Samstag, 25. Januar 2014

Captain Phillips

Hijacking vor der Küste Somalias: Nicht erst seit seiner OSCAR-Nominierung steht der neue Film von Peter Greengrass hoch im Kurs. Paul Greengrass erzählt in „Captain Phillips“ beinahe dokumentarisch die Geschichte eines Piratenüberfalls auf ein Handelsschiff und hat mit Tom Hanks einen Titelhelden gefunden, der wie die Faust aufs Auge passt. Ein von der internationalen Kritik hochgelobter Film. Leider mit vielen Längen und einem pseudo-realistischen Stil, der in visueller Hinsicht das Zuschauen zur Qual macht. Bedrückend.
 

Die erste Szene ist Programm: Richard Phillips (Tom Hanks) lässt sich von seiner Frau zum Flughafen fahren. Phillips ist Kapitän eines Handelsschiffs, das im Hafen von Oman zu einer neuen Fahrt aufbrechen soll. Im Auto wird Beiläufiges ausgetauscht. Erst als die Rede auf den Job kommt, taut Phillips auf: „Man muss stark sein, um da draußen zu überleben!“ 

Gemeint sind aber nicht die Piraten, wie der Zuschauer wohl ahnungsvoll vermuten wird, sondern die Anforderungen eines Hi-Tec-Schiffes. Früher musste man nur fleißig sein, so Phillips, um sich seinen Rang zu erarbeiten. Heute, man ahnt es, werden Seebären alten Schlages mit den Anforderungen der digitalen Welt konfrontiert.

Greengrass zeigt am Anfang, was der Zuschauer zu erwarten hat: kein fetziges Intro, sondern Normalität hart an der Grenze zur Biederkeit. Ein Gegenprogramm zum aktuellen Überwältigungskino der modernen Blockbuster. Ein streng dokumentarischer Stil, der die Realität zurück ins Kino holen soll. Und einen Helden, der sich deplatziert fühlt, aber möglicherweise gerade deswegen Qualitäten haben wird, die jüngere Kollegen nicht besitzen. Aber die Szene zeigt auch Phillips Frau als schlichte Stichwortgeberin, die als Figur erst gar nicht aufgebaut wird. So wird es auch vielen anderen Charakteren in dem Film gehen.
Der alte Mann und das Meer und die Piraten. Allein.


Ungepflegte Langeweile mit Handy-Look: Die Zerstörung des filmischen Raums

Schnitt: In einem somalischen Dorf zwingt eine bewaffnete Bande den Dorfältesten, einige junge Männer für einen Überfall abzustellen. Palavert wird im Dialekt, die Übersetzung liefern Untertitel. In Oman geht Philipps indes an Bord, umfangreiche Vorbereitungen werden getroffen, der Kapitän bemerkt in einer Besprechung, dass die geplante Route nur teilweise gesichert ist. Die Sicherheitsmaßnahmen müssen erhöht werden.

Das Sujet ist weder für den Zuschauer noch für die Figuren in „Captain Phillips“ neu: Piraten kapern im Roten Meer und am Horn von Afrika seit Jahren Handelsschiffe und erpressen hohe Lösegelder. Das Thema ist historisch, ökonomisch, rechtlich und sicherheitstechnisch sehr komplex. Erwartungsvoll schaut man sich die ersten Szenen an: Wie weit wird Greengrass bei der Backstory gehen? Was kann man im Kino erwarten, wenn man weiß, dass generell das Episodische, die spannende Erzählung, Vorrang vor dem Faktischen, dem Informativen, der Analyse hat?


Nach einer Viertelstunde weiß man es: Es macht sich ungepflegte Langeweile breit. Hafenaufnahmen und Routineabläufen an Bord werden gezeigt, fast alles gerät etwas zu lang. Wenn Dramaturgie den ungewöhnlichen Moment im Gewöhnlichen einfangen will, so wählt Greengrass in seinem Film programmatisch den anderen Weg. 

Stilistisch wird alles von einem Look abgerundet, den man offenbar heutzutage unwidersprochen für dokumentarisch hält: es gibt nur Handkameras, keine Dollys, keinen Kran.
Natürlich halten die Kameramänner nicht still: der für Greengrass typische Shaky-Cam-Style, mit dem er vor einigen Jahren in seinen Beiträgen zur Jason Bourne-Serie das Genre revolutionierte und auch seinen Nine Eleven-Film „Flug 93“ hyperstilisierte, zerlegt die Szenen seines neuen Films förmlich, statt sie zusammenzusetzen. 
Totalen sind selten, Sequenzen setzen sich häufig aus Halbnah- und Nahaufnahmen zusammen. Alles sieht aus, als wäre es mit dem Handy gefilmt.
Auch die Montage ist ein Jammertal: der Film ist gewollt amateurhaft zusammengeschnitten, so als wäre das Material unbearbeitet geblieben. „Captain Phillips“ sieht aus, als hätte es keinen Schnitt gegeben. Jump-cuts und Achsensprünge inklusive. Das, was wir bislang unter Continuity verstanden haben, nämlich dass die eingesetzten technischen Werkzeuge unsichtbar werden, wird auf den Kopf gestellt: Der Einsatz der Kamera kontaminiert die spätere Montage. Der Zuschauer ist gezwungen, die Takes zu interpretieren, die quasi im Kopf neu  zu montieren, damit sie verstanden werden können. 

Es ist körperlich anstrengend, diesen Film zu sehen. 

 
Im Kinosaal beginnen die Gedanken des Kritikers zu wandern: Wie viel Arbeit müssen Profis investieren, um ein visuelles Konzept umzusetzen, für das man in anderen Filmen bereits nach dem ersten Drehtag entlassen worden wäre? Werden mechanische Hilfsmittel eingesetzt, um die Kameramänner daran zu hindern, ihr Arbeitsgerät ruhig zu halten?

Umso erschütternder ist die mittlerweile kaum noch reflektierte Begeisterung für derartige Charaden. Nicht nur professionelle Filmkritiker, sondern auch Cineasten, die über Filme bloggen, wiederholen für meinen Geschmack zu oft und dazu noch gebetsmühlenartig die These von der großen Authentizität dieses Films. Und dabei geht es dann sogar lyrisch zu (1).


Wieso dieser Stil dann auch noch realitätsgerecht sein soll, will mir nicht einleuchten. Denn dies würde den Umkehrschluss zulassen, dass eine ruhige Kameraführung, die auch der Mimik der Darsteller ihren Platz gibt, und eine Montage, die strukturiert anstatt parzelliert, per se unrealistisch sind. Wenn man sich daran erinnert, dass der große Metaphysiker des realistischen Kinos, Andre Bazin, einst von tiefenscharf aufgenommenen Plansequenzen geschwärmt hat, dann ist die Zerstörung des filmischen Raums in „Captain Phillips“ eine Kapitulation. Der Film ist ein einziges Desaster.



Filmischer Realismus besteht nicht aus Manierismen

Generell sind nicht nur die Filmkritiker, sondern auch die Macher dieses neuen Formalismus einem Trugschluss aufgesessen: Realismus ist eben nicht nur Form, auch keine Ontologie, die aus dem Wesen der Fotografie die Metaphysik des wirklichkeitsnahen Kinos ableitet. 
Realismus stellt sich auch nicht notwendig ein, wenn man Filme macht, die („endlich!“, wird der Home Video-Amateur rufen, obwohl es bereits für iPhones nützliche Apps gibt, die das Bild stabilisieren) so aussehen, wie sie jemand machen würde, der zum ersten Mal eine Kamera in der Hand hält: Er schwenkt zwanghaft hin und her, zoomt ständig und realisiert eine ADHS-Ästhetik, die begeistert ihre Nachfolger auf den Plan ruft, da man das Material beliebig zusammenschneiden kann – merkt ja eh keiner bei dem Gewackel, wenn die Anschlüsse nicht stimmen.

Realismus ist Inhalt und Analyse. Dann erst Stil. Realistisches Erzählen besteht aus gut recherchierte Fakten und ihrer Transformation in eine Erzählung, die Strukturen und Zusammenhänge erarbeitet. Realistisches Kino ist daher auch dialektisch. Und wenn es schon programmatisch zugehen soll, so ist Realismus im Kino non-konformistisch in der Sache und nie affirmativ, sondern kritisch. Deshalb kann (und muss vielleicht sogar) realistisches Kino in der Form konservativ sein.
 

David Simon, einer der Macher von „The Wire“, DER realistischen TV-Serie schlechthin, hat dies auf den Punkt gebracht: mit den Menschen reden, die Fakten einsammeln, dann aber eine Fiktion zu schaffen, die eben nicht nur das Alltägliche vorführt, sondern vor seinem Hintergrund das Typologische herausarbeitet. Und dazu muss keine Kamera wackeln und ständig mit der Unschärfe ringen. Realismus ist daher der kritische Umgang mit dem Inhalt und der ist meistens politisch. Reine oder empirische Anschauungen, das hat bereits Kant gewusst, sind nichts ohne begriffliche Ordnung. Und auch im Kino, einem vorzüglichen Medium der Anschauung, geht es nicht ohne Diskurs.
Der findet nicht selten in Dialogen statt. Dazu braucht man ein gutes Script und sorgfältig aufgebaute Figuren. Doch wenn in „Captain Phillips“ nach gut einer Viertelstunde die somalischen Piraten im zweiten Anlauf Phillips‘ Containerschiff „Maersk Alabama“ erobert haben, hat außer Tom Hanks keine der anderen Figuren an Bord auch nur annäherungsweise ein eigenes Profil erhalten. Und nach einer Dreiviertelstunde hat man von den Banditen nur erfahren, dass sie mit weit aufgerissenen Augen herumschreien wie auf Droge. Ich behaupte sogar ein wenig boshaft, dass Greengrass hier ungewollt einen Sack voll rassistischer Klischees bedient. Dramaturgisch bewegt sich Greengrass also knapp über der Nulllinie.
Im Krankenhaus ist dies ein prämortaler Zustand.



The Game isn’t fort he weak

„Captain Phllips“ basiert auf dem zusammen mit Stephan Talty verfassten Buch von Richard Phillips „A Captain's Duty: Somali Pirates, Navy SEALs, and Dangerous Days at Sea“. Das Buch und besonders die Rolle, die Phillips tatsächlich während des Vorfalls spielte, sind und bleiben umstritten. Fest steht, dass „A Captain's Duty“ streckenweise zu einer Apologie des finalen Einsatzes der Navy Seals geworden ist, die am Ende die Entführer liquidieren: „The real heroes of this story (Phillips)“.

Greengrass benötigt über eine Stunde, um diesen zweiten Teil der Geschichte zu erzählen: Phillips ermuntert die Entführer mit 30.000 $ aus dem Schiffstresor und einem Rettungsboot zu fliehen, wird aber bei der Aktion von den Piraten überwältigt und entführt. Es beginnt eine nervenaufreibende Flucht, in deren Verlauf drei US-Kriegsschiffe verhindern wollen, dass die Piraten mit dem Entführten die somalische Küste erreichen. „The game isn’t fort he weak“, stellt einer der Entführer lakonisch fest und gibt damit der eingangs geäußerten Lebensphilosophie Phillips‘ eine neue Deutung.
Nur einmal gibt es eine kurze Szene, in der sich die Entführer als Fischer outen, die sich mit ihren Aktionen gegen die illegale Überfischung ihrer Gewässer wehren wollen. Das war’s dann schon mit Hintergrundinformationen. Warum sich Handelsschiffe nicht adäquat verteidigen dürfen (laut einem Rechtsgutachten der Bundesregierung würde sich ein deutscher Kapitän, der sich gegen die Piraten mit Waffen zur Wehr setzt, strafbar machen, da der Schutz der Handelsflotte eine hoheitliche Aufgabe ist; mittlerweile hat sich die Einschätzung geändert (1)), in welchem rechtlichen Rahmen sie sich beim Einsatz privater Sicherheitskräfte an Bord national und international bewegen, wird ebenso wenig klar wie die Verklappung von Giftmüll vor der Küste Somalias und die Zusammenhänge von globalisierter Schifffahrt und internationalen militärischen Einsätzen gegen die Piraterie, die sich mittlerweile an die Westküste Afrikas verlagert hat.
 

„Captain Phillips“ ist unterm Strich der Versuch, eine spannende Geschichte zu erzählen und dabei die stilistische Integrität zu bewahren. Das ist gelungen: Wo Greengrass draufsteht, ist Greengrass garantiert auch drin. Sein Film ist ein besonders grausamer Ableger jenes Typs von „Chaos Cinema“, den der deutsche und in den USA lebende Filmwissenschaftler Matthias Stork in seinen bemerkenswerten Essays über Chaos Cinema beschrieben hat …
Barkhad Abdi als Piraten-Anführer Muse hat der Film immerhin eine Nominierung als Bester Nebendarsteller eingebracht. Weder Greengrass noch Hanks sind berücksichtigt worden. Warum auch? Der Film steht in jeder Hinsicht auf wackeligen Beinen. 

Was aber tatsächlich vor den Piraten schützt, ist Musikbeschallung. So verwendet die britische Handelsmarine mittlerweile Hits von Britney Spears, um die Angreifer zu vertreiben. Dies scheint zu klappen, denn die Piraten hassen kaum etwas mehr als die westliche Kultur und ihre Musik. Diese Pointe hat sich Greengrass entgehen lassen: es wäre ein schöner Epilog geworden.


Noten: BigDoc = 5
 

(1) Auch wenn er auf einer wahren Begebenheit beruht, ist Captain Phillips ein inszenierter Thriller durch und durch, und wenn sein Blick dabei doch stets dokumentarisch ist, dann weil er von glühendem Interesse für die Welt, aus der er seine Spannung zieht, durchdrungen ist (critic.de)
(2) online in: Frankfurter Allgemeine Zeitung



Quellen:

VIDEO ESSAY: CHAOS CINEMA, PART 1-3
Part 1-2
Part 3