will, mag Allegorisches finden. Zum Beispiel in den Kamera-Untersichten auf die Rettungsinsel, die von Haien umkreist wird. Oder man sucht sich den passenden Aphorismus. „Ein Mann kann vernichtet werden, aber nicht besiegt“, formulierte Hemingway in „Der alte Mann und das Meer“. 
Das passt.


Kino der Bescheidenheit

Robert Redford spielt den Skipper mit überragender Performance. Er agiert sparsam und konzentriert - ein alter Mann, der weiß, was er tut. Die Rückschläge sind pure Zufälle, das langsame Zuschreiten auf den Abgrund ist keineswegs unvermeidlich – es hätte auch anders kommen können. Diese fast emotionslose Schauspielkunst spart sich die großen Emotionen für die wirklichen Schicksalsschläge auf – wenn der Tod eigentlich beschlossene Sache ist. Ein „Fuck“ ist dann beinahe schon ein exzessiver Gefühlsausbruch.
Kurz vor dem Ende obsiegt dann doch die Verzweifelung, als Redford erkennt, dass nichts mehr zu tun ist. Der mühsam erlernte Gebrauch des Sextanten führt ihn zu den großen Schifffahrtslinien, aber niemand sieht seine Leuchtkörper. Die Lebensmittel gehen aus, das Wasser ist kontaminiert, die Sonne verbrennt das Gesicht. Ein Hai schnappt ihm einen Fisch vom Haken und schließlich schreibt er seine letzten Worten auf ein Stück Papier, das er einer Flaschenpost anvertraut. Als erneut ein Frachter an ihm vorbeizieht, setzt er alles Brennbare in Flammen. Dann fällt er über Bord und überlässt sich dem Meer. Das Ende? Vielleicht, denn alles was nun folgt, ist ein Märchen. Auch das mag man glauben oder auch nicht.

Ist das großes Kino? Offen gestanden, ich weiß es nicht. Ich weiß aber, dass das Betrachten von Chandors Bildern ein immenses Vergnügen beim Hinschauen bereitet hat. Die Ruhe, die man gewinnt, wenn man wieder Zeit zum genauen Beobachten erhält, ist gegenwärtig ein seltener Gast in den Kinosälen. 
„All is lost“ ist die Rückkehr zu einer verloren geglaubten Bescheidenheit in der Wahl der filmischen Mittel, die erstaunlicherweise um so nachdrücklicher wirkt, je mehr Zeit vergeht. Nämlich die im Kino und die danach. Man denkt noch lange nach über diesen Mann. Mehr kann man wirklich nicht verlangen.

Noten: BigDoc = 2

Postscriptum: Dass „All is Lost“ bei den 86th Academy Awards nur für Best Sound Editing nominiert worden ist, kann man getrost als Witz bezeichnen.

All is Lost – USA 2013 – FSK 6 – Regie und Drehbuch: J.C. Chandor – Musik: Alex Ebert – D.: Robert Redford

Captain Phillips

Hijacking vor der Küste Somalias: Nicht erst seit seiner OSCAR-Nominierung steht der neue Film von Peter Greengrass hoch im Kurs. Paul Greengrass erzählt in „Captain Phillips“ beinahe dokumentarisch die Geschichte eines Piratenüberfalls auf ein Handelsschiff und hat mit Tom Hanks einen Titelhelden gefunden, der wie die Faust aufs Auge passt. Ein von der internationalen Kritik hochgelobter Film. Leider mit vielen Längen und einem pseudo-realistischen Stil, der in visueller Hinsicht das Zuschauen zur Qual macht. Bedrückend.
 

Die erste Szene ist Programm: Richard Phillips (Tom Hanks) lässt sich von seiner Frau zum Flughafen fahren. Phillips ist Kapitän eines Handelsschiffs, das im Hafen von Oman zu einer neuen Fahrt aufbrechen soll. Im Auto wird Beiläufiges ausgetauscht. Erst als die Rede auf den Job kommt, taut Phillips auf: „Man muss stark sein, um da draußen zu überleben!“ 

Gemeint sind aber nicht die Piraten, wie der Zuschauer wohl ahnungsvoll vermuten wird, sondern die Anforderungen eines Hi-Tec-Schiffes. Früher musste man nur fleißig sein, so Phillips, um sich seinen Rang zu erarbeiten. Heute, man ahnt es, werden Seebären alten Schlages mit den Anforderungen der digitalen Welt konfrontiert.

Greengrass zeigt am Anfang, was der Zuschauer zu erwarten hat: kein fetziges Intro, sondern Normalität hart an der Grenze zur Biederkeit. Ein Gegenprogramm zum aktuellen Überwältigungskino der modernen Blockbuster. Ein streng dokumentarischer Stil, der die Realität zurück ins Kino holen soll. Und einen Helden, der sich deplatziert fühlt, aber möglicherweise gerade deswegen Qualitäten haben wird, die jüngere Kollegen nicht besitzen. Aber die Szene zeigt auch Phillips Frau als schlichte Stichwortgeberin, die als Figur erst gar nicht aufgebaut wird. So wird es auch vielen anderen Charakteren in dem Film gehen.
Der alte Mann und das Meer und die Piraten. Allein.


Ungepflegte Langeweile mit Handy-Look: Die Zerstörung des filmischen Raums

Schnitt: In einem somalischen Dorf zwingt eine bewaffnete Bande den Dorfältesten, einige junge Männer für einen Überfall abzustellen. Palavert wird im Dialekt, die Übersetzung liefern Untertitel. In Oman geht Philipps indes an Bord, umfangreiche Vorbereitungen werden getroffen, der Kapitän bemerkt in einer Besprechung, dass die geplante Route nur teilweise gesichert ist. Die Sicherheitsmaßnahmen müssen erhöht werden.

Das Sujet ist weder für den Zuschauer noch für die Figuren in „Captain Phillips“ neu: Piraten kapern im Roten Meer und am Horn von Afrika seit Jahren Handelsschiffe und erpressen hohe Lösegelder. Das Thema ist historisch, ökonomisch, rechtlich und sicherheitstechnisch sehr komplex. Erwartungsvoll schaut man sich die ersten Szenen an: Wie weit wird Greengrass bei der Backstory gehen? Was kann man im Kino erwarten, wenn man weiß, dass generell das Episodische, die spannende Erzählung, Vorrang vor dem Faktischen, dem Informativen, der Analyse hat?


Nach einer Viertelstunde weiß man es: Es macht sich ungepflegte Langeweile breit. Hafenaufnahmen und Routineabläufen an Bord werden gezeigt, fast alles gerät etwas zu lang. Wenn Dramaturgie den ungewöhnlichen Moment im Gewöhnlichen einfangen will, so wählt Greengrass in seinem Film programmatisch den anderen Weg. 

Stilistisch wird alles von einem Look abgerundet, den man offenbar heutzutage unwidersprochen für dokumentarisch hält: es gibt nur Handkameras, keine Dollys, keinen Kran.
Natürlich halten die Kameramänner nicht still: der für Greengrass typische Shaky-Cam-Style, mit dem er vor einigen Jahren in seinen Beiträgen zur Jason Bourne-Serie das Genre revolutionierte und auch seinen Nine Eleven-Film „Flug 93“ hyperstilisierte, zerlegt die Szenen seines neuen Films förmlich, statt sie zusammenzusetzen. 
Totalen sind selten, Sequenzen setzen sich häufig aus Halbnah- und Nahaufnahmen zusammen. Alles sieht aus, als wäre es mit dem Handy gefilmt.
Auch die Montage ist ein Jammertal: der Film ist gewollt amateurhaft zusammengeschnitten, so als wäre das Material unbearbeitet geblieben. „Captain Phillips“ sieht aus, als hätte es keinen Schnitt gegeben. Jump-cuts und Achsensprünge inklusive. Das, was wir bislang unter Continuity verstanden haben, nämlich dass die eingesetzten technischen Werkzeuge unsichtbar werden, wird auf den Kopf gestellt: Der Einsatz der Kamera kontaminiert die spätere Montage. Der Zuschauer ist gezwungen, die Takes zu interpretieren, die quasi im Kopf neu  zu montieren, damit sie verstanden werden können. 

Es ist körperlich anstrengend, diesen Film zu sehen. 

 
Im Kinosaal beginnen die Gedanken des Kritikers zu wandern: Wie viel Arbeit müssen Profis investieren, um ein visuelles Konzept umzusetzen, für das man in anderen Filmen bereits nach dem ersten Drehtag entlassen worden wäre? Werden mechanische Hilfsmittel eingesetzt, um die Kameramänner daran zu hindern, ihr Arbeitsgerät ruhig zu halten?

Umso erschütternder ist die mittlerweile kaum noch reflektierte Begeisterung für derartige Charaden. Nicht nur professionelle Filmkritiker, sondern auch Cineasten, die über Filme bloggen, wiederholen für meinen Geschmack zu oft und dazu noch gebetsmühlenartig die These von der großen Authentizität dieses Films. Und dabei geht es dann sogar lyrisch zu (1).


Wieso dieser Stil dann auch noch realitätsgerecht sein soll, will mir nicht einleuchten. Denn dies würde den Umkehrschluss zulassen, dass eine ruhige Kameraführung, die auch der Mimik der Darsteller ihren Platz gibt, und eine Montage, die strukturiert anstatt parzelliert, per se unrealistisch sind. Wenn man sich daran erinnert, dass der große Metaphysiker des realistischen Kinos, Andre Bazin, einst von tiefenscharf aufgenommenen Plansequenzen geschwärmt hat, dann ist die Zerstörung des filmischen Raums in „Captain Phillips“ eine Kapitulation. Der Film ist ein einziges Desaster.



Filmischer Realismus besteht nicht aus Manierismen

Generell sind nicht nur die Filmkritiker, sondern auch die Macher dieses neuen Formalismus einem Trugschluss aufgesessen: Realismus ist eben nicht nur Form, auch keine Ontologie, die aus dem Wesen der Fotografie die Metaphysik des wirklichkeitsnahen Kinos ableitet. 
Realismus stellt sich auch nicht notwendig ein, wenn man Filme macht, die („endlich!“, wird der Home Video-Amateur rufen, obwohl es bereits für iPhones nützliche Apps gibt, die das Bild stabilisieren) so aussehen, wie sie jemand machen würde, der zum ersten Mal eine Kamera in der Hand hält: Er schwenkt zwanghaft hin und her, zoomt ständig und realisiert eine ADHS-Ästhetik, die begeistert ihre Nachfolger auf den Plan ruft, da man das Material beliebig zusammenschneiden kann – merkt ja eh keiner bei dem Gewackel, wenn die Anschlüsse nicht stimmen.

Realismus ist Inhalt und Analyse. Dann erst Stil. Realistisches Erzählen besteht aus gut recherchierte Fakten und ihrer Transformation in eine Erzählung, die Strukturen und Zusammenhänge erarbeitet. Realistisches Kino ist daher auch dialektisch. Und wenn es schon programmatisch zugehen soll, so ist Realismus im Kino non-konformistisch in der Sache und nie affirmativ, sondern kritisch. Deshalb kann (und muss vielleicht sogar) realistisches Kino in der Form konservativ sein.
 

David Simon, einer der Macher von „The Wire“, DER realistischen TV-Serie schlechthin, hat dies auf den Punkt gebracht: mit den Menschen reden, die Fakten einsammeln, dann aber eine Fiktion zu schaffen, die eben nicht nur das Alltägliche vorführt, sondern vor seinem Hintergrund das Typologische herausarbeitet. Und dazu muss keine Kamera wackeln und ständig mit der Unschärfe ringen. Realismus ist daher der kritische Umgang mit dem Inhalt und der ist meistens politisch. Reine oder empirische Anschauungen, das hat bereits Kant gewusst, sind nichts ohne begriffliche Ordnung. Und auch im Kino, einem vorzüglichen Medium der Anschauung, geht es nicht ohne Diskurs.
Der findet nicht selten in Dialogen statt. Dazu braucht man ein gutes Script und sorgfältig aufgebaute Figuren. Doch wenn in „Captain Phillips“ nach gut einer Viertelstunde die somalischen Piraten im zweiten Anlauf Phillips‘ Containerschiff „Maersk Alabama“ erobert haben, hat außer Tom Hanks keine der anderen Figuren an Bord auch nur annäherungsweise ein eigenes Profil erhalten. Und nach einer Dreiviertelstunde hat man von den Banditen nur erfahren, dass sie mit weit aufgerissenen Augen herumschreien wie auf Droge. Ich behaupte sogar ein wenig boshaft, dass Greengrass hier ungewollt einen Sack voll rassistischer Klischees bedient. Dramaturgisch bewegt sich Greengrass also knapp über der Nulllinie.
Im Krankenhaus ist dies ein prämortaler Zustand.



The Game isn’t fort he weak

„Captain Phllips“ basiert auf dem zusammen mit Stephan Talty verfassten Buch von Richard Phillips „A Captain's Duty: Somali Pirates, Navy SEALs, and Dangerous Days at Sea“. Das Buch und besonders die Rolle, die Phillips tatsächlich während des Vorfalls spielte, sind und bleiben umstritten. Fest steht, dass „A Captain's Duty“ streckenweise zu einer Apologie des finalen Einsatzes der Navy Seals geworden ist, die am Ende die Entführer liquidieren: „The real heroes of this story (Phillips)“.

Greengrass benötigt über eine Stunde, um diesen zweiten Teil der Geschichte zu erzählen: Phillips ermuntert die Entführer mit 30.000 $ aus dem Schiffstresor und einem Rettungsboot zu fliehen, wird aber bei der Aktion von den Piraten überwältigt und entführt. Es beginnt eine nervenaufreibende Flucht, in deren Verlauf drei US-Kriegsschiffe verhindern wollen, dass die Piraten mit dem Entführten die somalische Küste erreichen. „The game isn’t fort he weak“, stellt einer der Entführer lakonisch fest und gibt damit der eingangs geäußerten Lebensphilosophie Phillips‘ eine neue Deutung.
Nur einmal gibt es eine kurze Szene, in der sich die Entführer als Fischer outen, die sich mit ihren Aktionen gegen die illegale Überfischung ihrer Gewässer wehren wollen. Das war’s dann schon mit Hintergrundinformationen. Warum sich Handelsschiffe nicht adäquat verteidigen dürfen (laut einem Rechtsgutachten der Bundesregierung würde sich ein deutscher Kapitän, der sich gegen die Piraten mit Waffen zur Wehr setzt, strafbar machen, da der Schutz der Handelsflotte eine hoheitliche Aufgabe ist; mittlerweile hat sich die Einschätzung geändert (1)), in welchem rechtlichen Rahmen sie sich beim Einsatz privater Sicherheitskräfte an Bord national und international bewegen, wird ebenso wenig klar wie die Verklappung von Giftmüll vor der Küste Somalias und die Zusammenhänge von globalisierter Schifffahrt und internationalen militärischen Einsätzen gegen die Piraterie, die sich mittlerweile an die Westküste Afrikas verlagert hat.
 

„Captain Phillips“ ist unterm Strich der Versuch, eine spannende Geschichte zu erzählen und dabei die stilistische Integrität zu bewahren. Das ist gelungen: Wo Greengrass draufsteht, ist Greengrass garantiert auch drin. Sein Film ist ein besonders grausamer Ableger jenes Typs von „Chaos Cinema“, den der deutsche und in den USA lebende Filmwissenschaftler Matthias Stork in seinen bemerkenswerten Essays über Chaos Cinema beschrieben hat …
Barkhad Abdi als Piraten-Anführer Muse hat der Film immerhin eine Nominierung als Bester Nebendarsteller eingebracht. Weder Greengrass noch Hanks sind berücksichtigt worden. Warum auch? Der Film steht in jeder Hinsicht auf wackeligen Beinen. 

Was aber tatsächlich vor den Piraten schützt, ist Musikbeschallung. So verwendet die britische Handelsmarine mittlerweile Hits von Britney Spears, um die Angreifer zu vertreiben. Dies scheint zu klappen, denn die Piraten hassen kaum etwas mehr als die westliche Kultur und ihre Musik. Diese Pointe hat sich Greengrass entgehen lassen: es wäre ein schöner Epilog geworden.


Noten: BigDoc = 5
 

(1) Auch wenn er auf einer wahren Begebenheit beruht, ist Captain Phillips ein inszenierter Thriller durch und durch, und wenn sein Blick dabei doch stets dokumentarisch ist, dann weil er von glühendem Interesse für die Welt, aus der er seine Spannung zieht, durchdrungen ist (critic.de)
(2) online in: Frankfurter Allgemeine Zeitung



Quellen:

VIDEO ESSAY: CHAOS CINEMA, PART 1-3
Part 1-2
Part 3

The Wolf of Wall Street

Martin Scorseses Portrait des skrupellosen Finanzhais Jordan Belfort ist ein opulentes Schwelgen in Drogen- und Sexexzessen, ein Parforceritt Leonardo DiCaprios, der das Prinzip „Gier“ so überwältigend verkörpert , dass dem zu lang geratenen Film der Blick auf die Opfer völlig verloren geht.

Scorsese beginnt wie üblich stark. Kaum ein anderer Filmemacher kann unverwechselbar und mit wenigen Federstrichen die Essenz einer Figur mit so sardonischem Humor skizzieren, wie es Scorsese immer wieder gelingt. Oder anders gesagt: seine Hauptfigur erzählt aus dem Off ihr Lebensthema so prägnant, dass keine Fragen mehr übrig bleiben – und das heißt für Belfort: immer mehr Geld, immer mehr Sex. Überhaupt von allem immer mehr.

Das nennt man auch Gier. Im Geld kann Jordan Belfort baden, er tut es auch. Der Sex ist unbegrenzt, den Nutten wird Koks mit dem Strohhalm in den Arsch geblasen, und in der übrigen Zeit wird generalstabsmäßig der tägliche Drogenkonsum geplant und noch mehr Geld verdient. Dass er es am Anfang seiner Karriere nicht geschafft hat, pro Woche eine Million zu verdienen, ist Belforts größter Makel. Denkt er jedenfalls. Nach diesem schmissigen Intro über Exzesse im Zustand fortschreitender Hybris beginnt die eigentliche Geschichte vom „Rise and Fall“ eines monströsen Mannes, den es tatsächlich gibt und der über seine Lebensgeschichte ein Buch geschrieben hat.

Scorseses Belfort geht wie sein Vorbild Mitte der 1980er Jahre nach New York, um Broker zu werden. Überraschend schnell kann er die Aufmerksamkeit seines Chef Mark Hanna (Matthew McConaughey) gewinnen, der sein Mentor wird. Belfort will zwar auch das schnelle Geld machen will, ist aber naiv genug, um zu glauben, dass es nicht schaden könne, wenn für die Kunden auch etwas abfällt. Ein Fehler!
Hanna erklärt dem Novizen beim Dinner die drei Grundregeln des Geschäfts: 1. Die Provision ist alles. Der Kunde darf nach einem Gewinn nicht verkaufen, er muss durch weitere Gewinnversprechungen mitsamt seinem Geld im Spiel bleiben, 2. Belfort müsse wie er selbst zweimal pro Tag wichsen, damit das innere Gleichgewicht erhalten bleibt und 3. Drogen helfen dabei, über den Tag zu kommen.



Als 1987 am sogenannten Black Friday der Dow Jones katastrophal zusammenbricht, ist Belfort, wie auch andere Börsenmakler, seinen Job los. 
Mit „Rise and Fall“ hat dies zunächst noch nichts zu tun, vielmehr mit „Booms and Bust“, dem Aufstieg und Niedergang der Aktienwerte, besonders in den überheizten „Bubbles“, jenen mysteriösen Blasen, die zuletzt in der Immobilenkrise zu einem globalen Flächenbrand führten. 



In der Manege: blutrünstige Raubtiere

Belfort verdingt sich nach diesem Rückschlag im Penny-Stock-Geschäft - Papieren, deren Wert unter 5 US-Dollar notiert ist, die aber hohe Provisionen abwerfen. Spekulations-Spielzeug für jene, deren Ersparnisse nicht einmal im fünfstelligen Bereich liegen und denen Papiere von Unternehmen verhökert werden, die oft aus nicht mehr als einer schäbigen Klitsche im Hinterhof bestehen. 

Belfort, der der charismatische Verkäufer, ist bald tough genug, um zusammen mit seinem neuen Buddy Donnie Azoff (Jonah Hill) in einer Garage eine eigene Firma zu gründen: Stratton Oakmont. Zusammen mit einer handverlesenen Crew aus raffinierten Gaunern, die im günstigsten Fall aus dem Kleinbürgermilieu stammen, beginnt der unaufhaltsame Aufstieg des Unternehmens. Als sich Belfort und sein rasch wachsendes Team auf potente Kunden konzentrieren, werden über Nacht plötzlich Millionen gescheffelt. Dabei hielt
Stratton Oakmont selbst einen Großteil der Papiere, trieb den Kurs nach oben und verkaufte dann rechtzeitig, während die Sell Order der Kunden einfach ignoriert wurde. Dabei entstand ein Schaden in Höhe eines dreistelligen Millionenbetrags, den Belfort bis heute noch nicht vollständig zurückgezahlt hat.
Belfort schwört in diesem Zockerrausch seine Mitarbeiter wie ein unwiderstehlicher Sektenguru auf Reichtum und noch mehr Reichtum ein. Die Abschlüsse werden mit Kokain und dem enthemmenden Methaqualone gefeiert, die Broker schreien dabei wie Affen im Dschungel. Die anwesenden Nutten teilt man in Qualitäts- und Preisklassen ein. Für jeden ist etwas dabei, für jeden ist etwas zu holen und sehr rasch erhält Belfort in Börsenkreisen seinen Nickname „The Wolf of Wall Street“.

Scorsese zeigt uns im seinem neuen Film eine Arena voller Raubtiere. In der Welt Belforts herrscht das Gesetz des Stärkeren, doch anders als in seinen Mafia-Filmen illustriert Scorsese in „The Wolf of Wall Street“ keine Mobster, sondern Betrüger, deren Handeln erst dann kriminell wird, wenn sie die wenigen Regeln brechen, die es für sie gibt.

Geht es Scorseses Mafiosi noch um das Aufrechterhalten einer gutbürgerlichen Fassade und ein gewisses Regelwerk, so herrscht in der Welt von Jordan Belfort nicht nur der ungehemmte Hedonismus, sondern jene vernichtende Gier, die nach neo-liberalem Selbstverständnis eine wichtige Triebfeder der Ökonomie sein kann. Dazu gehört natürlich, dass zumindest ein Teil der Betrogenen ebenfalls den Traum vom unbegrenzten Reichtum teilt oder sie wenigstens einen Teil vom Kuchen haben wollen. 


Leonardo DiCaprio ist eine grandiose Fehlbesetzung

In dieser Welt ist Leonardo DiCaprio eine grandiose Fehlbesetzung. Und zwar, weil er einfach zu gut, zu unwiderstehlich ist.
DiCaprio, dessen Imago sowohl mit der Darstellung unbekümmerter Sunnyboys, Gauner und Abenteurer („The Beach“, „Catch Me If You Can“) als auch mit den Portraits neurotischer und psychopathischer Egomanen („Aviator“, „J. Edgar“, „Django Unchained“) verknüpft ist, hat sich dieses Stück vom Kuchen nicht entgehen lassen. Gegen die Performance, die er in „The Wolf of Wall Street“ hinlegt, ist seine Darstellung von Howard Hughes beinahe Kindertheater. Der Mann ist reif für den Oscar.
Aber auch wenn er Belfort hinreißend gut spielt und dabei zwischen Größenwahn und Großzügigkeit, Drogenwahn und sexuellen Ausschweifungen changiert, so bleibt der DiCaprio-Charme immer ein Teil seiner fiktiven filmischen Identitäten. Es ist das Los der Superstars unter den Schauspielern, dass sie am Ende immer ein wenig das Gleiche spielen. Doch DiCaprio hat noch nie ein skrupelloses nihilistisches Arschloch gespielt, und das kann er eigentlich auch nicht. Während man ihm also ungläubig zuschaut und der Kopf gleichzeitig DiCaprios Charisma und seinem immer noch jugendlichen Schwung gute Argumente entgegenhalten kann, so ist man nie ganz bereit, in ihm das Monster zu sehen, das seine Figur tatsächlich gewesen ist.

Allerdings tut Scorsese doch einiges, um dem Charmeur die Zähne zu ziehen. Als der FBI-Agent Patrick Denham (Kyle Chandler) Belfort auf seine Abschussliste gesetzt hat, weil sich Stratton Oakmont bei der Börsenplatzierung eines neuen Unternehmens durch ein Indider-Geschäft etliche Millionen ergaunert hat, wird es plötzlich kritisch für den Börsenguru. Erst muss er sein Geld in die Schweiz schmuggeln, dann sieht er sich dazu gezwungen, seine Geschäfte von seiner Yacht aus zu organisieren, die im Mittelmeer kreuzt.
Belforts Drogenexzesse werden nun immer massiver und es gehört sicher zu den darstellerischen Höhepunkten von Scorseses Film, wenn er Belfort nach einer beinahe letalen Überdosierung wie ein angeschossenes Tier zeigt, das erbärmlich zu seinem Wagen kriecht. Spätestens in dieser Szene wird klar, dass Scorsese seiner Hauptfigur keineswegs den Abstieg in Dreck und Kotze ersparen will.
 Aber man kann es drehen und wenden, wie man will: DiCaprio meistert auch dies mit beispielloser Bravour, so wie er auch alle anderen glatt an die Wand spielt. Das gilt sowohl für die durchweg überzeugende Margot Robbie als Belforts zweite Ehefrau Naomi, für Jean Dujardin, der einen nicht weniger verschlagenen Schweizer Bankier spielt, aber auch für Kyle Chandler, der als FBI-Fahnder zu wenig Spielzeit erhält, um mehr als das Profil eines professionellen Cops aufbauen zu können.

Am Ende wartet auf Jordan Belfort das keineswegs unvermeidliche Ende. Der Sturz ist nicht shakespearian, keine Tragödie, die dem tragischen Helden seine Würde lässt, sondern ein letzter Akt des Größenwahns.
Als Belforts Anwälte einen Deal ausmachen, der ihm das Gefängnis um den Preis seines völligen Rückzugs ersparen würde, widerruft Belfort auf seiner Abschiedsparty den Rücktritt. Die Jungs von Stratton Oakmont fühlen sich bereits so stark, dass sie unter großem Gejohle auf die Vorladungen der Ermittlungsbehörden pissen. Das Raubtier Belfort erfährt kurz vor dem harten Aufschlag sogar so etwas wie brüderliche Loyalität, als ihm Azoff versichert, dass die ‚Jungs’ ihn keineswegs in seinen finanziellen Kalamitäten hängen lassen würde. Verraten wird sie Belfort am Ende doch und statt 20 Jahren Knast kommt er mit drei Jahren davon. Ein letzter guter Deal. Der echte Belfort arbeitet heute erfolgreich als Verkaufs-Coach. Einmal sogar für die Deutsche Bank.


Auf hohem Niveau gescheitert

Über 25 Jahre später hat sich am Geist der 1980er Jahre, dem unter Ronald Reagan durch eine umfassenden Banken-Deregulierung der Weg bereitet wurde, nicht viel viel geändert. Im letzten Jahr wurden an den US-Börsen für über 420 Milliarden Dollar Aktien auf Pump gekauft. Da stellt sich schon die Frage, warum man eine an einer systemischen Analyse nur beiläufig interessierte Komödie wie „The Wolf on Wall Street“ macht?

Christina McDowell, die Tochter eines führenden Mitarbeiters aus Belforts Team, hat  in einem Essay (1) Martin
Scorsese deshalb heftig angegriffen. Sie hat gute Gründe: „Belfort's victims, my father's victims, don't have a chance at keeping up with the Joneses. They're left destitute, having lost their life savings at the age of 80. They can't pay their medical bills or help send their children off to college because of characters like the ones glorified in Terry Winters' screenplay. Let me ask you guys something. What makes you think this man deserves to be the protagonist in this story? Do you think his victims are going to want to watch it? Did we forget about the damage that accompanied all those rollicking good times? Or are we sweeping it under the carpet for the sale of a movie ticket?“

Scorsese hat in „The Wolf of Wall Street“ mit Jordan Belfort einen gefährlichen Nachfolger von Gordon Gekko geschaffen. Das ist ihm gelungen. Das reale Vorbild von Gekko, der Wall Street-Hai Ivan Boesky, hat bereits damals sein Credo öffentlich verkündet: „„Greed is all right, by the way. I want you to know that. I think greed is healthy. You can be greedy and still feel good about yourself.“ Oliver Stone hat dies dann in „Wall Street“ übernommen und im Wesentlichen ist Scorsese böser Held aus keinem anderen Holz geschnitzt.

Scorsese hat in seinem Film sogar noch eine Schippe draufgelegt, sich dann aber anders als in J.C. Chandors gnadenlos analytischem und damit deutlich langweiligeren „Margin Call - Der große Crash“ an der glitzernden Oberfläche festgebissen. Deshalb ist Scorseses mit knapp drei Stunden deutlich zu lang geratener Film trotz erkennbar guter Absichten auf verdammt hohem Niveau gescheitert.
Dass er sich wie in seinen Mafia-Filmen ein wenig in das Milieu verguckt hat, dass er so akribisch beschreibt, kann man „The Wolf of Wall Street“ nur bedingt vorwerfen. Zu schauerlich ist die animalische Talfahrt seiner Hauptfigur, die auf ihrem Tiefpunkt komplett zugedröhnt und wie ein Tier sabbernd durch die eigene Küche robbt, um seinen Buddy Donnie von einem fatalen Telefonat (die Telefone sind ja verwanzt!) mit einem Banker abzuhalten. 

Der intellektuelle Trugschluss Scorseses besteht vielmehr darin, dass er uns die Opfer-Perspektive verweigert. Nur ganz am Schluss lässt er Denham, den siegreichen Ermittler, in der U-Bahn einen Blick auf ein ärmlich aussehendes altes Paar werfen, das ihm gegenübersitzt. Sehen so die Opfer der Finanzhaie aus? 

Allein diese Einstellung lässt als einzige erahnen, was man in
The Wolf on Wall Street“ nicht sieht, nämlich dass auch die Opfer ein Gesicht haben. Dass es die Menschen sind, denen die Refinanzierung ihrer bereits abbezahlten Immobilie am Ende das Genick gebrochen hat. Dass diese Menschen nicht nur das Geld, sondern auch ihr Haus verloren haben, dass sie ihrer Existenz dank fauler Wertpapiere vollständig beraubt worden sind. Und so weiter, uns so weiter. Davon erzählt Martin Scorsese nichts.

„Die Wahrheit ist nicht Abbildung von Fakten, sondern von Prozessen, sie ist letzthin die Aufzeichnung der Tendenz und Latenz dessen, was noch nicht geworden ist und seinen Täter braucht.“ Ernst Bloch hat dies auf das Prinzip Hoffnung gemünzt. Es passt aber auch sehr gut als Beschreibung der Finanzmärkte, denn was in ihnen nach wie vor latent ist, wird weiterhin Täter benötigen. Wir können gewiss sein, dass sich diese finden lassen. Sie werden nicht so exzessiv sein wie Jordan Belfort, sie werden diskreter sein, biederer. Man wird sie nicht so schnell erkennen. Man muss nicht erfahren, wie sie leben, man muss vielmehr lernen, wie sie handeln, damit man sie bekämpfen kann.


Noten: Klawer = 4, BigDoc = 3

(1) Essay von Christina McDowell, adressiert an Martin Scorsese und Leonardo DiCaprio, in: http://www.laweekly.com/informer/2013/12/26/an-open-letter-to-the-makers-of-the-wolf-of-wall-street-and-the-wolf-himself?showFullText=true

Montag, 13. Januar 2014

Polizeiruf "Liebeswahn" im Kreuzfeuer der Kritik: Zu brutal?

Wenn es um Gewalt in den Medien geht, dann werden selten ästhetische Debatten geführt, sondern vielmehr medienpädagogische. Das scheint ein Selbstläufer zu sein. Der aktuelle „Polizeiruf“ geriet mit seinem "Liebeswahn" ins Kreuzfeuer, weil er mit Splatter begann, aber beinahe auch damit endete. Darf das sein?
 

Medienpädagogen und –wissenschaftler verlassen sich bei der Debatte über mediale Gewalt in der Regel auf empirisches Material: Befragungen und andere vergleichbare Studien sollen Auskunft über die möglichen Folgen exzessiver Gewaltdarstellung geben. Dass dabei einiges herauskommt, was Stirnrunzeln erzeugt, habe ich am Beispiel der TV-Ausstrahlung von „The Walking Dead“ erörtert. Über Sinn und Unsinn der akademischen Debatten entscheidet aber (immer noch nicht) der deutsche Stammtisch, der sich mittlerweile in die vielen Internet-Foren verlagert hat.
 

Der TV-Normalo will dagegen seine Meinung nicht von den Erkenntnissen der Wissenschaft abhängig machen. Er bildet sich zu Recht seine eigene Meinung. Die aber hängt wiederum von den subjektiven sozialen und medialen Erfahrungen ab, die zu Mutmaßungen über mögliche Folgen der Gewaltdarstellung führen und - was die Regel ist – zu großer Empörung. Diese hat ihre Ursache aber in erneut subjektiven Geschmacksurteilen, die man gerne zum Maßstab der allgemeinen öffentlichen Moral machen möchte. Die rhetorische Streitaxt, die geschwungen wird, endet dann in einer Debatte, in der die Keulen „Freiheit“ und „Zensur“ geschwungen werden.


Ein verlorener Kampf


Über all dem schwebt der Jugendmedienschutz mit seinen Kontrollmöglichkeiten und Restriktionen. Er kämpft meines Erachtens bereits einen verlorenen Kampf. Ich brauche zur Beweisführung nicht tief zu schürfen. Ein Beispiel genügt: Der aktuelle „Polizeiruf“ ist in der Mediathek der ARD ab 12 Jahren freigegeben und frei zugänglich ab 20.00 Uhr zu sehen (was ich gerne per Screenshot oder Foto demonstriert hätte, aber die Angst vor der Urheberrechtsverletzung und der ARD-Rechtsabteilung halten mich ab). Er bleibt tagsüber gesperrt.
Das Ganze kann man abends also bequem via Smart TV oder im Internet sehen. Mit der passenden, leicht und legal erhältlichen Software lässt sich der umstrittene Film allerdings auch tagsüber bequem downloaden – entweder in HiDef-Auflösung oder in deutlich geringerer, damit es bequem aufs Smartphone passt. Natürlich gehören solche Programme nicht auf den heimischen PC, aber gesagt werden muss es trotzdem. Theoretisch und wohl auch praktisch können die Kids den bösen Prolog des „Polizeiruf“ also bereits vor der ersten Unterrichtsstunde auf dem Schulhof bestaunen.
 

Fazit: Mediale Contents sind frei zugänglich. Natürlich kann man weiterhin Debatten darüber führen und das ist auch gut so. Aber wenn die Medien hitzige Debatten anleiern („Stoff für Zwölfjährige?“), so als hätten die Macher intendiert, die Kids mitsamt ihrer Eltern zu traumatisieren, dann ist das genauso großer Blödsinn wie das Statement des NDR-Fernsehfilmchefs „Die Kommissare stellen am Ende Recht und Ordnung her“, als würde diese späte Erfahrung die Kids vor Alpträumen bewahren.
Die gut behüteten wurden sowieso gleich nach dem Intro ins Bett geschickt, die medial unbehüteten lachen nur über das Ganze. Sie sind ganz andere Sachen gewöhnt.

Nein, Formate wie „Tatort“ und „Polizeiruf“ sind über die Jahre gesehen weitaus gewaltlosere Kost als sie andere Formate vorweisen können. Aber nach wie vor ist es Unterhaltung für Erwachsene. Wer einen Krimi ohne Gewalt fordert, kann auch gleich verlangen, dass Liebesszenen in einschlägigen Pilcher-Formaten bitte ohne jeglichen Körperkontakt gezeigt werden sollen. In beiden Erzählformaten gibt es Exzesse. Wer sich also nicht vor der Ausstrahlung über das informiert, was man abends mit seinen Kindern sehen will oder was die Kinder allein im Kinderzimmer sehen, der übernimmt keine Verantwortung für die Grenzen des Medienkonsums in den eigenen vier Wänden. Jenseits dieser hat er sowieso die Kontrolle verloren
 

Den „Polizeiruf“ haben wir übrigens gemeinsam im Filmclub gesehen. Einhellige Meinung: Ein guter ausgeklügelter Krimi, in dem diesmal die obligatorischen Ausflüge ins Privatleben dramaturgisch passten. Einer der besten „Rostocker“, den wir gesehen haben.
Und der brutale Auftakt? Einhellige Meinung: Das gehört um 20.15 Uhr nicht auf den Bildschirm, genauso wenig wie der ebenfalls heftig diskutierte „Kölner“ Tatort.
Richtig ärgerlich wird man allerdings, wenn es um die geballte Medienschelte geht. In einer bekannten überregionalen Zeitung musste sich die Redakteurin von einem Forumsbeitrag darüber belehren lassen, dass sie für ihren schnodderigen Verriss eine Szene aus einem anderen Rostocker Polizeiruf als
Beweis anführte. Manchmal ist es auch in der Hektik des journalistischen Tagesgeschäfts hilfreich, wenn man sich die Sachen vorher ansieht, bevor man über sie schreibt.

Samstag, 11. Januar 2014

Ender's Game

Auf die Verfilmung von Orson Scott Cards Roman „Ender’s Game“ (dts. Das große Spiel) konnte man gespannt sein, gilt Cards Roman doch bis heute als Meilenstein der Science-Fiction-Literatur. Obwohl die Verfilmung von Gavin Hood die adaptierten Elemente auf das Notwendige beschränkt hat, ist „Ender’s Game“ eine intelligente Herausforderung für den Zuschauer. Er muss nur an der Oberfläche kratzen.
 

Gerade das wird möglicherweise zum Problem. Gavin Hood (X-Men Origins: Wolverine) bietet eine gelackte Oberfläche, auf der man das sehen kann, was man gerade sehen will. Das erinnert an die Matrix-Trilogie und ihre virtuellen Rätsel. Auch in „Ender’s Game“ ist eine Menge Cyberspace und wie in „Matrix“ weiß der Held nicht, was real und was eine Simulation ist. 

Gleichzeitig adressiert das Sujet des Films auch eine junge Zielgruppe, eben auch wegen der Beliebtheit des Buch. Wer dabei nicht anspruchsvoll ist, kann den Film einfach als Computerspiel konsumieren, bei dem der kindliche Held eine Menge investieren muss, um den das nächste Level zu erreichen. Das ist nicht nur für heutige Kids nachvollziehbar. 

Weniger erfreulich ist dann aber die Frustration, wenn die höchste Stufe erreicht ist: Man kann und darf oder sollte vielmehr keinen Spaß an ihr haben, denn das Spiel entpuppt sich erst als Realität und dann gar als monströses Verbrechen. Und das ist für Kids etwas schwerer zu verdauen.
Andrew „Ender“ Wiggin (Asa Butterfield), der vorpubertäre Held und auserwählte Retter der Menschheit, muss genauso wie Neo in „Matrix“ hinter die Kulissen schauen, um diese Frage beantworten zu können. Auf dem Weg dorthin wird er mental und physisch gequält und gemobbt, betrogen und manipuliert. Gleichzeitig wird ihm suggeriert wird, er sei der Messias. Und als er die Wahrheit erkennt, nützt sie ihm nichts mehr. Wie Neo ist er ein getäuschter Messias. Aber während Neo sich opfern muss, um die Menschheit zu retten, wird Ender zum blutigen Messias, der mit dem Schwert und nicht mit dem Wort daherkommt. Denn wenn alles vorbei ist, hat der Held unwissentlich, aber billigend, einen Genozid verübt. 


Die Infantilisierung des Sujets ist Erzählstrategie


Hood, der auch das Drehbuch geschrieben hat, lässt in seinem Film alle Erzählstränge der Romanvorlage, die auf der Erde spielen (also auch das Kalte-Krieg-Szenario), weg und konzentriert sich auf den Kernplot: die Geschichte der brutalen Unterwerfung und Manipulation eines Kindes.

Seit Jahrzehnten führen die Menschen einen Krieg gegen eine außerirdische Spezies, die Formics. In diesem Kampf sind sie, insbesondere die Erwachsenen, unterlegen, weil sie kognitiv zu langsam sind. Bereits die erste Invasion der Außerirdischen hätte man nicht überlebt, wenn nicht der geniale Kampfflieger Mazer Rackham mit einem brillanten, aber für ihn letalen Manöver in der entscheidenden Schlacht die Wende herbeigeführt hätte. Nun plant die Flotte den finalen Gegenschlag, das Ende aller Schlachten, die völlige Zerstörung des Gegners. Mithilfe von Kindern. In Ender sieht die Internationalen Flotte (IF) besondere genetisch bedingte Fähigkeiten.
 

O.S. Cards Romanidee, Kinder zur Geheimwaffe der Flotte zu machen, ist ein cleverer Schachzug. Denn Kinder, so will es der Plot, lernen schneller auf komplexe Situationen zu reagieren und passende Strategien zu entwickeln. Natürlich ist dieses narrative Element geschaffen für eine jugendliche Zielgruppe, erst recht im Kino, und natürlich schwingt hier auch eine gewisse Infantilisierung des Sujets mit, denn die Coming-of-Age-Story vom unaufhörlichen Aufstieg eines Kindes zum Admiral der irdischen Invasionstruppen ist genau das, was viele 12-Jährige schon immer liebend gerne gelesen haben. Narzisstische Allmachts-Phantasien à la carte.
 

Das Identifikationspotential dieses narrativen Kniffs ist beträchtlich: die ständigen Übergriffe, das Mobbing, die Manipulation steigern die Empathie für die Hauptfigur noch weiter. Und was das Wesentliche ist: Ender kann mit keiner Hilfe rechnen, sieht man von seiner Schwester und einer mitfühlenden Flotten-Psychologin einmal ab. 
Während der taktischen Ausbildung in einem IF-Trainingscenter hassen ihn die Mitschüler wegen seine beinahe omnipotenten Überlegenheit, die Ausbilder sind natürlich sadistisch und der Ausbildungsleiter Colonel Hyrum Graff (grimmig und gut: Harrison Ford) steht nur scheinbar auf Enders Seite. Vielmehr sieht er in dem planvoll gequälten Kind nur das enorme taktische Potential, das man am besten dadurch freilegen kann, indem man Ender sozialem Stress aussetzt, ihm jegliche Empathie austreibt und ihn mit immer komplexeren Aufgaben und Simulationen an den Rand des Zusammenbruchs führt.
Es ist schwer, keine Sympathie für dieses Kind zu entwickeln.
 

Neben dieser ausgeklügelten Deprivation muss in „Ender’s Game“ die Schlüsselidee der Simulation beachtet werden. Simulationen finden auf mehrfache Weise statt: zum einen im „Battle Room“, in dem die Kampfeinheiten der Kadetten in Schwerelosigkeit komplizierte Gefechtssituationen überstehen müssen. Zum anderen im „Mind Game“, das Ender auf seinem Pad spielt. Das „Mind Game“ ermöglicht eine Rückkoppelung mit der Psyche des Spielers, dessen Gefühle und Erinnerungen die Storyline des Programms beeinflussen. Auch hier verblüfft Ender seine Ausbilder, da er mit unorthodoxen Entscheidungen hohe Level erreicht, die eigentlich nicht existieren sollten. Selbst Ender versteht die Bilder nicht, die er dort sieht. Später wird er aber verstehen, dass die Formics, die weder Sprache noch eine zeichenbasierte Kommunikation beherrschen, sich aber telepathisch verständigen, durch die Manipulation des „Mind Game“ firedlichen Kontakt zu Ender aufnehmen wollten. Dann wird es aber zu spät sein.
 

Ender meistert alle weiteren Herausforderungen. Als er zu einer Kampftruppe aus erfahrenen Kadetten versetzt wird, ist der Konflikt mit dem misstrauischen Gruppenkommandeur beinahe vorprogrammiert. Auch ein raffiniertes Manöver in einer Simulation, das der Gruppe den Sieg über eine konkurrierende Einheit ermöglicht, kann die Situation nicht entschärfen. Es kommt zu einer körperlichen Auseinandersetzung, in deren Verlauf Ender seinen Kommandeur besiegt (im Buch tötet er ihn). Dies führt keineswegs zu einem Disziplinarverfahren, sondern zu einer weiteren Beförderung. Ender hat nun seine eigene Gruppe, die er charismatisch von Erfolg zu Erfolg führt, obwohl Graff seinen Protegé mit immer härteren, beinahe unlösbaren Aufgaben konfrontiert. 

Als Ender mit Graff zu einem Außenposten fliegt, den die Menschen in der Nähe des Heimatplaneten der Formics erobert haben, trifft er dort überraschend den legendären Mazer Rackham (Ben Kingsley), der die Schlacht vor 50 Jahren überlebt hat. Rackham treibt Ender zu neuen Höchstleistungen, gesteht ihm aber, dass sein Sieg über die Formics lediglich der Intuition zu verdanken war: er erkannte, dass der Gegner eine Königin hat und die Vernichtung ihres Schiffes machte die gegnerische Flotte handlungsunfähig.
Enders Ausbildung endet schließlich mit seinem Zusammenbruch: er verliert eine entscheidende Simulation, trotz seiner labilen Verfassung wird für den nächsten Tag aber die Abschlussprüfung in Anwesenheit des Oberkommandos angekündigt, bei der auch eine neue Massenvernichtungswaffe, der „kleine Doktor“, zum Einsatz kommen soll. Im entscheidenden Moment gerät Ender bei der allerletzten Simulation in eine ausweglose Situation. Da alles ein Spiel ist, opfert er beinahe seine ganze Flotte, um mit einem letzten Gewaltakt den „kleinen Doktor“ auf den Planeten abzufeuern. Dieser zerfällt augenblicklich in seine Moleküle. Im allgemeinen Jubel werden Bilder vom realen Heimatplanten der Formics eingespielt. Ender begreift, dass er betrogen wurde. Die Simulation war, wie auch die vorangegangenen, kein Spiel. Er hat tatsächlich den Planeten vernichtet und eine ganze Spezies ausgelöscht.


"Wenn eine Idee nicht auf den ersten Blick absurd erscheint, taugt sie nichts" (Albert Einstein)


„Ender’s Game“ erinnert in groben Zügen an Verhoevens „Starship Troopers“ und Kubricks „Full Metal Jacket“, an den Kampf gegen die Bugs (die sich, schaut man genau hin, eigentlich nur gegen die Kolonien der Menschen verteidigen) und, bei Kubrick, an die schier endlosen Quälereien der Soldaten, denen jegliches Mitgefühl ausgetrieben wird. Und wie in Kubricks galligem Kommentar zu den Mechanismen einer militanten Gesellschaft mitsamt ihrer unnützen Kriege ist Gavin Hoods Film sicher auch als Kommentar auf die militärischen Interventionen der USA zu lesen (vgl. Anhang).
Das könnte man erst recht auch Orson Scott Cards 1977 in der Post-Vietnam-Ära erschienener Kurzgeschichte unterstellen, die er 1985 zu einem Roman erweiterte. Der Autor hat dafür den Nebula Award und den Hugo Award erhalten, zwei begehrte SF-Literaturpreise, die seinen Military-Science-Fiction-Roman zu einem All-Time-Klassiker gemacht haben.
Cards Romanerfolg wurde allerdings durch kritische Stimmen geschmälert, die dem Autor faschistische Tendenzen unterstellten. Card ist, das ist hinlänglich bekannt, ein eher rechts-konservativer Zeitgenosse, aber der Faschismus-Knüppel dürfte hier genauso fehl am Platze sein wie im Falle des immer noch fehlinterpretierten „Starship Troopers“ von Robert A. Heinlein (1960), dessen intelligente Verfilmung durch Paul Verhoeven bis heute indiziert ist. In beiden Fällen verblüfft die distanzlose Annahme, dass bereits die Darstellung repressiver Systeme deren Affirmation nach sich zieht oder gar voraussetzt.


Tatsache ist aber, dass sich Card in einigen Interviews und Aufsätzen mittlerweile zustimmend zur amerikanischen Anti-Terrorpolitik geäußert hat. Weitere Äußerungen Cards deuten an, dass sich sein Buch nicht ohne Weiteres als pazifistische Lektüre gelesen werden kann. 
Der amerikanische SF-Autor Autor John Kessel hat dies 2004 in seinem Essay „Creating the innocent Killer – Ender’s Game: Intention and Morality“ sehr akribisch untersucht. Kessel kommt zu dem Schluss, dass O.C. Card eine eigenwillige Auffassung von Moral vertritt: die moralische Qualität einer Tat wird allein durch die Vorsätze und Überzeugungen einer Person bestimmt, aber nicht durch die Tat selbst oder durch deren Folgen. Daher kann es geschehen, dass man aus guten Gründen das Opfer bringen muss, etwas Entsetzliches zu tun, ohne dass die Folgen auf den Täter zurückfallen. Daher, so Kessel, habe Card Interesse darin gelegen, eine Figur zu erschaffen, die eine ganze Spezies komplett vernichten kann (darf) und dennoch im Kern unschuldig ist: den unschuldigen Mörder.
Moralphilosophisch ist dies ein schönes Stück Quark. Das zeigt allein schon die Anwendung dieser These auf jene NS-Täter, die sich nicht als Opfer eines Befehlsnotstands charakterisierten, sondern fest davon überzeugt waren, aus moralischen, kulturellen und biologischen Gründen die Juden vernichten zu müssen. Auch sie haben sich zu Opfergängern erklärt und die Täterrolle zurückgewiesen. 


Dass diese Analogien nicht wild ins Feld schießen, lassen auch andere Statements zu Cards Roman erkennen. Sie
verorten Ender irgendwo zwischen Jesus Christus und Adolf Hitler: der mörderische Messias nimmt das Opfer des Völkermords aus tiefer moralischer Überzeugung auf sich.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass bereits 1987 die Autorin Elaine Radford in einem Essay die These aufgestellt hat, dass Cards Roman nichts anderes als eine Verteidigung Adolf Hitlers sei, eine Behauptung, der Card, aber auch Kessel, vehement wiedersprachen. Radford hat inzwischen eine überarbeitete Fassung (2007) des Essays online publiziert: „Ender and Hitler: Sympathy for the Superman (20 Years Later)". 

Aber Kessel Überlegungen sind nicht weniger kritisch: „It is Ender who is offering up the voluntary sacrifice, and that sacrifice is the emotional price he must pay for physically destroying someone else. All the force of such passages is on the price paid by the destroyer, not on the price paid by the destroyed. ‚This hurts me more than it hurts you,‘ might well be the slogan of Ender’s Game. If, therefore, intention alone determines guilt or innocence, and the dead are dead because of misunderstanding or because they bring destruction on themselves, and the true sacrifice is the suffering of the killer rather than the killed — then Ender’s feeling of guilt is gratuitous. Yet despite the fact that he is fundamentally innocent, he takes
the sins of the world' onto his shoulders and bears the opprobrium that properly belongs to the people who made him into their instrument of genocide. He is the murderer as scapegoat. The genocide as savior. Hitler as Christ the redeemer.“
 

Es ist durchaus interessant, beide Standpunkte kennenzulernen, weil man dabei auch erfährt, wie viel Komplexität Drehbuchautor und Regisseur Gavin Hood unter den Tisch fallen ließ, um seine Adaption stärker an den Regeln des Mainstreams auszurichten. Dazu gehört auch die Entschärfung einiger Gewaltszenen. Zusammen mit Asa Butterfields guter darstellerischer Leistung entsteht so aber eher das Portrait eines Nerds und weniger das eines latent soziopathischen Killers. Hood hat einen revisionistischen Film gemacht, der folgerichtig ein Buch voraussetzt, dass dann entstanden wäre, wenn O.C. ein politisch korrektes Buch geschrieben hätte.
Dass dabei ein nicht ganz befriedigendes Filmende herauskommt, ist kein Zufall. In Hoods Version bricht Ender wie auch im Buch angesichts seiner Tat zusammen. Man hätte doch mit den Aliens reden können, lautet seine Einsicht im Film, als er erkennt, dass eben dies die Aliens mithilfe des „Mind Game“ versucht hatten. Warum aber Ender in dem von ihm vermuteten Spiel eine mörderische Strategie anwendet, ohne zu reflektieren, dass er im Ernstfall mit eben dieser Situation konfrontiert werden könnte, bleibt offen.
 Und so kommuniziert er erst nach dem fast vollständigen Genozid friedvoll mit einem überlebenden Formic, um anschließend mit dem Ei einer neuen Königin in den Tiefen des Alls zu verschwinden. Auf der Suche nach einer neuen Heimat für die beinahe ausgelöschte Spezies.


Was ist hinter der Fassade?


Noch einmal sei an die Matrix-Trilogie erinnert. Die erwähnte gelackte Oberfläche konnte gut konsumiert werden, aber wer hinter die Kulissen schauen wollte, musste dickleibige Bücher lesen. Im Falle von „Ender’s Game“ ist das nicht anders, aber hier konzentrieren sich die Debatten eher auf das Buch und weniger auf den Film. Beides wird aber Hardcore-Fans wenig begeistern und eher verwirren. 

Schauen wir mal, was übrig bleibt, wenn man die o.a. literarische Debatte ignoriert: „Ender’s Game“ ist kein großer Film, aber ein sehenswerter. Ähnlich wie „Die Tribute von Panem“ bietet er das Spiel (um das Leben/um die Menschheit) als Projektionsfläche für einfache Identifikationsprozesse an, ist dabei aber weniger schlicht gestrickt als die „Panem“-Filme.
In beiden Filmen werden die dsytopischen Elemente als gegeben gesetzt, aber nicht analysiert (was auch eine Schwäche der klassischen Science-Fiction-Literatur vor 1970 ist). 
Vielmehr wird in Ender’s Game“ ganz wie in anderen Genrebeiträgen auf das Allegorische gesetzt, in dem sich die Autoritäten (Staat, Flotte, Familie) als repressiv, zumindest aber als fragil erweisen, und das Fremde (die Außerirdischen) mehrfach gedeutet werden kann: symbolisch, tiefenpsychologisch, genregeschichtlich, ideologiekritisch. 
Das immerwährende Fremde, zum Beispiel Aliens, Monster oder die Untoten, lösen als unkalkulierbare Bedrohung lediglich den Prozess der Widerspiegelung aus, den man braucht, um zu erkennen, wer oder was man ist. 


Die Message wird dann in einer Pointe enthüllt, die sich weniger für psychologische Plausibilität interessiert, sondern in gewisser Weise eindimensional und damit weitgehend zweifelsfrei ist: Der Held hat einen Genozid verübt und muss aufgrund seines offenbar doch noch intakten moralischen Gewissens dafür büßen.

Das ist in „Ender’s Game“ etwas seicht geraten, ist aber eine Klasse besser gelungen als in dem ebenfalls seichten „After Earth“ oder dem meiner Meinung nach verunglückten „Elysium“. Dass Colonel Graffs Spruch „Wie wir gewinnen ist das Einzige, was zählt!“ nicht ausgedient hat, zeigt uns allerdings der morgendliche Blick in die Zeitung.
 

Ender’s Game (Ender’s Game – Das große Spiel) – USA, CAN, GB 2013 – Laufzeit 114 Minuten – Regie und Buch: Gavin Hood – D.: Asa Butterfield. Harrison Ford, Ben Kingsley, Abigail Breslin, Viola Davis

Anhang

Die politischen Deutungsangebote des Films sind durchaus hierarchisch zu sehen:
1. Tolles Computerspiel mit „blödem Ende“: auf Vertreter der hedonistischen Kinokultur wartet der große Frust oder als wahrscheinlichere Alternative – die Sprachlosigkeit.
2. Freie Welt gegen Ameisenstaat (=Kommunismus): das ist bereits seit den 1950er Jahren ein ideologisches Gimmick, das man fast schon beliebig unterschiedlichen Genrebeiträgen anpappen kann. Funktioniert garantiert in beide Richtungen. „Invasion of the Body Snatchers“ löste beispielsweise die Debatte aus, ob denn der Film vor der kommunistischen Gleichschaltung warnen wollte oder vor McCarthy, der die USA vor den Kommunisten retten wollte und dabei Vorgehensweisen assimilierte, die typisch für den weltanschaulichen Feind waren.
3. Die Freie Welt wird durch eine externe Bedrohung (auch ideologisch) zur Aufgabe freiheitlich-liberaler Grundsätze gezwungen und dadurch selbst unfrei (Kalter Krieg, Krieg gegen den islamistischen Terror). Das dürfte wohl am besten in den zeitgeschichtlichen Rahmen passen, der durch die Bush-Ära und die NSA abgesteckt worden ist und eine Erweiterung der oben erwähnten Assimilierungsthese ist.

Literatur

John Kessel (2004): „Creating the Innocent Killer: Ender's Game, Intention and Morality
Elaine Radford, (2007). "Ender and Hitler: Sympathy for the Superman (20 Years Later)".