Donnerstag, 31. Juli 2014

Bluray-Review: Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht

82 Jahre alt ist Edgar Reitz und immer noch will er den Deutschen ihre Heimat erklären – und zeigen. Erneut führt er uns in seine Heimat, den Hunsrück, diesmal ins Jahr 1842. Ein ‚Deutschland’ gibt es noch nicht, die Rheinprovinz Hunsrück ist preußisch und die Bevölkerung hat die Nase allemal voll. Elend und Rechtlosigkeit, Armut und Ausbeutung gehen Hand in Hand und treiben viele Hunsrücker fort ins gelobte Land Brasilien, weil es woanders sowieso immer etwas Besseres als den Tod gibt.
 

Jakob Simon ist ein Taugenichts. Und auch er will weg. Statt seinem Vater in der Schmiede zu helfen, liest er alle Bücher, die er zu greifen bekommt. Er versteht und spricht mehrere Sprachen, studiert die Dialekte der Urwald-Indianer und träumt davon, dem Elend und den Hungersnöten in seiner Heimat durch den Aufbruch in eine neue Heimat zu entfliehen. Hunderttausende sind bereits aus ganz Deutschland nach Südamerika aufgebrochen und Jakob versteht es, sich und anderen, den wenigen, die ihm zuhören, die wunderbare Zukunft auf einem neuen Kontinent in schillernden Farben auszumalen. Seine Gedanken hält er nachts in einem Tagebuch fest, tagsüber wird er von seinem Vater schikaniert, der ihm die Bücher wegnehmen will.
So entstehen in „Die andere Heimat“, dem letzten und eigentlich ersten Teil der Hunsrück-Saga von Edgar Reitz, kleine Erzählmomente mit großer Kraft, denn Jakob wird auf beinahe magische Weise geschützt: von der Mutter (wie im ersten Teil der Hunsrück-Saga spielt Marita Breuer wieder großartig die „Mutter“ und ist eine der für Edgar Reitz charakteristischen imposanten Frauenfiguren), seiner Großmutter, seinem „Unkel“. Sie verstecken für ihn die Bücher, räumen ihm Freiheit ein, wo der Zwang zum Überleben eigentlich keinen Platz für romantischen Eskapismus hat.

Das Elend ist in Reitz’ fiktivem Schabbach greifbar. Naturkatastrophen zerstören die Ernte, aber genauso unberechenbar sind die Restriktionen des Gutsherrn, der irgendwann den Dörflern sogar das Sammeln von Brennholz und Bucheneckern untersagt: Die vormals Leibeigenen sind immer noch nicht frei, die Bauernbefreiung schreitet zwar voran, muss aber teuer bezahlt werden. Der Hunger herrscht, die Bauern überleben nur, wenn sie zusätzlich ein Handwerk beherrschen, Tuberkulose und Diphtherie, hohe Kindersterblichkeit und geringe Lebenswartung sind der Normalfall und wenn jemand stirbt, ist die Aufregung meistens gering.
In dieser Welt ist Jakob (Jan Dieter Schneider), der Träumer, ein Nichtsnutz, dessen Wissen keinen ökonomischen Wert besitzt. Nur Jettchen (Antonia Bill), die Tochter eines Edelsteinschleifers, der schon einmal bessere Tage gesehen hat, und ihre beste Freundin Florinchen (Philine Lembeck) hören ihm fasziniert zu. Zwischen Jettchen und Jakob entwickelt sich etwas Sentimentales, aber Jakob ist wie viele Träumer zu schüchtern, um seinen Gefühlen Handfestes folgen zu lassen.
Ganz anders und viel zupackender ist da Gustav (Maximillian Scheidt), Jakobs Bruder, der aus dem preußischen Militärdienst zurückgekehrt ist. Als im November wie immer auf dem „Kerb“ das Ende der Ernte gefeiert wird, verlangt der Grundherr, ein junger Baron, dass die Bauern seinen Wein kaufen anstatt ihren eigenen zu trinken. Der gewalttätige Widerstand der Dörfler hat Konsequenzen: Jakob und sein Freund Franz Olm landen in der Festungshaft, während Gustav fast beiläufig auf dem „Kerb“ Jettchen schwängert und wenig später mit sanftem Druck zur Hochzeit genötigt wird. Als Jakob nach Schabbach zurückkehrt, ist einer seiner Träume bereits zerbrochen.

„Die andere Heimat“ ist kein Prequel, auch wenn die Handlung im Jahre 1842 in Schabbach beginnt und die Familie Simon erneut im Mittelpunkt steht. Von den Häusern, Orten und Plätzen aus „Heimat – Eine deutsche Chronik“ (1984) ist nur die Simon-Schmiede übrig geblieben und die meisten Familien, die im ersten Teil wichtig sein werden, tauchen erst gar nicht auf. Edgar Reitz führt den Zuschauer also eher beiläufig in eine Vorgeschichte seiner alten Filme zurück. Historisch, politisch und ökonomisch geht es um den Vor-März und der Film endet drei Jahre vor der ersten Revolution auf deutschem Boden.
Die Jahrzehnte davor werden von einer gigantischen Auswanderungswelle geprägt. Bereits 1822 hatte die brasilianische Regierung im wirtschaftlich verelendeten Hunsrück auswanderungswillige Kolonisten angeworben. 1846 und 1861 folgten zwei weitere große Auswanderungswellen. Von einer erzählt „Die andere Heimat“ und immer wieder sieht man dann auch am Horizont die Silhouetten der vollgepackten Gespanne der Auswanderer – der Aufbruch in eine bessere Welt. Dass diese auch nicht immer alle Träume erfüllt hat, steht in den Geschichtsbüchern. 1846 wurden die kostenlosen Überfahrten nach Brasilien eingestellt wurden, für viele Menschen aus dem Hunsrück platzte der Traum vom neuen Wohlstand. Sie landeten im Nirgendwo, da sie die preußische Staatsbürgerschaft aufgegeben hatten. Eine Rückkehr in die Heimat war nicht mehr möglich. Dies wird nicht erzählt, gehört aber auch zur Geschichte.


Wiedergeburt des Poetischen Realismus

So gesehen könnte „Die andere Heimat“ auf den ersten Blick ein naturalistisches Drama über einen der wichtigsten Abschnitte der deutschen Geschichte sein. Reitz und sein kongenialer Kameramann Gernot Roll (bereits in der ersten Hunsrück-Saga und in „Die zweite Heimat – Chronik einer Jugend“ dabei) bedienen diese Erwartung, spielen dabei aber auf zwei Hochzeiten.
Auf den ersten Blick wird der Alltag in Schabbach mit beinahe dokumentarischer Kamera festgehalten. Das exzellente Production Design mitsamt seinen historischen Settings, Kulissen und Kostümen trägt zu der authentischen Qualität der Milieustudie ebenso bei wie die Organisation der Dreharbeiten, bei denen die wenigen Schauspieler und die vielen Laiendarsteller die damalige Lebensführung fast vollständig assimilierten und an den Drehorten auf private moderne Technik wie das Handy verzichteten.
Dokumentarisch wirkt auch die vermeintlich nicht mehr zeitgemäße Entschleunigung der Bilder. Plansequenzen und minimalistische Montage zeigen in Reitz’ Film provozierend langsam die Arbeit in der Schmiede und auf dem Feld, das Sterben und das festliche Ankleiden der Toten, aber auch die Mahlzeiten, Erntefeste und Hochzeitsfeiern so präzise wie den verhungernden Jungen, der entkräftet an einer Mauer des Dorfes sitzt.
 

Genauso eindringlich zeigt Reitz den Zuschauern aber auch die kleinen Fluchten, etwa wenn sich Jettchen und Florinchen nackt ausziehen, um lustvoll einen blumenbewachsenen Hügel herunterzurollen. Und immer wieder verwandeln dabei Gernot Rolls schwarz-weiße Bilder die Hügel und Felder des Hunsrück in einen magischen Ort, an dem sogar ein für die Ernte verheerender Hagelschauer eine ästhetische Qualität erhält. Wie auch in den anderen Heimat-Sagas wurden Gegenstände nachkololoriert, etwa wenn Jakob seinem Jettchen am Beispiel des Wortes „Grün“ die semantischen Feinheiten der Indianersprache erklärt oder die heimlich aufbewahrte kostbare Goldmünze der Mutter goldfarben aufleuchtet.

Hier verlässt der Film seinen dokumentarischen Gestus nicht, er erweitert ihn und findet zu einem Realismus, in dem die Ästhetik nicht Effekt ist, sondern der Geschichte weiterhilft. Das Dokumentarische und Naturalistische verwandelt sich bei Reitz in jenen poetischen Realismus, den das französische Kino in den 1930er und 1940er Jahren mitsamt seiner Vorlieben für deprimierende Alltags- und Arbeitswelten und deren melancholische Helden entwickelt hat. Wie bei Jean Renoir, René Clair oder Marcel Carné kann man auch in „Die andere Heimat“ die Tradition der expliziten Sozialkritik wiederfinden und die genaue Porträtierung der Milieus, in denen sich Pessimismus und Ausweglosigkeit breit machen. 
Dazu gehören, so auch bei Reitz, der reduzierte Einsatz technischer Mittel, die Arbeit mit Laiendarstellern, aber auch die Poetisierung des Sujets durch filmische Ausdrucksformen. Das Spiel mit der Farbe und Gernot Rolls überwältigend kunstvolle Beherrschung von Licht und Schatten bringen in „Die andere Heimat“ nicht nur die Dinge, sondern auch die Menschen mitten im Elend zum Leuchten. Kleine Momente der Sehnsucht, die nicht das Elend ästhetisieren, sondern als filmische Stil das visualisieren, was Jakob dem Zuschauer im Off erzählt: die Auswanderung soll nicht Abbild der Not, sondern Abbild der Träume sein. Aber eben dies wird sich nicht erfüllen.


Heimat ist Geschichtenerzählen

Hinter all der Einfachheit in „Die andere Heimat“ wird etwas sehr Komplexes sichtbar. Es ist nicht nur das Allgemeine und Exemplarische, was vom filmischen Realismus ohnehin erwartet wird, sondern ebenfalls sichtbar wird das Individuelle und Singuläre, das sich in den Menschen als Reflex auf die äußeren Missstände widerspiegelt. Wenn man genau hinschaut, sind es die kleinen Gesten und szenischen Miniaturen, die sich im Gedächtnis festsetzen, etwa wenn Jettchen lange in einen Spiegel schaut, sich dann selbst zuwinkt und anschließend die Kerze ausbläst. Solche Beobachtungen stellen sich immer häufiger ein, wenn man den Film ein zweites oder drittes Mal sieht. Und wenn man André Bazins Beschreibung der technischen und erzählerischen Mittel von Jean Renoir noch einmal nachliest, dann hat man das Gefühl, dass auch von Edgar Reitz die Rede sein könnte. „Die andere Heimat“ zeigt beeindruckend, dass Realismus und Stil zusammengehören und sich große Erzählkunst häufig ganz unaufdringlich in eine Geschichte einschleicht.
Am Ende verlässt nicht Jakob die Heimat, sondern Gustav und Jettchen werden es tun. Sie haben ihr erstes Kind verloren und nun hält sie nichts mehr in Schabbach. Auch nicht die beschwörenden Worte des Pfarrers, auf die Gustav nur noch mit sarkastischem Agnostizismus reagieren kann. Und hier scheitert auch endgültig der romantische Gegenentwurf, den Jakob im Sinn hatte: Nicht die Träume zwingen zur Flucht, sondern die nackte Not. Gustav hatte keine, wird
aber gehen. Jakob wird im Hunsrück bleiben. Beinahe symptomatisch für den Verlust von Hoffnung ist dann auch das Auseinanderfliegen der Dampfmaschine, die Gustav für die Schmiede und damit auch für sich gebaut hat. Der Überdruck war zu groß. 
Heimat ist Geschichtenerzählen“, bemerkte Reitz in einem Interview und damit meint er auch die vielen kleinen Geschichten, die neben den großen fast beiläufig stattfinden. Sie machen das aus, was Reitz unter Mythos versteht. Am Ende ist in „Die andere Heimat“ auch deshalb nicht die Frage entscheidend, ob Jakob seinen Traum verwirklichen kann oder nicht, sondern was er nach dem Scheitern mit der Hassliebe zu seiner Heimat anfangen soll. Jettchen schenkt ihm die erste und letzte Liebesnacht, eine der schönsten Liebesszenen seit langem in einem deutschen Film, dann ist sie fort und beim Aufbruch ist sie die Einzige, die nicht zurückblicken wird, nachdem die Auswanderer tränenreich verabschiedet worden sind. Jakob wird bleiben und Frolinchen heiraten und bald darauf eine Korrespondenz mit Alexander von Humboldt (Werner Herzog in einem Kurzauftritt) beginnen, die für den berühmten Universalgelehrten so aufschlussreich ist, dass er während einer Reise nach Frankreich einen Abstecher nach Schabbach macht. Jakob, der junge Gelehrte, wird vor Schreck wegrennen, als von Humboldt nach ihm fragt. Er ist „vor seinem Ruhm davongelaufen“, wird ihm der Gelehrte später schreiben.

Und was ist Heimat denn nun eigentlich? Bestimmt nicht das, was an Stammtischen und in Bierzelten heraufbeschworen wird. Heimat ist das, wovon man in schlechten Nächten träumt, dass man es verliert oder verlassen muss. Man weiß eigentlich nicht, was es ist. Das Ferne ist noch keine Heimat, das Bekannte jedoch immer noch. Aber es ist nicht Ideologie oder Sentimentalität, was Heimat in Reitz’ Film ausmacht, sondern das Unscheinbare am Rande, der flüchtige Moment, das, was beinahe unübersetzbar im Hunsrückischen „Gehaischnis“ heißt und in seiner sprachlichen Tiefe auch Geborgenheit meint, aber nicht so einfach zu erklären ist und daher nicht ohne Weiteres auf einen einfachen Begriff heruntergebrochen werden kann. Genauso komplex also wie die Indianersprache, die Jakob so perfekt beherrscht.
Insofern ist Jakobs klarsichtige Beschreibung des „Erschreckens vor dem Gehen“ nicht das Herbeiphantasieren eines mythischen Bandes zwischen den Menschen und der Erde, die sie bewirtschaften – in der deutschen Geschichte immer wieder und zu folgenreich in eine todbringende Mythologie gepresst – sondern das Träumen vom ganz Anderen, von dem Jakob möglicherweise ahnt, dass es Begriff, aber trotz aller Lektüre von den fremden Welten noch ganz ohne Erfahrung und Inhalt ist. Vielleicht gehört es zur Natur von Jakobs Erkenntnis, dass sich sein Traum nicht erfüllen darf, weil er sonst zerstört werden würde.

Heimat ist in Reitz’ „Chronik einer Sehnsucht“ auch ganz unsentimental das, was nach dem erzwungenen Bleiben einfach immer noch da ist, während alle anderen gehen, aber nunmehr auch etwas, das sich in Freiheit verwandeln muss. Und so erfindet Jakob am Ende einen Fliehkraftregler, um den Überdruck in der Dampfmaschine zu regulieren und die Maschine endlich funktionstüchtig zu machen. Gustav hat das nicht geschafft, er hatte nur nachgebaut, aber die Technik nicht verstanden.
„Auf den Wegen der Wissenschaft ist Freiheit“, stellt Jakob dann lapidar im Off fest. Und dann weist er den Vater an: „Ihr baut und ich sage Euch, ob es richtig ist.“
Wissenschaft als Erzeuger von Mehrwert – das kennen wir. Aber sie mit Träumen und Freiheit zu assoziieren, das kann eigentlich nur einer Figur von Edgar Reitz einfallen. Jemandem, der träumt, aber dann doch merkt, dass man seine Träume neu erfinden muss, um etwas verwirklichen. Und so erobert Jakob am Ende nicht etwa die gesellschaftliche Freiheit, soweit ist es noch nicht, sondern seine eigene. Indem er ökonomische Nützlichkeit hervorbringt, erwirtschaftet er den Stolz und die Anerkennung des Vaters und im rückständigen Hunsrück damit die Unabhängigkeit, sich wieder seinen Büchern zuwenden zu können. Mehr geht nicht, aber es ist ein nicht erwarteter Akt der Befreiung.


Postskriptum: Wer soll das sehen? Und wo?

Wie zu erwarten, ist „Die andere Heimat“ mit Preisen überschüttet worden. Zu recht. In der Aufwärmphase gab es den Bayerischen Filmpreis und erwartungsgemäß ist der Film von Edgar Reitz dann auch der große Sieger beim Deutschen Filmpreis 2014 geworden: Bester Spielfilm, Beste Regie, Bestes Drehbuch (für Edgar Reitz und Gert Heidenreich). Über den Vorjahressieger „Oh Boy“ spricht eh keiner mehr und „Die andere Heimat“ reiht sich dort ein, wo mit „Das weiße Band“ (2010), „Das Leben der Anderen“ (2006) und „Die innere Sicherheit“ (2001) bereits andere, nicht weniger intelligente Visionen von Deutschland warten.
Aber nur 119.282 Zuschauer haben „Die andere Heimat“ bis Ende 2013 sehen wollen.

Offen gestanden: eine Überraschung ist dies nicht. Schwarz-weiß; Hunsrück-Dialekt, den man ohne Untertitel so gerade eben versteht; lange, sehr lange Einstellungen und eine Gesamtlänge von vier Stunden manövrieren den Film in die Filmkunst-Ecke, in der eine Reihe pauschalierender Vorurteile warten. Nicht alle sind den Zuschauern anzulasten. „Die andere Heimat“ ist ein wunderbarer Film, einer der schönsten, die ich in den letzten Jahren gesehen habe. Aber er ist auch Bildungskino, das sich nur dem ganz erschließt, der vorher oder nachher das Geschichtsbuch aufschlägt. Vier Stunden Laufzeit scheinen zudem ein Knock-out-Kriterium zu sein und so sind wohl auch jene ferngeblieben, die vor 30 Jahren Reitz’ Heimatgeschichten im Serienformat begeistert gefolgt sind. Da tut sich eine Kluft auf: die Kritiker feiern das Opus hymnisch, der Kinonormalo hört fassungslos zu.

Erinnern wir uns: 1984 waren durchschnittlich 9 Mio. Zuschauer bei der TV-Premiere von „Heimat – Eine deutsche Chronik“ dabei. Regelmäßig. Das entsprach einer Quote von 26%. Jeder zweite Deutsche hatte mindestens eine Episode gesehen.
30 Jahre später scheint dies kaum noch vorstellbar. Irgendwie, so murren einige Kritiker, wurde den Deutschen der Instinkt aus dem Leib geprügelt, gutes episches Erzählen zu mögen. Der Niedergang des deutschen Films gehe Hand in Hand mit einer fatalen Kino-Sozialisation, die sich auch auf den Zweitverwerter, das Fernsehen, auswirke. Die Jüngeren seien längst abgewandert und erwarten ohnehin eine schnelle Montage und raffinierte Plots und keine Filmsprache, die Geduld verlangt, weil man sich in den langen Einstellungen von Reitz wie in einem opulenten Gemälde umschauen soll.
Am Ende steht die Vergreisung des TV-Stammpublikums bei den Öffentlich-Rechtlichen, wo die Entscheider in den Redaktionen womöglich ihr Publikum medial längst als prä-dement einschätzen und ihm nichts mehr zumuten wollen.
Ganz so einfach ist die Sache nicht, allerdings ist die Kritik nicht unberechtigt. Ich stimme einigen Kritikpunkten sogar zu.
Aber man sollte nicht vergessen, dass Geschichten über die Geschichte im deutschen TV immer noch gut funktionieren. Ein Beispiel unter vielen: die Serie „Weißensee“. Und noch etwas: Kino und TV sind zwei paar Schuhe und dazwischen stehen noch DVD und Bluray. Man kann also hoffen, dass diejenigen, denen der Kinobesuch zu mühselig war, nun „Die andere Heimat“ zuhause sehen und das möglicherweise häppchenweise. Als Serie nach eigenem Gutdünken. Für mich steht trotzdem fest, dass „Die andere Heimat“ – und zwar in ihrer ersten fünfeinhalbstündigen Schnittfassung – als Min-Serie ins Fernsehen gehört.

Wirklich spannend ist allerdings, dass sich Edgar Reitz die Rückkehr ins Kino offenbar bewusst ausgesucht hat.
In Kinodimensionen hat er immer gedacht. Vielleicht aber auch, weil man komplexes Erzählen im Serienformat in Deutschland doch nicht mehr verkaufen kann, ohne hohe Hürden zu nehmen. Oder weil man dann von jungen, ahnungslosen Redakteuren gegängelt wird, wie sich Reitz oft genug beklagt hat.
Schade: Als noch keiner den Begriff „Horizontales Erzählen“ kannte, hat Reitz so etwas ganz einfach mal gemacht. Es passte halt. Nun ist Reitz zum Monumentalfilm zurückgekehrt. Aber so ist wenigstens ein Meisterwerk entstanden, das überdauern wird, auch wenn es nur wenige sehen werden oder wollen.


Die Bluray

Die am 10. Juli 2014 erschienene Bluray zeigt den Film in s-w im Format Widescreen (16:9 – 2.40:1). Der Ton ist in DTS-HD 5.1. Optional werden Untertitel für Hörgeschädigte angeboten, was auch zu empfehlen ist. Ich habe nach ca. 30 Minuten die Untertitel zugeschaltet, weil ‚mein’ Hunsrückisch sehr schnell an seine Grenzen stieß und einige Feinheiten ohne Untertitel schnell auf der Strecke blieben.
Das Bild ist exzellent und besitzt Referenzqualität, was auch deshalb erwähnenswert ist, weil der Einsatz externer Lichtquellen bei den Dreharbeiten aus meiner Sicht sehr intensiv gewesen ist, aber Durchzeichnung, Grauwerte und Nuancen in der Postproduktion nicht verlorengegangen sind. Nichts wirkt ‚überstrahlt’. Im Übrigen ist dies Reitz’ erste digitale Produktion gewesen, und dies meint auch den Bildschnitt am Computer, was er nach eigener Aussage als sehr produktiv erfahren hat.

Das Bonusmaterial der Bluray ist nicht nur nachdrücklich zu empfehlen, man sollte es sich ruhig als Erstes anschauen. Aufschlussreich ist das Gespräch mit dem Medienwissenschaftler Thomas Koebner. Koebner und Reitz führten es in einem Vorführraum und besonders spannend sind Reitz’ Analysen bestimmter Szenen, aber noch mehr die Ausschnitte aus Sequenzen, die bei finalem Cut der ursprünglich fünfeinhalb Stunden langen Urfassung auf der Strecke bleiben mussten. Vieles, so Reitz, habe er daher ins Off verlegt, um Zeit zu sparen.
Weitere Einsichten bietet ein längeres Interview mit Reitz nach der Filmpremiere in München, in dem Reitz trotz unübersehbarer Bescheidenheit immer gut für Aphorismen ist, wie z.B. „Kino ist nicht Zeitvertreib, sondern Zeitgewinn.“
Sollte man sich merken.

Mehr als gut gelungen ist das 38-seitige Booklet, das einige Überraschungen bereithält. Auf den Seiten 3-6 gibt „Hunsrückisch für Anfänger“ und ein „Kleines Dialektwörterbuch“, in dem man erfährt, was „Leckschmier“ ist oder „Krummbeereworschd“. Was dies bedeutet, verrate ich natürlich nicht.
Auf den Seiten 28-37 folgt dann eine wesentlich intensivere „Einführung in die Sprache der Cayucachúa und Xancaráu“ – ein netter Gag, denn erstens hat noch niemand herausgefunden, ob diese südamerikanischen Indianerstämme existieren, und zweitens hat Jan Dieter Schneider, der Darsteller des Jakob, das gesamte Vokabular und die Grammatik erfunden, um sich intensiv auf die Rolle vorzubereiten.

Deutlich informativer im eigentlichen Sinne ist aber die historische Einführung „Der Hunsrück in der Mitte des 19. Jahrhunderts“, die man unbedingt lesen sollte, bevor man den Film sieht.
Den Hauptteil des Booklets bilden Erläuterungen von Regisseur Edgar Reitz über verschiedene Aspekte des Projektes.
Sie sind angenehm sachlich, stecken den enormen Aufwand bei der Recherche und Drehentwicklung ebenso ausführlich ab wie die persönlichen Erfahrungen, die Reitz während der Dreharbeiten gemacht hat. Hervorzuheben ist dabei Reitz’ Deutung der Auswanderungswelle, die nicht nur der extremen Not zuzuschreiben war, sondern auch der Alphabetisierung, die mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht in Preußen (1815) möglich wurde. So kam auch Reiseliteratur ins Land, die besonders in den armen ländlichen Regionen dafür sorgte, dass die Utopie einer neuen Heimat konkrete Konturen annehmen konnte. Ohne Information keine Vision!


Deutschland/F 2013 · 230 min. · FSK: ab 6 Jahren - Regie: Edgar Reitz - Drehbuch: Edgar Reitz, Gert Heidenreich - Kamera: Gernot Roll - Darsteller: Jan Dieter Schneider, Antonia Bill, Maximilian Scheidt, Marita Breuer, Rüdiger Kriese u.v.a.

„Wenn wir von Schönheit sprechen, dann hat das alles zu tun mit der Prägung unserer Sinne. In allem, was wir als schön empfinden, steckt eine Vorgeschichte. Es gibt keine von Geschichte unabhängige Schönheit. Und diesen Geschichten möchte ich auf die Spur kommen. Aber da wo wir Schönheit als übertrieben oder kitschig empfinden, also da, wo sie die Grundlagen verlässt, wo Erfahrung und Wirklichkeit nicht mehr enthalten sind, da wo sie sich ins Illusionäre verwandelt, gehen auch gleich die Geschichten aus“ (Edgar Reitz über seinen Film).

Noten: Klawer, BigDoc = 1

Sonntag, 20. Juli 2014

Welches Geheimnis steckt in „True Detective“?

Rezeptionsästhetische Aspekte einer ausgeklügelten TV-Serie

In „True Detective“ gibt es Elemente, die eigentlich völlig unfilmisch sind: Zwei Männer sprechen mit einer Videokamera. Es sind die ehemaligen Cops Rust Cohle und Marty Hart. Beide sitzen jeweils allein vor einer Videokamera und berichten von Ereignissen, die der Zuschauer auf die eine oder andere Weise sieht. Später demonstrieren Gegenschüsse dem Zuschauer, dass es sich um eine Verhör- oder Befragungssituation handelt. Zwei sehr schweigsame Cops bedienen sich der Videotechnik, um ihre Gespräche mit Cohle und Hart  aufzuzeichnen. Die Befragung wird im Folgenden immer wieder von Sequenzen unterbrochen, in denen die Ereignisse, über die Cohle und Hart berichten, zu sehen sind. Doch im Verlauf der Episoden merkt der Zuschauer rasch, dass es sich dabei keineswegs nur um Flashbacks (1) handelt.
 

Bei einer Analepse unterstellt der Rezipient, besonders beim Film, dass er „tatsächliche“ Ereignisse sieht. In „True Detective“ erleben wir auch, was passiert ist, aber man sieht auch die Lügen und taktischen Umdeutungen dieser Ereignisse durch die Erzähler, z.B. dann, wenn Cohle und Hart mündlich einen gemeinsam begangenen Mord so wiedergeben, wie er in den Polizeiberichten festgehalten wurde (als Notwehr), während der Zuschauer durch die Kamera eine objektivierende Darstellung der Ereignisse angeboten bekommt (es war eine Hinrichtung).
 

Aber die Erzählung in „True Detective“ wird durch dieses „Wahrheitsangebot“ der Kamera keineswegs objektiver (was in einem fiktionalen Sujet ohnehin ein problematischer Begriff ist). Der Zuschauer spürt vielmehr, dass er seinen Augen eigentlich nicht trauen darf und so muss er fortan allen Flashbacks von Cohle und Hart (und später auch Harts Frau) skeptisch begegnen und diesen bis zu einem gewissen Grad misstrauen. „True Detective“ ist, so gesehen, ein „unreliable narrator“, ein Erzähler, dem man nicht ganz trauen darf.

Dadurch bekommt die Erzählung eine gewisse Unschärfe, was generell in allen Erzählungen der Fall ist, die sich unterschiedlicher rhetorischer Mittel bedienen und dabei rätselhafte oder sogar widersprüchliche Sichtweisen anbieten. Man kann dies formal und in Hinblick auf die rhetorischen Mittel untersuchen, aber auch wirkungsgeschichtlich. Die beobachteten Lücken in der formalen und inhaltlichen Bauweise einer Erzählung nennt man in der Rezeptionsästhetik auch „Leerstellen“.


Dieser Begriff aus der Literaturtheorie hat mittlerweile auch in der Medienforschung und damit auch in der Analyse von Filmen und TV-Serien ein besonderes Gewicht erhalten hat. Zum Beispiel dort, wo man die Änderung von Erzählperspektiven beschreiben will (objektive Kamera, subjektive Wiedergabe von Erinnerungen, absichtlich gefälschte Wiedergabe von Erinnerungen wie in „True Detective“) oder die zeitliche und inhaltliche Verzahnung unterschiedlicher Erzählstränge.

Leerstellen sind Teile oder Segmente des Inhalts, die lückenhaft, diffus oder ambivalent sind. Beispiel: Man sieht in einem Film einen Mann, der aus dem Fenster schaut, aber nur von hinten. Die Mimik bleibt im Verborgenen und der Zuschauer darf rätseln, was die Figur gerade denkt oder fühlt (2).


Die Rezeptionsästhetik geht grundsätzlich davon aus, dass der Rezipient (Leser/Zuschauer) die jeweilige Leerstelle zu schließen hat, wenn er Sinn herstellen will - z.B. durch seine Phantasie, durch Vermutungen und Annahmen oder durch die Deutung versteckter Hinweise. Wichtig an dieser Theorie ist aber, dass Kunstwerke als offen beschrieben werden und unterschiedliche Deutungsangebote machen, was sehr einfach bei jedem von uns zu beobachten ist, wenn er nach Jahren ein Buch noch einmal liest oder einen Film erneut anschaut.



Die versteckte Mythologie in „True Detective“

Symbole, die Ikonographie oder Metaphern sind tendenziell ebenfalls gute Kandidaten für „Leerstellen“. In „True Detective“ gibt es aber noch weitere, und die sind ziemlich raffiniert. 
So finden Cohle und Hart an den Tatorten nicht nur merkwürdig geflochtene Objekte und merkwürdige spiralförmige Zeichen (auch als Tattoo), sondern erhalten auch geheimnisvolle Hinweise auf einen „König in Gelb“ oder den „Gelben König“ und das unheilvolle Reich „Carcosa“.
Nun könnte man meinen, dass die beiden Cops clever genug sind, um wenigstens einmal vernünftig zu googeln. Doch ausgerechnet dies tun sie nicht. Warum?

Und weiter: Wenn Cohle in der finalen Episode einen kosmischen Wirbel sieht, den der Killer Errol Childress zuvor als „infernalische Öffnung“ beschrieben hat, die immer größer wird, weiß der Zuschauer nicht, ob Cohle eine seiner berüchtigten Halluzinationen hat oder „tatsächlich“ etwas gesehen hat. Vermutlich Letzteres, sonst hätte Childress das Phänomen nicht erwähnen müssen. Aber das ahnt nur der Zuschauer, die beiden Helden der Serien wissen es nicht. Aber warum spekulieren Cohle und Hart  in der Schlusssequenz über Metaphysisches oder Mythologisches wie den Kampf zwischen Licht und Dunkelheit, was eine Metapher für Gut und Böse ist?
Hier haben wir es mit Leerstellen zu tun, mit inhaltlichen Fragmenten, die unvermittelt auftauchen, mit Begriffen, die nicht erklärt werden, und den Zuschauern geht es nicht besser als den beiden Hauptfiguren. Im Gegensatz zu diesen können sie aber etwas tun, und dabei ist nicht Phantasie gefragt, sondern konkrete Recherche und etwas Literaturkenntnis. 


Die Erzählung in „True Detective“ stellt die dafür erforderlichen Hinweise aber nur sparsam bereit, sie lässt auch in voller Absicht nicht zu, dass den Protagonisten die Auflösung gelingt. Der Rezipient muss diese externen Elemente auftreiben und in seine Deutung einbeziehen, da sonst die Lücken nicht geschlossen werden können. Und das ist die gewünschte Wirkung einer Leerstelle.

Wohin führt das alles? Im vorliegenden Fall gehen die Verweise in eine Richtung: Alles zeigt mit einem dicken Finger auf die Weird Fiction, jene Gattung, die auch unter dem Begriff Supernatural Horror subsumiert werden kann.
Fangen wir bei Robert W. Chambers (1865-1933) an, der 1895 in seiner Short Story-Sammlung „The King in Yellow“ wunderliche Horrorgeschichten publizierte, in denen es immer wieder um ein Theaterstück geht, dessen erster Akt harmlos ist, dessen zweiter Akt bereits nach kurzer Lektüre in den völligen Wahnsinn führt. Dabei drehen sich dunkle Andeutungen um ein altes mächtiges Wesen, den „König in Gelb“, und die geheimnisvolle Stadt Carcosa. Eben jenes Carcosa, das auch bei Ambrose Bierce erwähnt wird („An Inhabitant of Carcosa“, 1886). 

In Carcosa befindet sich am Ende auch Rust Cohle, zumindest ist der Killer Errol Childress davon überzeugt, der sich sein Reich Carcosa in den Verließen eines geheimnisvollen Gebäudes eingerichtet hat. Hält sich der Bösewicht etwa für den „King in Yellow“? Ist das, was Cohle dort sieht und was ihn einen entscheidenden Moment lang ablenkt, möglicherweise die Pforte zu einer anderen Dimension? Auf jeden Fall greift „True Detective“ tief in den Fundus der Weird Fiction.


Dass jenseits von Zeit und Raum grauenhafte Wesen existieren, die in unser Universum eindringen können, hat schließlich H.P. Lovecraft (1890-1937) in seiner Cthulhu-Mythologie weiterentwickelt. Lovecraft, der erst in späteren Jahren berühmt wurde, fabulierte sich ein Reich voller grauenhafter Gestalten zusammen, die alle darauf warten, auf die Erde zurückzukehren, um dort wie bereits in grauen Vorzeiten erneut die Herrschaft zu übernehmen.
Bahnbrechend für die Exemplare dieser Gattung, die überwiegend in „Pulp Magazinen“ veröffentlicht wurden, war Lovecrafts Kurzgeschichte „The Call of Cthulhu“ (1928, dts. „Der Ruf des Cthulhu“). Hier hatte Lovecraft nicht nur alle Elemente seines Stils und seiner Erzählstrategie bereits perfekt entwickelt, sondern er führte auch eine Horrorfigur ein, die exemplarisch für die Weird Fiction ist, später regelrecht zur Pop-Ikone wurde und bis heute ihren enormen Einfluss auf Autoren und Filmregisseure behalten hat: Cthulhu, ein gewaltiges Wesen mit Flügeln, dessen Gesicht einem Tintenfisch ähnelt und aus dem tentakelbesetzte Fangarme herunterhängen. Cthulu, ein Sprössling der „Großen Alten“, einer interstellaren Rasse, schläft seit Millionen von Jahren in R’hley, einer im Meer versunkenen Stadt, wird von Zeit zu Zeit erweckt, dann wieder mit einem Bann belegt. Wie auch immer: Begegnungen mit ihm sind nicht ratsam, sie enden entweder tödlich oder – bei Lovecraft (wie zuvor bei Chambers) besonders beliebt – in völligem Wahnsinn.


Und was zum Teufel hat dies mit „True Detective“ zu tun?
 Spannend ist, dass Nic Pizzolatto auf bisher nie dagewesene Weise eine Cop-Serie mit genreübergreifenden Zutaten ausgestattet hat, die nicht einmal ansatzweise aufgeklärt werden. Selbst „Akte X“ war da auskunftsfreudiger. Es sind Verweise, die auf Erzählbestände jenseits der Serie verweisen und die der Zuschauer entweder vorrätig hat oder nicht. Der Zuschauer schließt so die Leerstellen, wozu die Protagonisten offenbar nicht imstande sind. Oder besser im Konjunktiv: Er könnte!


Die Verweise beginnen mit Chambers „The King in Yellow“ und Carcosa und führen über Lovecraft zu den geheimnisvollen Sekten tief im Inneren Louisianas, die in „The Call of Cthulu“ als eine bestialische Jüngerschaft der „Großen Alten“ beschrieben werden. Menschen, die ihre Opfer entführen, rituell vergewaltigen und danach töten und auf die Rückkehr ihrer Götter hoffen – oder wie der irre Errol Childress darauf warten, sich verwandeln zu können oder an der Öffnung der „infernalischen“ Raum-Zeit-Spalte mitwirken zu dürfen.
Der Cop Rust Cohle ist so gesehen eine sehr mehrdeutige fiktive Figur, deren psychische Verfasstheit von ihrem Autor so konstruiert worden ist, dass seine philosophische Einlassungen entweder als Rekurs auf traditionelle Philosophie (Nietzsche) oder auf den irren Kosmos der Weird Fiction verstanden werden können. Dazu gehört auch Cohles Suada über die in sich geschlossene Struktur der Zeit, in der wir alle immer wieder das Gleiche tun, weil wir wieder und wieder geboren werden und ständig das Immergleiche geschieht und sich nervtötend wiederholt, während es eine Instanz gibt, die in der Lage ist, „aus einer vierten Dimension“ (Cohle) alles, was gewesen ist und geschehen wird, gleichzeitig zu erfassen und zu erkennen, in einer Dimension, in der sich nichts verändert und die in der Ewigkeit existiert.


Kennen wir das? Es ist nicht Einstein, auch nicht Nietzsche, nein, es ist das uralte Wesen Yog-Sothoth, das laut Lovecraft außerhalb des uns bekannten Universums lebt und die Raum-Zeit als Ganzes sieht. Er ist Wächter des Tores, er ist das Tor, durch das die Großen Alten zurückkehren werden. Und wenn sie wieder über die Erde herrschen, werden sie die Menschen von jeglicher Moral befreien, sie die Lust am grenzenlosen Töten lehren: „... and the world flame with holocaust of ecstasy and freedom“ (H.P. Lovecraft, The Call of Cthulhu).


Die verrückten Sektierer, die in „True Detective“ weitgehend nicht gefasst werden, sind ziemlich nah dran am Cthulhu-Mythos. Das muss man nicht mögen, erst recht wenn man weiß, dass 2005 ausgerechnet in Louisiana an christlichen Schulen massenhaft ein rituell organisierter sexueller Missbrauch von Kindern stattgefunden hat, und auch dann nicht, wenn man in einer TV-Serie das Ganze als Wiedergänger einer beinahe vergessenen literarischen Tradition serviert bekommt.
Aber für eine Deutung von „True Detective“ ist es schon entscheidend, dass Hart und Cohle das alles nicht herausgefunden haben. Dabei wäre es doch ganz einfach gewesen. Allein der Hinweis auf den „König in Gelb“ hätte doch gereicht, oder?
Aber Hart und Cohle sind fiktive Figuren, zu deren Disposition die banale Google-Suche nach mysteriösen Zeugenaussagen offenbar nicht gehört. Das hat einen Grund. Nic Pizzolatto hat etwas geschaffen, das zu den essentiellen Bausteinen einer guten Story gehört: das Geheimnis, das innerhalb der sorgfältig durchkonstruierten Diegese nicht völlig entschlüsselt wird. Es ist wie bei der letzten Einstellung in „The Sopranos“: noch heute zerbrechen sich die Fans den Kopf darüber, ob Tony noch lebt oder tot ist.
 

Es bleibt dem Zuschauer überlassen, ob er dem Ganzen trotzdem nachgeht oder nicht. Die Schnitzeljagd ist vorbereitet, man kann der ausgelegten Spur folgen, man kann es auch lassen – dies gehört halt zu den Optionen einer guten Leerstelle! „True Detective“ funktioniert auch ohne dieses Rätsel ganz gut. Dennoch: gute TV-Serien bedienen sich mittlerweile ziemlich cleverer Strategien, um elegante Vexierspiele zu konzipieren, die ohne ihre literarischen Vorbilder nicht vollständig zu genießen sind. „True Detective“ funktioniert als TV-Serie auch deshalb so gut, und auch, weil die Deutungsangebote so vielfältig sind. Aber nicht beliebig.
HBO ist damit endgültig in der Literatur angekommen.


(1) In der Literaturtheorie nennt man dies auch Analepse (im Gegensatz zur Prolepse, die in der Zeit nach vorne springt. 
(2) Schöne Beispiele findet man auch in „Mad Men". Anstatt eines Cliffhangers sieht man oft in der letzten Einstellung ein Gesicht, das ausdrucksleer ist, z.B. wenn Don Draper neben seiner Frau liegt, nicht schlafen kann und auf einen imaginären Punkt in der Ferne starrt. Überhaupt sind die „offenen Enden" in dieser Serie gerade wegen ihre vermeintlichen Leere ein bemerkenswerter dramaturgischer Kniff.

Nachtrag (27.12.2014): Die Serie ist überwiegend positiv aufgenommen worden. Es hat sich aber herausgestellt, dass in einigen Foren die letzte Episode wütend kommentiert wird, einige Zuschauer sind sogar davon überzeugt, dass am Ende die ganze Serie ruiniert wird. Und immer wieder ist der merkwürdige „Strudel" der Auslöser der geballten Wut. Schade eigentlich, denn gerade dies wurde in den USA nachhaltiger und oft kenntnisreicher diskutiert. Wenn man die Serie erneut sieht, dann bemerkt man übrigens, dass Cohle und Hart immer wieder die Hinweise quasi vor die Nase gelegt werden (z.B. das Tagebuch in Ep. 2). Und es ist Hart, der dies ignoriert und zur Tagesordnung übergeht. Man könnte meinen, dass der durch jahrelangen Drogen-Abusus geschädigte Cohle der Einzige ist, der eine Antenne für das Geheimnis in True Detective" hat. 

Eine ausführliche Besprechung der Serie findet man hier.


Literatur/Quellen:

Norbert Neuß: Leerstellen für die Fantasie in Kinderfilmen – Fernsehen und Rezeptionsästhetik, in: Televizion online, 15/2002
The King in Yellow (engl.), in Projekt Gutenberg
H.P. Lovecraft: Der Ruf des Cthulhu, www.hplovecraft.de (als PDF)

Mittwoch, 16. Juli 2014

Der Rückblick: Filme April – Juni (Teil 2)

Teil 2 dieser Retrospektive erklärt endlich, warum Fahrradfahren in Riad eine Provokation ist und zeigt am Beispiel von François Ozons „Jung & Schön“, was man im Kino aushalten muss, wenn man den Interkulturellen Dialog sucht.

Pädagogisch werthaltig: „Das Mädchen Wadjda“

Wadjda ist ein Mädchen, das bockig, eigensinnig und schwierig ist. In der Schule bereitet sie Probleme und sie tut Dinge, die sich einfach nicht gehören. Sie hört westliche Rockmusik und trägt westliche Turnschuhe. Alles klar: diese 11-Jährige könnte auch bei uns leben. Tut sie aber nicht. Sie lebt in Riad und ihr sehnlichster Wunsch ist Fahrrad zu fahren. Dies allerdings ist in der saudi-arabischen Hauptstadt Riad ein Verstoß gegen die strengen Sittenregeln. Für den durchsäkularisierten westlichen Zuschauer ein klarer Fall: die spinnen, die Araber. Nun gut, in den 1950ern hätte Wadjda auch auf unseren konfessionell geprägten Schulen einige Probleme bekommen.

Gedreht wurde „Das Mädchen Wadjda“ bereits 2012, erst vor einem Vierteljahr erschien der Film der 40-jährigen Filmemacherin Haifaa al-Mansour in Deutschland auf DVD und Bluray, nachdem er im Vorjahr den Spezialpreis des Friedenspreises des Deutschen Films und zudem den Fritz-Gerlich-Preis erhalten hatte. 
Dass al-Mansour als saudi-arabische Regisseurin in ihrem Heimatland überhaupt Regie führen durfte, ist an sich schon ein Wunder. Möglich gemacht haben dies nicht nur die Berliner Filmproduktion Razor Film, sondern auch die guten Kontakte des Koproduzenten Amr Alkahtani zum Kulturministerium und zur heimischen Religionspolizei. Dennoch musste sich die Regisseurin häufig genug in einem Wagen verstecken und der Crew ihre Anweisungen per Walkie-Talkie geben.

Herausgekommen ist dabei ein erstaunlich kritischer Film, erstaunlich, weil er die Erwartungen durchkreuzt. Al-Mansour durfte mehr zeigen, als man erwartet hat von einem Land, in dem es keine Kinos gibt. Die Regisseurin rückt nicht nur die Kämpfe Wadjdas um ihr Fahrrad in den Mittelpunkt, sondern erzählt auch sehr offen von den Problemen der saudischen Frauen, die gemäß der wahhabitischen Koranauslegung nicht geschäftsfähig sind und weder Auto noch Fahrrad fahren dürfen, mittlerweile aber trotz dieser Einschränkungen Firmen führen und studieren dürfen. Mit anderen Worten: Eine ambivalente Gesellschaft, deren rigide religiöse Moral häufig listig umgangen wird, wobei dies allerdings keine risikofreie Angelegenheit ist.

Toll gespielt von der heute 15-jährigen Waad Mohammed geht Wadjda unbeirrt ihren Weg: sie will ein Fahrrad, um mit dem Nachbarsjungen ein Rennen auszutragen. Um an das notwendige Geld zu kommen, ist sie sogar bereit, an einem gut dotierten Koranvers-Wettbewerb teilzunehmen. Am Ende gewinnt sie sogar, erhält aber das Geld nicht, weil sie öffentlich von ihrem großen Traum erzählt.


Brauchen wir Political Correctness?

Al-Mansour erzählt diese Geschichte mit einem genauen Blick für die Rolle der Frauen in ihrem Land und dekliniert einige Gender-Themen am Beispiel von Wadjdas Mutter durch, die sich mit einem frustrierten Ehemann herumschlagen muss und ihren beruflichen Aktivitäten nur dann nachgehen kann, wenn sie sich einen männlichen Chauffeur fürs Autofahren organisiert.
Das ist pädagogisch werthaltig, mitunter aber auch bebilderter Schulfunk. Diese didaktisch durchaus beabsichtigte Vereinfachung bestätigt das, was die Meisten sich wohl in ihrer Phantasie über Saudi-Arabien ausmalen. Dazu gehören auch Wadjdas Auseinandersetzungen mit der bigotten Religionslehrerin, die streng und dogmatisch ist, aber heimlich gegen ihre eigenen Grundsätze verstößt. So entsteht eine lehrhafte Erzählung, die in vielen Einzelszenen das Exemplarische sucht, gelegentlich das Klischee findet und dabei etwas hölzern wirkt. Der Film, der am Ende mit einem kaum überraschenden Happy-End aufwartet, ist über weite Strecken aber eine glaubwürdige Dokumentation über die schwierige Situation der Frauen in Saudi-Arabien. Dennoch bleibt eine ungehörige Frage: Muss die Gegenseite nicht zu Worte kommen?

Ist dies wirklich erforderlich? Reicht es nicht zu wissen, dass sich ein Großteil der muslimischen Welt energisch gegen den radikalen wahhabitischen Salafismus wehrt, um einem Dialog eine klare Absage zu erteilen? Ist es überhaupt Aufgabe eines Films, einen ausgewogenen und für beide Seiten politisch korrekten Dialog ins Bild zu setzen?
Grundsätzlich: Nein. Ohne den sehr speziellen subjektiven Blick des Künstlers wäre ein Film bestenfalls ein gut gemeintes Lehrstück, schlimmstenfalls Propaganda. Nur ist der vorliegenden Fall etwas anders, denn „Das Mädchen Wadjda“ ist bereits ein Lehrstück.
Warum wird dann aber der ideologische Gegenspieler durch eine offensichtlich bigotte Lehrerin repräsentiert? Sollte man nicht besser einen salafistischen Imam
in den Film einbauen, dem ein paar Dialog-Aufsager eingeräumt werden?
Wer glaubt, dass dies angesichts der fundamentalistischen Ausrichtung Saudi-Arabiens, seiner kompromisslosen Ausgrenzung anderer islamischer Glaubensrichtungen und der Verstöße gegen die Menschenrechte und beinahe alle von uns akzeptierten Kultur- und Toleranzregeln sowieso überflüssig sei, hat den sogenannten Interkulturellen und -religösen Dialog nicht ganz verstanden.
Das Andere differenzierter kennenlernen bedeutet nämlich nicht, die eigene kulturelle Identität aufzugeben.
 „Ich nehme die Andersartigkeit des Menschen wahr, dem ich begegne, und halte auch die Fremdheit aus“, schrieb vor einigen Jahren Klaus Onnasch für den Interreligiösen Arbeitskreis Kiel. So schwer das manchmal fällt: Das ist auch die Crux des Films, der seine Grenzen nur eingeschränkt reflektiert, aber zum Glück nicht völlig ignoriert.
Wer wie ein deutscher Filmkritiker das Fahrrad Wadjdas allerdings als „Symbol für Widerstand und Befreiung“ deutet, bestätigt damit nur, dass nicht jeder die Komplexität dieses schwierigen Dialogs aushält. 

 

Manchmal überrascht einen dann die Wirklichkeit, die komplizierter ist, als sie sich das Kino vorstellen kann. Konnte man etwa erwarten, dass „Das Mädchen Wadjda“ die Freigabe der Zensurbehörde erhält und demnächst im saudi-arabischen TV gezeigt werden wird? Oder dass Saudi-Arabien Ende 2013 den Film für den OSCAR (Best Foreign Language Film) einreichen würde? Eher nicht. Es zeigt nur, dass eine uns weitgehend unbekannte Gesellschaft gewaltige Spannungen aufweist, deren Ausgang ungewiss ist.
Fazit: Empfehlenswert. Im Filmclub gab es wegen der dramaturgischen Holprigkeiten allerdings erhebliche Abstriche bei der Endnote.

Noten: BigDoc = 3,5, Klawer = 3

 

Weiterführende Links:

Nominierung für den OSCAR
Produzent Roman Paul über seine Eindrücke während der Dreharbeiten

 

Bedrohlich auf den Spuren Bunuels: „Jung & Schön“

Gerade vor dem Hintergrund des eben besprochenen Films wäre es spannend, die Reaktionen von Muslimen unterschiedlicher Glaubensrichtungen auf die Geschichte kennenzulernen, die uns François Ozon in „Jung & Schön“ erzählt. Könnte der Film aus Sicht konservativer Muslime nicht ein schlagender Beweis für die Dekadenz des Westens und ein Dokument sittlicher Verkommenheit sein?

In vier Kapiteln und einer ein wenig an Eric Rohmer erinnernden zeitlichen Erzählgliederung lernen wir die 17-jährige Isabelle (Marine Vacth) kennen, die mit ihren Eltern die Sommerferien am Meer verbringt.

„Sommer“: Isabelle hat ihren ersten Sex mit dem jungen Deutschen Felix. Während die beiden sich am Strand lieben, geschieht etwas Seltsames: Isabelle sieht sich selbst. Ihr Alter Ego schaut schweigend in einigen Metern Entfernung dem Treiben zu, das Isabelle erkennbar nicht das geringste Vergnügen bereitet. Eine dissoziative Abspaltung, eine Art pathologischer Trance, die unheilvoll das nun Folgende ankündigt.

„Herbst“: Zurück in Paris, beginnt Isabelle sich in Hotels mit Männern zu treffen. Sie hat regelmäßig Sex und lässt sich bezahlen. Schnell lernt sie die unterschiedlichen Rollen
perfekt zu spielen, die ihre Kunden von ihr erwarten. Nach kurzer Zeit bietet sie auf einer eigenen Homepage ihre professionellen Dienste an. Isabelle, die noch bei ihren Eltern lebt, ist eine Prostituierte geworden. Einer ihrer Kunden ist der ältere Georges, der plötzlich beim Sex mit Isabelle einen Herzinfarkt erleidet und stirbt.

„Winter“: Nach dem Tod von Isabelles Freier beginnt die Polizei zu ermitteln, alles fliegt auf und die Familie der 17-Jährigen erfährt von Isabelles heimlichen Neigungen. Isabelle wird zu einer Gesprächstherapie mit einem Psychologen gezwungen. Besonders das Verhältnis zu ihrer Mutter verschlechtert sich. Isabelle schockiert ihre Mutter mit der Aussage, dass sie von deren sexuellem Verhältnis mit einem engen Freund der Familie weiß. Aufgrund starker Schuldgefühle gibt das Mädchen aber die Prostitution auf und kommt ihrem Mitschüler Alex näher, der sie nach einer Party küsst.

„Frühling“: Die Normalität scheint wieder hergestellt zu sein, aber Isabelle trennt sich überraschend von Alex und prüft ihre Altkontakte, die sich per SMS bei ihr gemeldet haben. Sie verabredet sich erneut, trifft jedoch in der Hotellobby Alice (Charlotte Rampling), die Witwe des verstorbenen Georges. Beide gehen auf das Hotelzimmer, in dem Georges verstarb. Alice macht dem jungen Mädchen keine Vorwürfe, sondern gesteht, dass sie selbst bereits die Lust verspürt hat, für Geld mit Männern zu schlafen, aber sich nicht getraut hat. Die beiden Frauen legen sich aufs Bett und Isabelle schläft ein. Als sie erwacht, ist sie in dem Zimmer allein.


Auch für westliche Verhältnisse schockierend

Dass „Jung & Schön“ deutlich an Luis Buñuels Film "Belle de Jour" erinnert, ist bestenfalls eine Randnotiz wert, denn der Vergleich führt in die falsche Richtung. Buñuels Film wurde als anti-bürgerliche Provokation kanonisiert, während Ozon auf den ersten Blick völlig hinter seinem Film verschwindet und wie ein unbeteiligter Insektenforscher abbildet, was seine Protagonisten treiben. Jedwede Psychologisierung wird dem Film ausgetrieben, nur die initiierende Strandszene, in der ansatzweise eine filmsprachliche Deutung angeboten wird, bleibt in Erinnerung. Der Entwicklungsprozess von Isabelle bleibt damit ein riesige Leerstelle, die nur unzureichend aufgefüllt werden kann. Was bewegt dieses Mädchen? Sucht sie auf ihre Weise Spaß beim Sex oder hat sie nur dann ihr Vergnügen, wenn sie Macht über ihre Freier erhält, die ihrerseits glauben, Macht über sie zu besitzen?
Ozons Film platzte mitten in eine Prostitutionsdebatte hinein, die in Frankreich ziemlich erregt geführt wird. Geplant ist ein Gesetz, das die strafrechtliche Verfolgung der Freier erlaubt und besonders bei den französischen Intellektuellen für Aufruhr gesorgt hat. Aber selbst inmitten dieser Debatte könnte man „Jung & Schön“ verschiedenartig instrumentalisieren, zeigt der Film doch aufreizend, wie Sex in einer Gesellschaft funktioniert, die ihre Vorbilder in der Internetpornografie findet und sich dabei an sportlichen Höchstleistungsidealen orientiert – das Ausprobieren von SM und anderen Techniken eingeschlossen.
 

Oder ist die Lustlosigkeit einer Jugendlichen lediglich eine große Metapher über den Verlust der Sinnlichkeit und des Eros an sich?
François Ozon gibt keine Antwort und das ist das Verstörende an dem Film, der den Zuschauer allein mit sich und seiner Moral lässt. Wem das zu wenig ist, der hat sicher auf eine gewisse Weise Recht. Wem das zu viel ist, der irrt sich auch nicht.


Gibt es einen Interkulturellen Dialog im Kino?

„Jung & Schön“ – und das ist ein interessantes Nebenthema – könnte in einer erzkonservativen Sichtweise, nicht nur bei Muslimen, als Indiz für die dekadente Talfahrt des Westens herangezogen werden, obwohl Isabelles Geschichte keineswegs als exemplarisch betrachtet werden kann. Stellt man den Film auf diese Weise in den Interkulturellen Dialog hinein, so könnte man schnell erleben, wie Filme auf ihren bloßen Abbildcharakter reduziert werden und damit der Bekräftigung eines moralischen Diskurses dienen sollen, der nicht imstande ist, sich historisch zu verorten.
Die panische Reaktion auf die sexuelle Selbstbestimmung hat nicht mit der sexuellen Revolution der 1960er Jahre begonnen, sondern viel früher, und zwar bereits mit dem Einzug der Moderne Anfang des 20. Jahrhunderts. Die konservative Antwort auf diese bedrohliche Entwicklung führte zu gemeinsamen Schnittstellen in den Kulturen, die im Eifer des Wahrheitsdisputs aber nicht wahrgenommen werden. Ob sie es wollen oder nicht: Religionsübergreifend werden die Fundamentalisten jedweder Couleur
von den gleichen Gefahren und Ängste bedroht.

In der muslimischen Welt hat dies der tunesische Soziologe Abdelwahab Bouhdiba 1975 mit seinem Buch „La Sexualité en Islam“ kritisch reflektiert. Bouhdiba erinnerte bereits vor knapp 40 Jahren an die reichhaltige und freizügige erotische Tradition im arabischen Kulturraum, die in einer Reaktion auf die zunehmende politische und ökonomische Schwächung der Araber einer zunehmend lustfeindlichen und bigotten Unterdrückung wich. Innerhalb des islamischen Fundamentalismus ist diese Umkehr und die Kritik an der sexuellen Libertinage auch als politische Antwort zu deuten: Die Scharia als anti-westlicher Reflex. 

Diese Entwicklung wurde besonders von dem Autor Sayyid Qutb beeinflusst, der sich in den 1950er Jahren den ägyptischen Muslimbrüdern anschloss und während der Regierungszeit von Nasser 1966 hingerichtet wurde. Qutbs Erfahrungen, die er in den 1940er Jahren während einer Reise durch die USA gemacht hatte, beeinflussen die Debatte noch heute. Dabei entstand nicht etwa ein simpler Moralismus, sondern die leidenschaftliche Kritik am materiellen Gewinnstreben der Amerikaner, bei denen Qutb keine spirituelle und moralische Basis mehr erkennen konnte. Angewidert vom Gesetz des Dschungels sah Qutb den Zerfall der amerikanischen Familien und den Siegeszug der Drogen, des Alkohols und der ungezügelten Sexualisierung der Gesellschaft am Horizont heraufziehen. Als einzige Antwort kam nur die Rückkehr zu den Lehren der salaf – der Gründungsväter des Islam – in Frage.
In der Folge hat dies innerhalb des salafistischen Konservativismus zu der Überzeugung geführt, dass Frauen als emotional instabile und schutzbedürftige Wesen zu betrachten sind und geschützt werden müssen, indem man sie verschleiert, ihnen weitgehend die berufliche Arbeit erschwert – und sie nicht Fahrrad fahren lässt. Liest man dies nicht als brutale Repression, sondern als Ringen um kulturelle Identität, dann ist man einen Schritt weitergekommen und sitzt nicht mehr am besserwisserischen Stammtisch.

„Die Scharia ist ein Text, der im Sinne sexueller Freiheit oder im Sinne der Unterdrückung interpretiert werden kann“, stellte der marokkanische Soziologe Abdessamad Dialmy unlängst fest. Aber generell gilt in einer Welt, so Dialmy, in der Frustration, Angst und Aggression die Menschen beeinflussen, dass Hypersexualität und religiöser Puritanismus lediglich eine besondere Form des Versagens darstellen. Weder die sichere Rückkehr zu vermeintlich wahren Werte noch die offene Präsentation von Sex im Kino könnten dabei helfen, die Probleme zu lösen.
Einfacher wird die Sache dadurch nicht, aber vielleicht versteht man vor diesem Hintergrund, welche kulturellen Konnotationen sich hinter Filmen wie „Das Mädchen Wadjda“ und „Jung & Schön“ auftun. Man tut gut daran, beiden Filmen keine unmissverständliche Botschaft zuzuordnen, sondern zunächst einmal herauszufinden, warum beide Filme so nachdrücklich darauf drängen, eben dies zu tun. Sprengstoff ist es allemal.

Noten: BigDoc = 1,5, Klawer = 2,5, Saxophone Man (Gastvoting) = 2

Literatur:
Sex und die Zitadelle: Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt (Shereen El Feki, New York 2012)


Beste Filme des Quartals:
Finsterworld (1,5), The Secret Life of Walter Mitty (1,6), Blue Yasmine (1,75), Jung & Schön (2), Mr. Morgan’s Last Love (2), Sein letztes Rennen (2), The Company You Keep (2,25), Rush (2,6)

Die größten Flops des Quartals:
Broken City (4), Das Mädchen Wadja (3,25)


Das Mädchen Wadjda (Wadjda) – Saudi-Arabien, Deutschland 2012 – Buch und Regie: Haifaa al-Mansour – D.: Waad Mohammed, Reem Abdullah – Laufzeit: 98 Minuten - FSK: ab 0.

Jung & Schön (Jeune & Jolie)  – FR 2013 – Regie: François Ozon, D.: Marine Vacth, Charlotte Rampling – Laufzeit: 93 Minuten - FSK: ab 16.