Samstag, 27. April 2013

"Oh Boy" sahnt beim Deutschen Filmpreis ab

Dem ZDF war es nicht einmal eine Live-Übertragung wert: während man bereits online die Preisträger abrufen konnte, versendete die öffentlich-rechtliche Anstalt einen fast zweistündigen Zusammenschnitt, der gestern kurz nach Mitternacht endete. Nur 1,19 Mio. Zuschauer wollten das Spetakel sehen - damit hat der "Deutsche Filmpreis" seine Quote in den letzten sechs Jahren mehr als halbiert.

Nach den unerfreulichen Diskussionen um das Deutsche an der internationalen Co-Produktion "Cloud Atlas", an der mit dem deutschen Regisseur Tom Tykwer maßgeblich einer der besten einheimischen Filmemacher beteiligt gewesen ist, fand die Jury einen kaum überraschenden Kompromiß: "Cloud Atlas" durfte in einigen Nebenkategorien wie "Beste Kamera" oder "Bester Schnitt" gewinnen, wurde aber von den Hauptkategorien ferngehalten. Bei den Darstellerpreisen nachvollziehbar: ein Deutscher Filmpreis für Tom Hanks wäre doch wohl etwas zu viel gewesen.
Großer Gewinner des Abends war Jan Ole Gersters "Oh Boy", der die Lolas für den "Besten Spielfilm", für das "Beste Drehbuch" und die "Beste Regie" erhielt und auch in den Kategorien "Männliche Hauptrolle", "Männliche Nebenrolle" und "Beste Filmmusik" ausgezeichnet wurde.


Wie deutsch muss ein Film sein - und was ist das überhaupt?

Am Tag der Verleihung hatte Hanns-Georg Rodek noch einmal kräftig in "DIE WELT" nachgelegt und hämisch nachgefragt, warum denn Tom Hanks und Halle Berry "nicht in der ersten Reihe des Friedrichstadtpalast" sitzen werden. Rodek hatte sich bereits zuvor über das Deutsche am Deutschen Filmpreis Gedanken gemacht und befürchtet, dass die butterweichen Kriterien für die Nominierung aus dem deutschen Kulturpreis eine "Internationale Industrietrophäe" machen würden. Entscheidend seien, so Rodek, vielmehr "Sprache, Thematik und die kulturelle Prägung der Hauptbeteiligten". Und wohl wissend, dass dies nicht mehr möglich ist, empfahl er den Produzenten von "Cloud Atlas", sich doch für den OSCAR zu bewerben.
Der Begriff "Prägung" im Zusammenhang mit Kultur will mir nicht einleuchten, kenne ich ihn doch bevorzugt aus der Verhaltensbiologie und dort geht es um Lernen in seiner fürchterlichsten Form: das Ergebnis ist nicht mehr rückgängig zu machen. Einmal geprägt, watschelt das junge Entlein immer dem hinterher, den es in seinem jungen Leben
zuerst gesehen hat. Gewiss schwebte dies dem WELT-Kritiker nicht vor, obwohl die Idee durchaus nachdenklich machen könnte, aber auf jeden Fall zog Rodek in der Rubrik "Leserkommentare" eine Vielzahl von Schreibern an, die gleich wussten, dass der Steuerzahler dem guten Hanks den neuen Swimmingpool finanziert haben.
Aber vergessen wir die Prägung. Viel spannender dürfte es sein, wie Rodek den Umstand kommentieren wird, dass mit "Lore" ein Film die bronzene Lola erhielt, der eine australisch-britisch-deutsche Co-Produktion ist, deren australische Regisseurin auch das Drehbuch verfasste. Nun gut, immerhin wurde der Film in Deutschland mit deutschen Darstellern gedreht.
Immerhin hat die Filmakademie den Spagat zwischen Blockbuster und Autorenkino einigermaßen hinbekommen. Mit "Oh Boy" wurde eine respektable Auswahl getroffen, auch auf Margarethe von Trottas "Hannah Arendt" darf man gespannt sein. Für die weibliche Hauptrolle in diesem Film wurde gestern eine Ikone des deutschen Schauspiels ausgezeichnet: Barbara Sukowa. Bei so viel geballter Qualität muss man allerdings schüchtern nachfragen dürfen: Wo kann man diese Filme denn eigentlich sehen? Und wann?


Wer interessiert sich für deutsche Filme?

Die Öffentlich-Rechtlichen Anstalten werden die preisgekrönten Filme sicher zur besten Sendezeit ausstrahlen und nicht etwa in den digitalen Spartenkanälen kurz nach Mitternacht veröden lassen. Halt, wir sind nicht nicht in der Märchenstunde. Vermutlich werden die gepriesenen Film nicht einmal dort landen, wo TV unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Das hat seine Gründe. Schauen wir uns mal an, was der Deutsche sich am liebsten ansieht und in wie vielen Kinos er dazu die Gelegenheit erhält.

2013 rangieren (Quelle: insidekino.com) folgende Filme in den Charts ganz oben (absolute Zuschauerzahlen / Abspielstätten):
1. Django Unchained (4,3 Mio. / 708)
2. Kokowääh 2 (2,6 Mio. / 716)
3. Schlussmacher (2,4 Mio. / 618)

  • Zwei deutsche Filme auf den ersten Plätzen, aber kein Deutscher Filmpreis für Til Schweiger, dafür wurde Matthias Schweighöfers Komödie "Schlussmacher" gestern mit dem Publikumspreis nach Hause geschickt - ein Film, über den Quotenmeter.de schrieb, dass der Film "der Fremdscham eine neue Dimension" verpasst: infantiler Humor, Fäkalwitze, Klamauk auf niedrigstem Niveau.
22. Hannah Arendt (415.503 / 123)
  • Damit zog von Trotta Film immerhin mehr als doppelt so viele Zuschauer ins Kino als "Zero Dark Thirty", aber angesichts der limitierten Anzahl an Kinos, die diesen Filmen zeigen oder gezeigt haben, dürfte der Film die deutsche Kinoprovinz kaum erreicht haben.
Nach den anderen Siegern des Deutschen Filmpreises sucht man am besten im Ranking für 2012:
21. Cloud Atlas (1,1 Mio. / 554)

  • "Oh Boy" wird nicht einmal unter den Top 100 geführt: lediglich 230.000 Zuschauer (o.A. der Abspielstätten) wollten den Film sehen, von "Lore" wird erst gar nicht berichtet.
Mit anderen Worten: die Deutsche Filmakademie hat die deutschen Publikumsrenner weitgehend links liegen gelassen und Filme prämiiert, die den deutschen Kinogänger entweder kalt gelassen haben oder die lediglich in wenigen handverlesenen Kinos an den Start gehen durften, zumindest aber große Teile der Filmkritik überzeugten. Das ist ein mutiges Plädoyer für Qualität.
Wo kann man sie also sehen, die Repräsentanten der deutschen Filmkultur?
"Lore" liegt ab Mai auf DVD / Bluray vor, dies gilt auch
für "Oh Boy" und ab Oktober für "Hannah Arendt", wobei die angekündigten Preise eines großen E-Tailers deutlich über den üblichen Marktpreisen liegen - fast alle genannten Filme sind fast doppelt so teuer wie "Cloud Atlas", lediglich die DVD von "Oh Boy" ist zu einem verträglichen Preis zu erwerben. Ob dies zu einer erfolgreichen Breitensteuerung beiträgt, muss bezweifelt werden.

Vor diesem Hintergrund ist zu vermuten, dass all die Nickligkeiten im Vorfeld des Deutschen Filmpreises aus verständlichen Gründen stattgefunden haben: hier geht es auch angesichts der hohen Dotierung des Deutschen Filmpreises darum, deutschen Filmen zumindest einige Brosamen vom großen Kuchen zukommen zu lassen. Insofern ist Rodeks Kritik im Ansatz nachzuvollziehen, obwohl die Beweisführung polemisch und widersprüchlich war. Und so hat (was ich persönlich bedauere) die Akademie der Versuchung widerstanden, sich mit "Cloud Atlas" ein Stück Weltkino zu gönnen. Das ist legitim.
Bleibt das Problem, dass der Zusammenhang zwischen filmischer Qualität und Breitenwirkung bei den Preisträgern in den Nobelkategorien leider nicht nachzuweisen ist. Und damit auch die Frage, ob hier das Fernsehen stärker in die Pflicht genommen werden muss, denn fehlende Breitenwirkung ist keineswegs nur den Filmen anzulasten. Über die ökonomische Zukunft der deutschen Filmkunst und -kultur entscheidet letztlich der Zuschauer an der Kasse. Über das, was er am liebsten sieht, allerdings auch. Und da sieht es nicht gut aus für die deutsche Filmkunst. Dass die deutschen Sendeanstalten dies sorgfältig beobachten werden, dürfte klar sein. Wenn aber die Öffentlich-Rechtlichen TV-Anstalten ihrem Bildungs- und Kulturauftrag lediglich mehr schlecht als recht nachkommen, darf man sich nicht wundern, wenn sich für den Deutschen Filmpreis und die preisgekrönten Filme draußen im Lande kaum eine Sau interessiert.


Postscriptum: Ich habe in meinen Beiträgen keinen Hehl daraus gemacht, dass ich "Cloud Atlas" gerne als Sieger in einer Hauptkategorie gesehen hätte. Dies wäre übrigens keine Entscheidung für einen Blockbuster gewesen, sondern für ein mutiges Stück Autorenkino und eine verdammt gute Literaturverfilmung. Als Blockbuster hat "Cloud Atlas" nämlich nicht funktioniert - trotz seiner imposanten Produktionskosten. Zuschauerzahlen und weltweite Einspielergebnisse singen ein Lied davon. Das hing auch mit der enorm hohen Anzahl illegaler Downloads zusammen. Aber das ist ein anderes Thema.

Dienstag, 9. April 2013

Buchbesprechung: Daniel Eschkötters Buch "The Wire"

Die US-Serie „The Wire“ (2002 – 2008) erzählt in fünf Staffeln vom Abhörkrieg einer Handvoll Cops gegen die Drogenkönige von Baltimore. Ausgestrahlt wurde die Serie in den USA vom Pay-TV-Sender HBO, in Deutschland nahm sich der Pay-TV-Sender FOX Channel der Serie an (2008-2010). Der Vertrieb der deutsch synchronisierten DVD-Fassung zog sich bis 2012 hin, die letzte Staffel ist nun seit einem Jahr auf dem deutschen Markt. Fast pünktlich erschien dazu das passende kleinformatige Pocketbook aus der diaphanes booklet-Reihe: "The Wire". Der folgende Aufsatz ist weniger eine Rezension, als vielmehr die kritische Würdigung einer imponierenden Gesellschaftsstudie - dies gilt für Buch und Serie. 

Der Film- und Literaturwissenschaftler Daniel Eschkötter (Bauhaus-Universität Weimar) breitet auf 96 Seiten in fünf Kapiteln eine Vielzahl von medientheoretisch unterfütterten Quereinstiegen an. Auf eine einleitende These muss der Leser zwar verzichten, dafür umkreist Eschkötter im feinsten Feuilleton-Stil so locker-luftig seine Themeninseln, dass man beinahe vergisst, wie konzentriert der Autor seine stilistischen Höhenflüge angeht. Wenn beinahe jeder zweite Satz die Qualität eines Aphorismus besitzt, ist dies mitunter etwas anstrengend, dafür ist Eschkötters Buch aber der bislang überzeugendste Versuch, jene Serie zu verstehen, die mittlerweile zu einem Mythos des Quality TV geworden ist. 


All in the Game


Wer eine Episode Guide-Lektüre erwartet, wird enttäuscht. Eschkötters Buch richtet sich an ein medien- und filmwissenschaftlich interessiertes und entsprechend gut informiertes Lesepublikum. Über den Inhalt gibt es dennoch einiges zu lesen. „All in the Game – Zusammenhänge“ heißt etwa das zweite Kapitel, das eine originelle, interpretierende Inhaltsangabe enthält. Am Ende des Buches gibt es zudem 5 „Anspieltipps“, in denen der Autor die für ihn bedeutsamen Erzählmomente der jeweiligen Staffel mikrologisch herausarbeitet.

Das liest sich dann so: Einer der Drogendealer, D’Angelo Barksdale, sitzt im Knast und bekommt dort Fitzgeralds The Great Gatsby zu lesen, einen Roman, der vom Leiter der Gefängnislesegruppe interpretiert wird. Der Dealer ‚liest‘ das Ganze natürlich auf seine Weise, was Eschkötter als englisches Originalzitat anführt und auf folgende Weise kommentiert: „Das klingt noch viel später nach in der Waterfront-Wohnung des toten Stringer Bell, in der McNulty Adam Smiths
The Wealth oft he Nations" aus dem Regel zieht (TW 3.12). Shit caught up to Stringer, too.“
Was erfährt der Leser? Nun, er muss Englisch können, am besten auch den Straßenjargon, das gilt auch für den Rest des Buches, denn zitiert wird in der Originalsprache. Das ist wissenschaftlich korrekt und rezeptionsästhetisch erst recht. David Simon und Ed Burns, die Schöpfer von The Wire, nennen ihre Erzähltechnik
„Stand-around-and-watch journalism". Und folgerichtig spielt nicht nur das Schreiben in Serie" (Eschkötter) eine entscheidende Rolle, sondern auch auch das Sprechen der Protagonisten, und das bereits bei der Vorläufern der Serie: „...der vulgären Rede der Mordermittler in 'Homicide', dem pragmatischen Sprechen der Straßen in 'The Corner', den Dialekten, Soziolekten. Sie führen uns mitten hinein in 'The Wire'" (11).
Doch weiter: der Leser muss Elia Kazans On the Waterfront kennen und nach Möglichkeit auch wissen, dass dieser Film in den 1950er Jahr als der realistische Film schlechthin eingeschätzt wurde, was Jahrzehnte später auch The Wire nachgesagt wird. Adam Smith, den großen Ökonomen, sollte man auch parat haben und dass die bei den Fans extrem beliebte Serienfigur Stringer Bell ein Drogenboss mit intellektuellen Kapazitäten ist, das sollte man erst recht wissen. Eine ganze Menge, um all den konnotierten Details nachzuspüren, aber hier haben wir wenigstens den ganzen Eschkötter, sozusagen auf einen Schlag. Anders gesagt: Daniel Eschkötters Buch ist alles andere als eine Einführung, man muss die Serie schon von A bis Z kennen. 

  • Staffel 1: Der frustrierte Cop Jimmy McNulty (Dominic West) hintergeht mit Hilfe eines sympathisierenden Richter seine Vorgesetzten, um eine Sonderkommission einzurichten. Die von Lt. Cedric Daniels (Lance Reddick) geleitete Einheit soll den Drogenring von Avon Barksdale zerschlagen, besteht aber aus anfänglich desinteressierten oder vermeintlich inkompetenten Beamten. Durch Wiretaps dringen die Cops in den inneren Zirkel des bei den Behörden unbekannten Barksdale vor. Auf der Straße setzt indes der Einzelgänger Omar Little (Michael K. Williams) dem Drogensyndikat schwer zu: er beraubt die Kleindealer an den „Ecken“ des Viertels. Am Ende erreicht McNultys Einheit auch dank ihrer unkonventionellen Ermittlungsmethoden, dass Avon Barksdale zu acht Jahren Haft verurteilt wird. Seine rechte Hand Stringer Bell (Idris Elba) führt die Geschäfte weiter. McNultys unbequeme und effiziente Einheit wird aufgelöst, McNulty selbst wird strafversetzt.
All in the Game – das ist nicht nur die straßentaugliche Weltsicht der Drogendealer und –bosse, die meint, dass auch der übelste Verrat zum Spiel dazugehört, das Wortspiel deutet auch an, dass die Ästhetik und die narrativen Strategien der Serie selbst ein Spiel sind, das Erwartungen durchkreuzt und immer wieder die Perspektive ändert, um seinem Objekt näher zu kommen. Kein Wunder: The Wire erzählt ja tatsächlich von einem Spiel, stehen doch im Mittelpunkt die Wiretaps, also das Abhören von Telefongespräche der Dealer durch eine Sondereinheit der Polizei von Baltimore. Und natürlich bleibt das den Belauschten nicht lange verborgen und zum Game gehören eben auch Gegenstrategien und die Gegenlist.
The Wire – das ist eben nicht nur Bandenkrieg und Gewalt auf der Straßen und an den Ecken, wo die Drogen verkauft werden, das ist also nicht nur Crime Scene und konventionelle Polizeiarbeit, die Serie erzählt in insgesamt 60 Stunden auch davon, dass die Gegengesellschaft der Drogenbosse sich über die unbedingte Funktionalität ihrer Medienlogistik definiert – diskret und funktionell: öffentliche Telefonzellen sind out, Pager bald auch, Wegwerfhandys werden eingesetzt, komplexe Codes werden entwickelt.
In abgeschlossenen Episoden ist das kaum zu erzählen: „Wiretaps als Ermittlungsmedientechniken sind gleichermaßen erzähl- und zeitökonomisch wirksam: sie sind, auch und gerade in ihrer juristischen Kleinteiligkeit, ein Affront gegen kosmetische Polizeiarbeit und ihr Fernsehäquivalent, die Cop-Shows mit ihren schnell erledigten Fällen“ (25).
Immer hinken die Cops hinterher, verzettelt in die schwer durchschaubaren Macht- und Ränkespiele des Polizeiapparats, dessen Leitung sich gegenüber der Politik selbst mit medientauglichen Management-Werkzeugen legitimieren muss: ComStat heißt die digitale Waffe, mit der die Ergebnisse der Polizeiarbeit auf gelackte Statistiken für Politik, Presse und Öffentlichkeit heruntergebrochen werden - Zahlen, die sich gleich wieder mit neuem Handlungsdruck und Plansollerfüllung gegen ihre Erzeuger richten.

  • Staffel 2: McNulty arbeitet bei der Hafenpolizei von Baltimore. Als in einem Container 13 tote Frauen entdeckt werden, gelingt es McNulty den Fall zu einer Angelegenheit der Mordkommission zu machen. Gleichzeitig erzählt die Staffel von den Aktivitäten des Gewerkschaftsführers Frank Sobotka, der die finanziellen Probleme der Hafenarbeitergewerkschaft durch die Zusammenarbeit mit einer vom „Griechen“ geleiteten kriminellen Organisation zu lösen versucht. Auf der Straße kämpft Stringer Bell mit logistischen Problemen und beginnt damit, volkswirtschaftliche Kurse zu belegen: Stringer sieht offenbar in der Legalisierung der Kapitalflüsse des Drogenrings eine geeignete Strategie, um aus den kriminellen Aktivitäten auszusteigen.
Auch wenn Eschkötter in genauen Analysen der in The Wire eingesetzten Montagetechniken beschreibt, wie sich Serialität und System begegnen, so ist sein Buch nicht nur als medientheoretischer Beitrag zu lesen. Wenn man genau hinschaut, findet man auch die griffigen Thesen, oder besser gesagt: Resümees, die jenseits der formalen Raffinessen von „The Wire“ das konkret Historische und Soziologische auf den Punkt bringen - es geht nicht um Wiretaps, sondern eigentlich um den jahrzehntealten Krieg, der in den urbanen Zentren geführt wird. „Neben dem Walten der Institutionen, dem Regieren der Statistiken und der Austreibung der Arbeit im Postfordismus ist der 'War on Drugs' die große Erzählung im Hintergrund von The Wire, nicht in seiner globalen Dimension, sondern in den Effekten, die ihn, spätestens mit dem crack game, der veritablen Crack-Epidemie in den amerikanischen Großstädten der achtziger und neunziger Jahre, recht eigentlich zu einem Krieg gegen die vor allem nicht-weiße Unterschicht gemacht haben“, hält Eschkötter fest (54). Das Pikante daran ist, dass im multi-ethnischen Baltimore die weiße Bevölkerung nur auf einen Anteil von 30% kommt, aber das farbige Establishment im Rathaus und in der Verwaltung offenbar nach ähnlichen Spielregeln agiert, wie in den von weißen Politikern dominierten Städte: sie exkludiert die schwarze Untersicht, aber nicht nur die Kriminellen, sondern auch die unschuldig Verwickelten, jene, die aus den prekären Wohngebieten nicht wegziehen können und die am Phänomen der Suburbanisierung nicht teilnehmen können.

„Baltimore plays itself“


Bei Aficionados und Medienexperten gilt The Wire als ‚beste TV-Serie aller Zeiten‘. Presse und Medienwissenschaftler überschlugen sich vor Begeisterung, The Wire wurde mit den Gesellschaftsromanen Balzacs verglichen – nicht einfach nur eine Cop-Serie, sondern auch das realistische Porträt einer post-industriellen Großstadt - namentlich ihrer Verwaltung, ihrer korrupten Politiker, ihres überforderten Schulsystems und einer Presse, die längst auch in den ökonomischen Überlebenskampf verwickelt ist, der die ganze Stadt erfasst hat.
Erzählt wurde dies ziemlich komplex, aber nicht anstrengend: das Netzwerk personaler Beziehungen, das auch immer ein Abbild der politischen Bezüge war, wurde mit jeder neuen Staffel komplizierter und paradoxerweise damit auch verständlicher. Eschkötter listet deshalb akribisch alle Figuren auf (14 f.), die sich in der Serie selbst spielen oder andere Figuren darstellen, die ohne die konkreten Vorbilder aus Baltimores Stadtgeschichte so nicht hätten geschrieben werden können. „Baltimore plays itself“.

  • Staffel 3: Die Mitglieder des Barksdale-Syndikats passen sich den Abhörmethoden der Polizei immer besser an. In Anlehnung an die liberale Drogenpolitik im holländischen Amsterdam schafft der kurz vor seiner Pensionierung stehende Polizeimajor Howard Colvin heimlich inoffizielle Sonderzonen, in denen der Drogenverkauf geduldet wird. Das Ergebnis ist eine massive Absenkung der Kriminalitätsrate. Das Projekt „Hamsterdam“ fliegt jedoch auf und wird zum Spielball politischer Intrigen. Bürgermeisterwahlen stehen an und der weiße Stadtrat Thomas Carcettit missbraucht Colvins Experiment, um den farbigen Amtsinhaber zu diskreditieren. Covin wird degradiert und muss seine Laufbahn endgültig beenden. Auf der Straße bekommt das Barksdale-Syndikat Probleme mit einem jungen soziopathischen Konkurrenten: Marlo Stanfield. Stringer Bell verstrickt sich in Immobilien-Geschäfte und lernt eine ihm fremde Form der Kriminalität kennen. Am Ende überwirft sich Avon Barksdale mit ihm und Stringer wird liquidiert. Mit dem Kopf des Syndikats aber bricht alles schnell zusammen: Barksdale wird mithilfe der Sondereinheit überführt, sein Imperium ist zerstört. Stanfield übernimmt den Markt, die Geschäfte gehen weiter, als wäre nichts geschehen. 
Man fragt sich, warum zum Teufel so etwas hierzulande nicht im öffentlich-rechtlichen Fernsehen oder bei den Privaten läuft. Auf Befragen gaben die Sender an: „zu komplex“, „zu politisch“. Das vermeintlich demokratische Sensorium, mit dem die Anstalten auf die Vorlieben des Publikums reagieren, hat die Quote inthronisiert, und zwar auf die gleiche Weise, die die Cops in The Wire dazu zwingt, ihr Handeln an Statistiken auszurichten und diese, falls es Not tut, auch schon mal zu fälschen, um dem Apparat und der Öffentlichkeit Erfolge bei der Verbrechensbekämpfung vorzugaukeln.
Im amerikanischen Cable TV war The Wire extrem erfolgreich. Verantwortlich für die Serie waren keine Serienspezialisten, sondern zwei Praktiker, die Baltimores dunkelste Ecken kennengelernt hatten: Produzent und Autor David Simon hat 12 Jahre für die Baltimore Sun über das Kriminalitätsproblem geschrieben, Ed Burns (der in der deutschsprachigen Wikipedia nicht einmal Erwähnung findet, Stand: 02/2013) arbeitete 20 Jahre in der Mordkommission und im Drogen-Department von Baltimore. In The Wire fungierte er als Produzent und Co-Autor. Simon und Burns hatten bereits in der HBO-Miniserie The Corner erfolgreich zusammengearbeitet. Sie wissen, wovon sie schreiben.

Auch Eschkötter greift in seinem Buch David Simons Beschreibung der Serie als „Visual Novel“ auf, um einen Brückenschlag vom realistischen Gesellschaftsroman des 19. Jh. zu The Wire herzustellen – ein über 150 Jahre altes Erzählmodell auf eine Pay-TV-Serie des 21. Jh. zu übertragen, mag zwar anachronistisch anmuten, so Eschkötter, scheint aber nicht unbegründet zu sein.
Zwar muss man sich nicht mit allen Zutaten Eschkötters anfreunden, aber die „Verdichtung gesellschaftlicher Totalität“ (18) als denkbares Ziel der Serie hört sich nachvollziehbar an, wenn man alle Staffeln von The Wire rückblickend auf sich wirken lässt. Dazu gehören auch die Fragilität des Schulsystems (4. Staffel) und die Verwahrlosung der journalistischen Moral (5. Staffel). Das kann man als Abwirtschaften der kommunalen Infrastruktur beschreiben und es trifft wohl zu Recht auf eine Stadt zu, die in der Serie „Body more, Murderland“ genannt wird, in Anspielung auf den vollen Namen „Baltimore, Maryland“.

  • Staffel 4: Roland „Prez“ Pryzbylewski (Jim True-Frost), eine Mitglied der Sondereinheit, hat den Dienst quittiert und arbeitet als Lehrer an einer Middle School. Am Beispiel von vier Jugendlichen dekliniert die Staffel die Sozialisationsmodelle der „Straße“ und der Schule durch und zeigt, welches der beiden wirkungsvoller ist: die Straße. Die Schulen in den prekären Stadtteilen Baltimores stehen dagegen vor einer Zerreißprobe, da sie weder ihren Bildungsauftrag erfüllen können noch imstande sind, der Politik öffentlichkeitswirksame Zahlen zu liefern. „Prez“ und seine Kollegen versuchen, mit neuen Methoden besonders renitente Schüler zu motivieren. Trotz beachtlicher Ergebnisse kann sich „Prez“ aber nicht restlos gegen den Apparat durchsetzen und von den vier jugendlichen Hauptfiguren wird sich nur eine aus dem Milieu lösen können. Auf der Straße regiert inzwischen die Stanfield-Gang mit bislang nicht dagewesener Brutalität. Der hochintelligente und völlig empathiefreie Stanfield zerstört mit einem ausgeklügelten Terrorsystem sogar den tradierten Ehrencodex der Drogenbosse. Carcetti wird mit dem Thema „Kriminalität“ Bürgermeister, kann aber aufgrund einer unerwarteten Budgetkrise der Schulen seine politischen Versprechen nicht einhalten. 

Warum also kann das nicht im deutschen TV funktionieren? 


The Wire ist trotz einer fast dokumentarischen Erzählsprache tatsächlich ein unerhört komplexes Gebilde, das sich nicht einfach erschließt. In den einzelnen Episoden laufen in der Regel 6-7 Erzählstränge parallel und besonders in den letzten beiden Staffeln werden die Sequenzen immer kürzer. Wer nicht von Anfang dabei gewesen ist, wird die narrative Oberfläche zwar einigermaßen verstehen, über die Hintergründe aber so gut wie nichts erfahren.
Ausgeschlossen sind auch jene Zuschauer, die nicht über elementare Kenntnisse der politischen und der Verwaltungsstrukturen einer amerikanischen Großstadt verfügen. Für viele deutsche Konsumenten werden einige Aspekte von The Wire daher ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Was dann noch übrig bleibt, das ist eine ungemein spannende und dramaturgisch ausgefeilte Cop-Serie, in der die Gelangweilten möglicherweise immer dann schnell wegzappen, wenn in den Büros und Hinterzimmern der Politiker die eigentlichen Entscheidungen getroffen werden. Damit kann man allerdings keine Quote machen und die Bedenken gegen The Wire verdanken wir nicht ausschließlich der Ignoranz desinteressierter Programmmacher. Wer ehrlich ist, muss einräumen, dass The Wire hierzulande beim breiten Publikum, das nicht einmal den Kriminaldauerdienst KDD verkraftet hat, vermutlich floppen würde.

  • Staffel 5: Im Mittelpunkt steht die „Baltimore Sun“ (bei der David Simon gearbeitet hat). Die Zeitungskrise zwingt die Zeitungen zu einem Konkurrenzkampf, der die Grundsätze eines seriösen Journalismus infrage stellt. McNulty manipuliert einen karrieregeilen Journalisten mit der erfundenen Story eines Serienkillers, um dadurch zusätzliche Mittel für die Sondereinheit zu bekommen, die heimlich den Kampf gegen Stanfield fortsetzt. Am Ende verliert McNulty seinen Job, Stanfield macht einen Deal mit den Behörden und zieht sich als legaler Jungunternehmer aus dem Geschäft zurück. Im Upper Class-Milieu der legalen Strippenzieher fühlt er sich fehl am Platze. Auf der Straße ist er beinahe schon vergessen. Carcetti wird Gouverneur, ein opportunistischer Journalist erhält den Pulitzer-Preis, Daniels quittiert den Dienst und wird Strafverteidiger und McNulty kehrt nach Baltimore zurück. Auf den Straßen geht alles weiter wie zuvor.
Einen Teil der Geschichte Baltimores hat die Serie in fünf Staffeln mit netzwerkähnlichen Erzählstrukturen zusammengeführt, in denen nicht über den Drogenkrieg auf den Straßen, sondern auch über die moribunden Strukturen in der Verwaltung, den Gewerkschaften, den Schulen, in der Politik und in der Presse genauso komplex berichtet wird, wie diese in Wirklichkeit auch sind. Wenn Lester Freeman (Clarke Peters), der technikaffine Spürhund der Spezialeinheit und intellektuelle vermutlich auch potenteste Cop, immer wieder seinen Spruch „Follow the Money!" in die Debatten wirft, dann meint The Wire natürlich auch die tatsächliche Stadtgeschichte Baltimores und ihrer Politiker mitsamt der hinlänglich bekannten Korruptionsgeschichten. Beliebt wurde die Serie in Baltimore nicht, die Cops sollen sie aber gemocht haben.
 
Ganz am Ende zeigt sich in Eschkötters Buch "The Wire" eine besondere Qualität des Hinsehens. Sie deckt auf, was die Serie The Wire auch ist: ein Mikrokosmos, dessen Geschichten sich nicht nur an den Kernplots orientieren (also an dem, was man so gerne in einem Episode Guide zusammenfasst). Simon und Burns
nehmen sich beim Erzählen Zeit für das Zufällige, das scheinbar Nachgeordnete und Unwichtige. Es sind die unzähligen kleinen Lebensgeschichten, die in den fünf Staffeln fast beiläufig erzählt werden, manchmal vorübergehend verloren gehen, aber am Ende immer wieder auftauchen.
Während Eschkötter die Geschichten der großen Akteure Barksdale, Stringer und Stanfield „kleine ökonomische und politische Fallstudien“ nennt, in denen die „Herrschaftsökonomien“ abgesteckt werden, „gilt ein Interesse von Simon und Burns immer auch den kleinen beweglichen Unternehmungen, der Untergrundökonomie der scammers und hustlers, der Straßenexistenzen, die sich mit kleinen Betrügereien, Diebstählen, Besorgungen und Geschäften Tag für Tag durchbringen“ (65).
Diese Geschichten sind tatsächlich das empathische Herz der Serie, egal, ob es sich um den cleveren Loser Bubbles handelt, einen Junkie, der am Ende clean wird und wieder am Tisch seiner bürgerlichen Schwester landet, oder ob von einem Ex-Dealer erzählt wird, der trotz der geringen Erfolgsaussichten eine Boxhalle für Jugendliche einrichtet, um dem Elend an den „Ecken“ etwas entgegenzusetzen. Hier begegnen sich tatsächlich das Serielle und das System, der Bildungsroman und das Dokumentarische. Eine anthropologische Vielfalt, die ein Kinofilm nicht einfangen, die man aber in 60 Stunden Fernsehen zumindest skizzieren kann.

Irgendwann bekommt Bubbles, was Eschkötter sehr lakonisch und treffsicher in einer seiner Fußnoten erzählt, von Walon, seinem Sponsor aus der Selbsthilfegruppe, einen umfrisierten Satz von Franz Kafka um die Ohren gehauen: „Du kannst Dich zurückhalten von den Leiden der Welt, das ist Dir freigestellt und entspricht Deiner Natur, aber vielleicht ist gerade dieses Zurückhalten das einzige Leid, das Du vermeiden könntest.“
Bubbles: „Franz-e Kafka. Who’s he?“ Walon: „Some writer.“ „You read his books?“ Walon: „Fuck no!“


Daniel Eschkötter: „The Wire“. Diaphanes Verlag, Zürich 2012.95 S., br. 10,-