Freitag, 26. Juli 2013

DVD-Review: Das Spinnennetz

Deutschland 1989, R.: Bernhard Wicki, Laufzeit: 246 Minuten, D.: Ulrich Mühe, Klaus Maria Brandauer, Armin Mueller-Stahl, Andrea Jonasson, Corinna Kirchhoff, Elisabeth Endriss, Hans Korte, Hark Bohm, Alfred Hrdlicka.

Der Verlag Fernsehjuwelen, der in den letzten Monaten mit einigen bemerkenswerten Neuauflagen (1) auf sich aufmerksam gemacht hat, hat nun einen der wichtigsten deutschen Filme der 1980er Jahre zugänglich gemacht: „Das Spinnennetz“ von Bernhard Wicki („Die Brücke“). Die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Joseph Roth wurde 1989 in Cannes für die Goldene Palme nominiert und erhielt 1990 das Filmband in Gold des Deutschen Filmpreises. Nun ist auf DVD die über vier Stunden lange Uncut-Version der ursprünglich 196 Minuten langen Kinofassung erschienen.


„Das Spinnennetz“ steckt die fünf Jahre zwischen der Novemberrevolution 1918 und dem gescheiterten Hitlerputsch im Jahre 1923 ab. Während die Kommunisten erbittert die Sozialdemokratie bekämpfen, ist auf der anderen Seite des politischen Spektrums die Weimarer Republik bereits früh zum verhassten Ziel deutschnationaler oder kaisertreue Organisationen geworden, die auch vor Gewalt und Terror nicht zurückschrecken. Während sich rasend die Inflation ausbreitet, wittern nationalistische Terrororganisationen wie die Organisation Consul die Chance, die Republik mit politischen Morden zu destabilisieren.

Eher zufällig gerät der ehemalige Leutnant Theodor Lohse (Ulrich Mühe), der sich sein Jurastudium u.a. als Hauslehrer bei einem jüdischen Bankier verdient, in dieses Milieu. Er lernt den einflussreichen Baron von Rastchuk (Armin Mueller-Stahl) kennen, der Lohse in die „Organisation“ aufnimmt, einen mysteriösen paramilitärischen Geheimbund. Lohses erste Aufgabe ist eine Undercover-Aktion, bei der er eine anarchistische Gruppe ausheben soll. Dort lehnt er den jüdischen Polizei-Informanten Benjamin Lenz (Klaus Maria Brandauer) kennen, der Informationen an alle Seiten verkauft, um der jüdischen Gemeinde in Berlin auf die eine oder andere Weise zu helfen. Lenz wird Lohses Gegenspieler.


Kein mono-kausales Geschichtsbild

„Das Spinnennetz“ ist das wuchtige Portrait einer Gesellschaft am Abgrund. Joseph Roths Roman wurde von Bernhard Wicki allerdings nicht textkonform adaptiert, sondern als Vorlage genutzt, um die schillernden politischen Verhältnisse in der jungen demokratischen Republik in eine filmische Metapher zu verwandeln. Während Roth 1923 das Heraufziehende nur erahnte und dennoch ein prophetisches Psychogramm vorlegte, kann Wicki eine historische Perspektive einnehmen: der deutsche Schauspieler und Regisseur war einige Monate in einem KZ inhaftiert und das „Spinnennetz“ kann durchaus als politisches Vermächtnis gedeutet werden. Er zeigt, was meiner Einschätzung keinem deutschen Film wirklich gelungen ist: nämlich keine gradlinige Lehrbuchanalyse des deutschen Faschismus, sondern dessen Nährboden, in dem es gärt und brodelt. Also jene Kräfte, die nach 1918 in Militär, Verwaltung und Justiz höchste Positionen bekleideten, die Demokratie aber abgrundtief hassten und wie die Spinnen in ihrem Netz auf Mitläufer und politische Feinde lauerten. Damit deutet der Film an, wie divergierend die deutschnationalen und reaktionären Kräfte nach Ende des 1. Weltkrieges gewesen sind. Ein mono-kausales Geschichtsbild lieferte Wicki nicht ab.

Lohse ist einer dieser Mitläufer, der die Linken verabscheut und konsequent antisemitisch ist, obwohl er sich eine Affäre mit der Frau seines jüdischen Arbeitsgebers gestattet. Lohse will aber kein Mitläufer bleiben, sondern ganz nach oben, egal, wo dieses „oben“ sich am Ende befindet. Er will zu den Spinnen gehören, die im Netz sitzen.

Ulrich Mühe spielt diesen Opportunisten als intelligenten, aber nicht intellektuellen Analytiker, der über Leichen geht, um in der „Organisation“ aufzusteigen. Wicki zeigt ihn zwar als monströsen Vorboten des Nationalsozialismus, aber zunächst nicht als Monster. Lohse, und das ist das Erschreckende, ist ein Mann, den der Zuschauer zunächst nicht unbedingt als abstoßend erlebt: höflich, gut aussehend, charmant. Ein Intrigant, der Gefühle hat und sich selbst noch an die eigene Kaltschnäuzigkeit gewöhnen muss. Mit anderen Worten: eine ambivalente Figur aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, fasziniert von der Macht, ein Mann, der alles andere als angepasst sein will, sondern es schafft, die Verhältnisse seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten anzupassen. Dann tötet 
Lohse und lässt töten. Über der Leiche seines besten Freundes, der als einziger von der Affäre mit einer Jüdin erfahren hat und dessen Liquidierung er mit einer gezielten Denunziation kalt inszeniert hat, bricht er weinend zusammen und erschlägt anschließend den Mörder, weil er dessen Position übernehmen will. Langsam kriecht die Kälte beim Zuschauen hoch.


Großartiger Schauspielerfilm

Mühes grandiose schauspielerische Leistung im „Spinnenetz“ war sicher ein früher Höhepunkt seiner Karriere. Überhaupt ist „Das Spinnennetz“ ein exzellenter Schauspielerfilm. Glänzend: Armin Mueller-Stahl als charmanter und gleichzeitig eiskalter Strippenzieher des Geheimbundes, auch die Nebenrollen sind hervorragend besetzt: Agnes Fink als Lohses Mutter, Peter Roggisch als Banker Efrussi, Hans Korte als Hugenberg. Klaus Maria Brandauer als Benjamin Lenz spielt eine seiner besten Rollen: er umgarnt Lohse jovial, weil er in ihm den potenten und gefährlichen Gegner früher erkennt als alle anderen. Am Ende wird er es nicht fertigbringen, Lohse zu erschießen. Dies wird ihn nicht retten.
Lenz ist mehr als ein Spitzel. Er ist der intellektuelle Antagonist Lohses, seine Einschätzung der politischen Kultur ist ebenso zynisch wie die Lohses. Den drohenden Untergang der Republik, vorangetrieben durch die unzähligen Lohses, sieht er ebenso kommen wie er die Anpassungsleistungen der arrivierten Juden, etwa des Bankiers Efrussi, angesichts des radikalen Antisemitismus als aussichtslos einschätzt. Lenz fühlt sich daher den Anarchisten näher, ebenso und fast paradoxerweise den Ostjuden, die mit zum Teil mit illusionären Vorstellungen über die deutsche Kulturnation nach Berlin gekommen sind und nun systematisch vertrieben werden oder progromähnlichen Agressionen ausgesetzt sind.
Lenz' Paktieren mit allen Seiten hält das Unvermeidliche nicht auf, will es auch nicht und wirkt wie ein Brandbeschleuniger. Brandauers spielt dies genauso chamäleonhaft wie Mühe die Figur des Theodor Lohse, eine außergewöhnliche Leistung, die dem Film die Qualität eines Politthrillers gibt.

Überzeugend ist auch das Set-Design: Dem „Spinnennetz“ gelingt es, die frühen 1920er Jahre lebendig werden zu lassen. Das Berliner Künstlermilieu mit seinen Dadaisten wird genau so treffsicher gezeichnet wie das jüdische Scheunenviertel oder die riesigen Güter im Osten des Landes. Dort wird Lohse seinen nächsten Karriereschritt machen, als er streikende polnische Wanderarbeiter mitsamt Frauen und Kindern niederkartätschen lässt.

Bernhard Wicki ist mit dem „Spinnennetz“ ein Meilenstein der deutschen Filmgeschichte gelungen. Beim Zuschauen beschleicht einen allerdings das Gefühl, dass Filme mit dieser analytischen Schärfe und konsequenten politischen Stellungsnahme gegenwärtig nicht mehr zu erwarten sind. Offenbar fehlen nicht nur Produzenten, die sich eine derartige Projektierung zutrauen, sondern auch Darsteller wie Ulrich Mühe, Klaus Maria Brandauer und Armin Mueller-Stahl, deren Präsenz derartige Filme erst glaubwürdig macht. Von den Regisseuren ganz zu schweigen. Vor einigen Jahren wäre so etwas noch Volker Schlöndorff oder Edgar Reitz zuzutrauen gewesen.

Und das Ende? Es ist der Anfang vom Ende. Auf einem Fest erfahren die führenden Mitglieder der Organisation vom Hitlerputsch. Begeisterung macht sich breit: Hitler will nach Berlin marschieren. Lohse zeigt dem Baron kühl lächelnd sein Parteiabzeichen: er ist bereits Mitglied der NSDAP. Von Ratschuk bleibt nur Staunen: er hat gerade erst einen Antrag gestellt. Als der Putsch scheitert, stellt Lohse, wieder einmal ganz der Opportunist, fest: „Was kümmert mich Hitler?“ 
Dann fügt er hinzu: „Warten wir ab!“


Appendix

Technisch hat der Verlag Fernsehjuwelen gute Arbeit geleistet. Die restaurierte Uncut-Version macht einen guten Eindruck und überzeugte mich mehr als die Neuauflage des „Zauberbergs“. Auf einer Bonus-DVD gibt es Interviews mit Elisabeth Endriss, der Frau von Bernhard Wicki. Ein Booklet mit weiteren Informationen fehlt ebenfalls nicht.

Wer sich für die literarische Vorlage interessiert, kann Joseph Roths Roman kostenlos im Projekt Gutenberg lesen: http://gutenberg.spiegel.de/buch/4266/1.

Darüber hinaus hat der Bayerische Rundfunk eine Hörfassung in zwei Teilen produziert, die man ebenfalls kostenfrei downloaden kann: http://www.br.de/radio/bayern2/programmkalender/sendung292210.html.

Und wer mehr über die nationalistischen Geheimorganisationen während der Weimarer Republik und des Dritten Reiches wissen will, sollte sich mit der Organisation Consul beschäftigen, die für die Ermordung des deutschen Außenministers Walter Rathenau verantwortlich war. Einer ihrer führenden Köpfe war Friedrich Wilhelm Heinz, der bereits vor der nationalsozialistischen Machtergreifung im rechten „Spinnennetz“ der nationalistischen Fraktionskämpfe ein Chamäleon der Macht wurde – ähnlich wie der fiktive Theodor Lohse. 
Das NSDAP-Mitglied Heinz fiel fast den Säuberungen nach dem Röhm-Putsch zum Opfer, ging zur Wehrmacht, suchte die Nähe zum Widerstand und war aktiv an der Novemberverschwörung gegen Hitler beteiligt. Unter Canaris baute er einen Agentenring auf, überlebte den 20. Juli und den Zweiten Weltkrieg, baute nach dem Krieg für die Amerikaner einen Nachrichtendienst auf und dann für das Bundeskanzleramt eine Vorläuferorganisation des Militärischen Abschirmdienstes (MAD). Erst 1953 wurde er entlassen und ging, natürlich erfolgreich, in die Werbung. Die Lohses sind überall.

(1) http://bigdocsfilmclub.blogspot.de/2013/07/dvd-review-der-zauberberg.html

Dienstag, 23. Juli 2013

Beasts of the Southern Wild

USA 2012, Länge: 97 min, FSK: ab 12, Regie: Benh Zeitlin, Drehbuch: Lucy Alibar, Benh Zeitlin, Kamera: Ben Richardson, Darsteller: Quvenzhané Wallis, Dwight Henry, Levy Easterly, Lowell Landes, Pamela Harper u.a.

Die fünfjährige Hushpuppy lebt mit ihrem Vater Wink auf der Isle de Charles Doucet, die mitten in einem sumpfigen Bayou im Mississippi-Delta von Louisiana liegt. Hier existieren Menschen, die den Kontakt zur Zivilisation abgebrochen haben und sie auch nicht brauchen. Und auch die zivile Gesellschaft mitsamt ihren Ölraffinerien hat sich längst abgeschottet – ein gewaltiger Deich soll die große Stadt vor Überflutungen schützen, aber er hält faktisch auch jene fern, die da draußen im Sumpfland leben. Als ein großer Sturm ausbricht, prallen beide Gesellschaften aufeinander. Verständnislos.

„Die ganze Zeit und überall pumpen und schlagen die Herzen von allen. Sie reden miteinander, aber ich kann es nicht verstehen. Meistens meinen sie wahrscheinlich: ich habe Hunger, ich muss kacka. Aber manchmal reden sie in Geheimsprache!“
Die kleine Hushpuppy hält sich am Morgen erst einmal Vögel oder Hühner ans Ohr und lauscht. Auch beim schwarzen bräsigen Hausschwein wird der Herzschlag geprüft. Und nach dem Essen fährt sie mit ihrem Vater im Boot zu dem großen Deich, hinter dem sich riesige Industrieanlagen befinden. „Ist das da drüben nicht hässlich. Wir haben den schönsten Platz der Welt!“, sagt ihr Vater bedächtig.
Es ist ein Ort, der mehr Feiertage kennt als der Rest der Welt, berichtet Hushpuppy, ein Ort an dem man nicht nur einmal im Jahr Urlaub hat und wo die Hühner nicht auf Stangen sitzen müssen. Ein Ort, an dem die Kinder nicht in ‚Kindergärten’ eingesperrt werden. Hier ist Hushpuppy zu Hause, auch wenn man sich erzählt, dass irgendwann die große Flut kommt. Aber das ist weit weg.


Ihr müsst alle lernen, wie man überlebt

Während die frankophonen Cajuns bis zu ihrer staatlich verordneten Zwangszivilisierung über Generationen eine eigene Kultur entwickelten, leben der farbige Wink und seine kleine Tochter Hushpuppy (gespielt von der neunjährigen Quvenzhané Wallis) im "Bathtub“, einer Gemeinde, die aus White und Black Trash besteht. Es ist der Auswurf der Gesellschaft, wortwörtlich verstanden. Im Bathtub (Badewanne) gibt es Kultur, aber keine, die zur Folklore taugt. Man feiert lichter- und farbenfroh den Nationalfeiertag, aber zu feiern gibt es halt immer etwas. 
Die Gemeinde besteht aus den übrig Gebliebenen und Angeschwemmten. Es sind jene, die arm, ungebildet und unwissend sind und die aus den Bruchstücken der Zivilisation, dem ebenfalls übrig Gebliebenen und Angeschwemmten, ihre armseligen Hütten zusammenzimmern. Es gibt aber auch Autos und viel Musik. Menschen, die sich helfen, für die ethnische, religiöse oder politische Zugehörigkeit nicht existieren. Fernseher und Zeitungen sucht man vergebens, aber es gibt eine primitive Dorfschule, in der die kluge Miss Bathsheba ihr sparsames Wissen an die Kinder weitergibt: „Ihr müsst lernen, wie man überlebt!“

Auf der Isle de Charles Doucet geht es nämlich um nichts Anderes. Es geht darum zu lernen, wie man Krabben richtig aufbricht, nämlich mit den bloßen Händen und ohne Werkzeug, oder wie man aus der Ladefläche eines Trucks ein funktionierendes Boot baut. Mit anderen Worten: wie man sich abhärtet gegen ein Leben der Zumutungen. Und bei Miss Bathsheba lernt Hushpuppy auch etwas über die Höhlenmenschen, deren Kinder in grauen Vorzeiten von den riesigen Auerochsen gefressen wurden, und das nur, weil die Höhlenmenschen zu klein und zu arm waren, um sich zu wehren. Nun aber, so erfährt Hushpuppy, schmelzen die Pole ab und dem Bayou droht eine Überschwemmung. Und auch die im Eis eingeschlossenen Auerochsen seien aufgetaut worden.

Regisseur Benh Zeitlin hat mit Beasts of the Southern Wild einen ungewöhnlichen Film vorgelegt. Dies liegt an seiner Erzählweise und der Entschlossenheit des Regisseurs, auf ein Sozialdrama mit konventioneller Dramaturgie zu verzichten. Ähnlich wie in seinem Kurzfilm Glory at Sea (2008), wo Zeitlin die Geschichte aus der Sicht eines ertrunkenen Mädchens erzählt, verlagert er auch in Beasts den Point of View in die kindliche Wahrnehmung: kommentiert wird die Geschichte im Off von der fünfjährigen Heldin, die ihre ganz eigene Sicht auf die Dinge und das Universum entwickelt.
Das Leben im Bayou ist für Hushpuppy voller Magie und rätselhafter Geheimnisse und selbst das Verschwinden ihre Mutter, von der sie nur aus den Erzählungen ihres Vaters weiß, erhält mythische Qualitäten. Eine wunderschöne Göttin, die so gut Alligatoren braten konnte. Hushpuppy kann zwar nicht mit Tieren sprechen, aber sie erklärt sich die Welt so intuitiv, wie es bereits frühe Kulturen getan haben: animistisch. 
Alles ist beseelt und selbst ein unbedeutender Teil der Lebenswelt trägt den ganzen Kosmos in sich. Und trotzdem ist da in ihr die Angst vor einem Verlust, und diese meint den Vater, der plötzlich für Tage verschwunden ist, ein Mann, der zwischen Ausbrüchen und Verlässlichkeit schwankt, der liebevoll und hart ist. Und der nur will, dass Hushpuppy ohne ihn überleben kann, denn er ist bereits von einer schweren Krankheit gezeichnet. Beasts of the Southern Wild ist so gesehen auch ein Bildungsroman, aber ein anti-zivilisatorischer, ein vorzeitlicher. Denn auch in Hushpuppys Fantasie haben sich die riesigen Auerochsen auf den Weg ins Bathtub aufgemacht.

Beasts of the Southern Wild ist die Adaption des Einakters Juicy and Delicious von Lucy Alibar, die zusammen mit dem 31-jährigen Regisseur Benh Zeitlin auch das Script verfasst hat. Gedreht wurde auf 16 mm und mit Laiendarstellern. Dwight Henry, der Hushpuppys Vater spielt, ist im wirklichen Leben Bäcker. 
Dass es eine 1,3 Mio. US-Dollar teure Produktion schafft, für vier Oscars nominiert zu werden (Bester Film, Beste Regie, Beste Hauptdarstellerin, Bestes Adaptiertes Drehbuch) ist beinahe so wundersam wie die Geschichte, die der Film erzählt. Aber Beasts besitzt einen berührenden Charme, der die Armut und Bedürftigkeit der Protagonisten in eine Welt voller Glanz und Mysterien verwandelt. Denn wer so arm ist und ohne Teilhabe an den Errungenschaften der modernen Gesellschaft dahinvegetiert, der ist auch frei. 
So ist Beasts of the Southern Wild auch durchweg vom Rousseauschen Paradigma des ‚edlen Wilden’ angehaucht, der in den gesellschaftstheoretischen Visionen des französischen Philosophen in naturnahen solidarischen Gemeinschaften fernab von der verlogenen egoistischen Zivilisation lebt. Und ähnlich wie bei Rousseau suggeriert Zeitlins Geschichte, dass eigentlich die Menschen jenseits des großen Deichs die Entfremdeten sind, während die Menschen im Bathtub im eigentlichen Sinne bei sich und ihrer Natur sind. Zwar besitzlos, da sie von den angeschwemmten Gütern der reichen Städte leben, aber völlig im Reinen mit ihrem Leben. Jedenfalls funktioniert dies so in Hushpuppys Weltdeutung.


Clash of Civilizations

Doch dann kommt der Sturm. Das Ergebnis ist verheerend: Wink und Hushpuppy überleben zwar die Katastrophe, aber das Sumpfland wird meterhoch überflutet. Während Miss Bathsheba bereits das Sterben der Tiere und der Vegetation ankündigt, glaubt Wink immer noch, dass er alles unter Kontrolle hat. In einem aus Ersatzteilen montierten Motorboot machen sich Vater und Tochter auf die Suche nach Überlebenden. Die kleine eingesammelte Gemeinde will warten, bis der Wasserpegel sinkt, aber dies geschieht nicht. Also sprengt Wink mit einigen Freunden mit Dynamit den Deich und die Wassermassen fließen aus dem Bayou ab. Erst jetzt sieht man das Ausmaß der Schäden: die einzige natürliche Lebensgrundlage, das Fischen, ist vernichtet worden.
Kurz danach werden die Überlebenden gegen ihren Willen von den Behörden in ein Auffanglager überführt. Wink wird operiert, rebelliert aber gegen die ungewollte Hilfe und flieht mit Hushpuppy und anderen Kindern. Wink erklärt seiner Tochter, dass er sterben muss. Sie kehren ins Bathtub zurück, aber Hushpuppy bricht mit anderen Mädchen zu einer abenteuerlichen Odyssee auf, die sie schließlich in ein schwimmendes Bordell führt, wo Hushpuppy eine Kellnerin kennenlernt, die ihre Mutter sein könnte. Auch die Fremde kann Alligatoren gut zubereiten und für einen kurzen Moment findet das Kind etwas Geborgenheit. 

Als Hushpuppy nach Hause zurückkehrt, sind auch die Auerochsen eingetroffen. Aber das kleine Mädchen besiegt seine Angst und stellt sich den Urtieren entgegen, die besänftigt davonziehen. Als Wink schließlich stirbt, erfüllt ihm Hushpuppy seinen letzten Wunsch: er wird im einem Boot aufgebahrt und verbrannt. Seine Freunde trinken und feiern fröhlich, wie es ihre Art ist.


Malick für Arme

„Wenn ich meine Augen zumache, sehe ich, dass alles, was mich erschaffen hat, in unsichtbaren Teilen um mich herumfliegt. Wenn ich genau hinsehe, verschwinden sie. Aber wenn ich ganz still bin, sehe ich, dass sie da sind. Ich verstehe, dass ich ein kleiner Teil eines riesengroßen Universums bin, und dann ist alles gut", sagt die sechsjährige Hushpuppy am Ende. "Wenn ich sterbe, werden die Wissenschaftler der Zukunft alles finden. Sie werden wissen, es gab einmal eine Hushpuppy, die mit ihrem Daddy im Bathtub lebte."

In Beasts of the Southern Wild weiß man nicht ganz, wer denn nun die Biester sind: die mythologischen Auerochsen, denen der strenge Blick einer Sechsjährigen Einhalt gebieten kann, oder die edlen Wilden im Bathtub – oder gar die Vertreter der Obrigkeit, die wie feindliche Aliens in die fremde Kultur des Bayou eindringen. In einer der letzten Einstellungen schaut Hushpuppy mit hartem stolzem Blick in die Kamera, dann sieht man die Gemeinde der Überlebenden nach der Beerdigung wie im Triumphzug auf die Kamera zuschreiten. Diese zieht sich in einer langsamen Fahrt aber zurück, während der pathetische Score, den Dan Romer und Benh Zeitlin geschrieben haben, auf die Credits vorbereitet.
Zeitlins Spielfilmdebüt sieht man durchaus die immer wieder von ihm genannten Vorbilder an: Emir Kustarica, John Cassavetes und Terrence Malick. An Letzteren wird man geradezu aufdringlich erinnert: Zeitlins Kameramann Ben Richardson
filmt das Leben im Bayou zwar mit wackliger Handkamera realistisch, aber verleiht ihm gleichzeitig auch einen visuellen Glanz, der zusammen mit den mythologischen Deutungen der sechsjährigen Heldin eher an Malicks frühere Filme wie Der schmale Grat (1998) oder The New World (2005) erinnert. Auch dort gab es inmitten von Tod und Entbehrung ein Band zu einem animistischen Naturverständnis, das die Greuel des Krieges fast schon marginalisierte. Während Malick in extravaganten Bildern schwelgt, hat Beasts eher den Look einer ärmlichen Variante, was allerdings dem Ganzen nicht abträglich ist.
 
Wenn schon in Malicks filmischen Kosmos, der übrigens gar nicht so schwer zu verstehen ist, wie manche Kinogänger es befürchten, hinter den Dingen und ihrer Profanität das Spirituelle als die eigentliche Wahrheit bereitgehalten wird, dann muss man sich in Zeitlins Film auch nicht darüber wundern, dass in Beasts eine ähnliche Perspektive zu erkennen ist. Denn Hushpuppy ist eine reine Kunstfigur, die trotz ihrer kindlichen Sprache nichts anderes tut, als recht frühreif eine spirituelle Weltdeutung vorzulegen, in der Armut und Entbehrung fast schon zu einem zivilisatorischen Gegenentwurf umgedeutet werden. Hier liegt trotz seiner überwältigenden Erzählweise auch der Stachel des Films, ein Widerhaken, der zumindest mir beim ersten Sehen etwas auf den Magen geschlagen ist. Armut und fehlende medizinische Versorgung, Bildungsferne und Hunger sind nämlich alles andere als edel. Und zu wissen, dass man Teil eines riesengroßen Universums ist, macht leider nicht alles gut.


Pressespiegel

Dass ein netter junger Kollege in seiner Kritik allen Ernstes über eine „versprengte Hippiegemeinde irgendwo nah am Meer“ geschrieben hat und die multi-ethnische Bayou-Gemeinde damit meinte, kann ich nicht ganz verzeihen. Auch wenn man zu einem Jahrgang gehört, der möglicherweise noch nie einen Hippie gesehen hat, sollte so viel sozio-kulturelles Wissen vorhanden sein, um diese groteske Umdeutung zu vermeiden.
Ich verzichte aus Höflichkeit auf einen Quellenverweis.

Andrea Hünniger schreibt in DIE ZEIT eine durchaus lesenswerte Kritik, lässt sich aber zu einem finalen Trugschluss hinreißen: „'Beasts of the Southern Wild' gibt einen apokalyptischen Trost, den nur ein Kino geben kann, das solche Bilder erschafft. Denn selbst wenn wir alles verlieren sollten, auf einem Floß durch unsere Stadt treiben oder eine zugige Hütte bewohnen: Es ist einfach nie zu Ende.“ Doch, liebe Filmfreundin, es ist irgendwann zu Ende und was ein apokalyptischer Trost ist, weiß ich immer noch nicht.

Im SPIEGEL rückt Hannah Pilarcyk immerhin diese Mär zurecht und erwähnt, dass tatsächlich 1800 Menschen während der Überflutung jener Insel ertrunken sind, die als Vorbild für den Bathtub diente. Ihr Fazit: „Indem 'Beasts of the Southern Wild' nicht Mensch gegen Natur, sondern Mensch gegen Mensch stellt, wird er auch zu einem politischen Film. Wo Staatsgewalt erst einschreitet, wenn es nichts mehr zu retten und nur noch zu trennen gibt, dann stellt sich die Frage nach ihrer Legitimität. In der Fiktionalisierung der Ereignisse um Hurrikan "Katrina" geht der Film zwar weiter als selbst David Simons HBO-Serie "Treme", doch wahrscheinlich wird es dieser Film sein, der das Gedenken an den Sturm und seine Folgen weitertragen wird. Eben weil er halb Märchen und halb Wahrheit ist und beides gleichermaßen eindrücklich zu erzählen weiß.“

Verena Lueken wird dagegen in der FAZ sehr poetisch: „Unvorstellbar, was aus 'Beasts of the Southern Wild' ohne diese Hauptdarstellerin und ihren Mitspieler, Dwight Henry, (...), hätte werden können - hätten beide Raum gelassen für Sentimentalitäten, für Rührseligkeit, Ideologie und Ökoschmonzette. Mit ihnen aber sehen wir einen Film, als finge das unabhängige Kino noch mal an - mit Zelluloid, im Kollektiv, mit Laien und Tieren und einer Menge magischem Realismus, der ohne Frage aus der wirklichen Welt stammt, wie sie uns hier entgegentritt. (...) Doch dies ist ein Film, der das Leben dieser Menschen feiert. (...) Sie leben ein Leben, von dem niemand träumen kann außer ihnen, die von sehr weit weg auf die Skyline einer Stadt schauen, aus der in tausend Jahren jene Wissenschaftler kommen werden, die erforschen werden, wer Hushpuppy war, die in einem Boot aus der Ladefläche eines Pick Up-Trucks übers Wasser glitt wie die Königin der Meere.“ Eher nicht.

Rüdiger Suchsland gibt sich auf Artechock gewohnt ideologiekritisch und ist damit einer der wenigen, die nicht völlig überwältigt vor dem Film in die Knie gehen: „Man kann all dies bezaubernd finden, man wird aber auch zugeben müssen, dass man sich hier an einem Elend ergötzt, das reichlich pittoresk, und in allem Ekel, allen seinen abstoßenden Zügen alles in allem überaus idyllisch gezeichnet ist. Das Glück der Armen. 'Beasts of the Southern Wild' zeigt Underdogs, white Trash und arme Schwarze, an deren Lage sich auch im Obama-Amerika nichts zum Besseren geändert hat, der Film bietet eine Verarbeitung der Katrina-Hurrikan-Katastrophe und lässt sich sicher auch als ein Fanal verstehen, dass uns die Folgen eines möglichen Klimawandels konkret vor Augen führt. Zugleich aber ist dem Film an Analyse und Nachdenken, an Innehalten nicht gelegen. Indem er aus niedlichster Kinderperspektive erzählt, und seine pittoresken Bilder mit permanenter Musiksoße übergießt, arbeitet 'Beasts of the Southern Wild' selbst an der Wiederverzauberung der Welt. Der sogenannte »magische Realismus« ist nämlich, wenn man etwas genauer hinblickt, und seinen Denken nicht ausschaltet, weder magisch, noch real. Er verlangt Unterwerfung, die Bereitschaft, sich einlullen zu lassen und verzaubert werden zu wollen.“
So kann man das sehen.


DVD und Bluray fallen im Moment hurtig im Preis. Die Bluray hält neben anderen Extras auch Benh Zeitlins Kurzfilm Glory at Sea bereit. Im Filmclub war der Film umstritten, zumindest einen zynischen Kommentar musste er einstecken. Trotzdem reichte es für gute Noten:
Melonie, BigDoc = 2, Klawer = 2,5, Mr. Mendez = 4

Dienstag, 16. Juli 2013

In ihrem Haus

O.: Dans la maison, Regie und Buch: François Ozon, Frankreich 2012, Länge: 102 min, D.: Fabrice Luchini, Kristin Scott Thomas, Ernst Umhauer, Bastien Ughetto, Emmanuelle Seigner.

Mit den Augen eines anderen die Welt zu entdecken, dabei aber sachliche Distanz vorzutäuschen, ist ein Thema des Kinos schlechthin. Aber in die intimsten Bereiche des Lebens vorzudringen und den Zuschauer zum Voyeur zu machen, ist wesentlich spannender und dabei auch noch pures Erzählen, denn es gibt kein literarisches oder filmisches Sujet, das nicht von dieser elementaren Neugier des Machers und der verführten Leser und Zuschauer profitiert. Dass die dabei beobachteten Figuren nicht real, sondern fiktiv sind, spielt dabei keine Rolle, denn alles soll ein Spiel sein. In seinem Film „In ihrem Haus“ dekliniert François Ozon dies auf vergnügliche Weise durch.


Lehrern wird dieser Film auf Anhieb gefallen. Der Französischlehrer Germain (Fabrice Luchini) ist zynisch geworden: einfache Aufsatzthemen werden von seinen Schülern in Dokumente unbemühter Banalität verwandelt. Den Twitter- und Facebook-Kids mehr als zwei bis drei selbstverfasste Zeilen zu entlocken, scheint aussichtslos zu sein. Über Literatur mit seinen Schülern zu reden, ist angesichts dieser Sprachlosigkeit absurd und lächerlich. 
Auch die aufreizend leichte Aufgabe, einen Essay über ihr letztes Wochenende zu schreiben, führt zum Desaster. Dann entdeckt Germain die Arbeit von Claude (Ernst Umhauer). Der stille Schüler beschreibt stilistisch begabt und dazu noch spannend, wie er seinen Mitschüler Rapha Artole (Bastien Ughetto) manipuliert hat, um beim gemeinsamen Erledigen der Schulaufgaben in dessen Elternhaus die Familie seines Freundes heimlich ausspionieren zu können. Die maliziös erscheinende Beschreibung von Raphas Mutter Esther (Emmanuelle Seigner) zieht nicht nur den Lehrer an: die Textstelle „der typische Duft einer Frau aus dem Mittelstand“ erscheint Germains Frau Jeanne (Kristin Scott Thomas), einer Kunstgaleristin, gar psychopathologisch verdächtig zu sein. Egal, ob hingerissen oder abgestoßen, beide kleben von nun an den Texten des Jungschriftstellers. Sie sind aufgrund der unwiderstehliche literarischen Cliffhanger im raffinierten Netz eines Fortsetzungsromans gefangen. Fortsetzung folgt.


Das Spiel der Lüste

Das allein könnte schon den Stoff für eine mokante Komödie über die verlorenen Illusionen des Bildungsbürgertums abgeben. Allein die abstrusen Versuche von Jeanne, die Schließung der Galerie durch ihre nicht sonderlich kunstaffinen Besitzer zu verhindern, fallen immer verzweifelter aus. Ihre Erklärungsversuche einer Bilderserie über Wolken liegen irgendwo zwischen Luis Buñuel und Woody Allen: mit der nichtssagende, aber brillant vorgetragener Rhetorik versucht Jeanne die Bilder als dernier cri, als Avantgarde schön zu quasseln, obwohl fast nichts auf den weißen Leinwände zu sehen ist. Aber eine Komödie ist In ihrem Haus dann doch nicht.

Das liegt auch daran, dass Ozon wieder einmal sein Talent voll ausspielt und dabei zeigt, dass er virtuos in allen Genres zu Hause ist. Sein Film ist nämlich auch ein dezenter Psychothriller, der sich einiges bei Alfred Hitchcock und Brian De Palma abgeguckt hat. Obsession und Voyeurismus haben beide Regisseure bekanntlich nicht nur einmal clever und stilbildend zum Gegenstand ihrer hartnäckigen Beobachtungen gemacht. 
In ihrem Haus begibt sich in dem Moment auf ihre Fährte, als Germain damit beginnt, sich in Claudes literarischen Mentor zu verwandeln. Er bestellt ihn immer häufiger zu privaten Lektionen ein und beginnt, an den zunächst realistisch anmutenden Beschreibungen der Artoles herumzumäkeln: hier bitte mehr dramatische Tiefe in den Figurenbeschreibungen, dort mehr Spannungsdramaturgie. Irgendwann verschwimmt dann auch die Fiktion vollständig und der Zuschauer weiß nicht mehr so recht, was Claude tatsächlich erlebt hat und was er für seinen Lehrer wunschgetreu fiktionalisiert. Deshalb schmeichelt sich Claude immer mehr wie ein Symbiont in der Familie ein und beginnt, die Dame des Hauses verführerisch zu umgarnen und zu einer Romanze zu verleiten. Ist dies noch real oder beginnt hier bereits die Verführung des Mentors? Ein wenig (aber wirklich nur ein wenig) lugt hier Michel Foucaults Definition vom Spiel der Lüste um die Ecke, mit der Foucault die Aufmerksamkeit auf die verborgenen und vorangehenden Machtbeziehungen lenken wollte, die alle (erotischen) Lüste bestimmen, wobei die Regeln natürlich ständig verworfen oder erweitert werden können.

Natürlich geht es in „In ihrem Haus“ daher auch um Manipulation, aber die Lust daran ist die des Erzählens, und dort können Regeln schließlich auch über den Haufen geworfen werden...
Claudes Ziele bleiben in diesem Spiel mysteriös. Schildert er die fortschreitende Manipulation seiner Gastfamilie, um eigentlich die Germains zu manipulieren? Ist seine Neugier literarisch stimuliert oder sucht sich der aus ärmlichen Verhältnissen kommende Schüler nur eine neue Familie? Stimmt seine Vita überhaupt oder ist auch sie nur ein Instrument der Steuerung und Lenkung? 

Ozon geht noch einen Schritt weiter und sprengt schließlich den diegetischen Erzählraum. Irgendwann taucht nämlich Germain in einer von Claude beschriebenen Szene auf, nämlich als Claude und Germain allein miteinander sind, und kommentiert den Verlauf der Handlung, ja, er verlangt sogar Änderungen. Von Anfang an war Ozons Film etwas, was die Narratologie eine mise en abyme nennt, eine Verdoppelung, die dann auftritt, wenn eine Geschichte erzählt wird, in der eine Figur ihrerseits eine Geschichte erzählt. Und diese mise en abyme, die den illusionären Charakter der hermetischen Erzählung auflöst und den Leser/Zuschauer mit der Konstruiertheit des Ganzen konfrontiert, wird nun auch noch metaleptisch (hier sei an Woody Allens The Purple Rose of Cairo erinnert, aber Life of Pi, vgl. http://bigdocsfilmclub.blogspot.de/search?q=Life+of+Pi), denn der Erzähler ist Teil seiner eigenen Geschichte und im vorliegenden Fall hat er es auch noch mit seinem Mentor zu tun, der in diese Geschichte eindringt und sie gerne in eine andere Richtung lenken möchte. 


Hommage an Alfred Hitchcock

Das hört sich arg theoretisch an, ist es aber nicht, denn Ozon serviert das Ganze mit einer unangestrengten Leichtigkeit. Dass sich dann aber Mentor und Schüler in ihren literarischen Konstruktionen verfangen, führt schließlich zur Katastrophe: Germain besorgt seinem jungen Schriftsteller den bevorstehenden Mathematik-Test von Rapha, da Claude beteuert, er könne nur dann weiter bei den Artoles ein- und ausgehen (und damit 'Stoff' für seine Geschichte erhalten), wenn Rapha den Test besteht. Am Ende verliert Germain seinen Job und seine Frau und Claudes Romanze mit Esther findet kein romantisches Ende. Und so sitzen Germain und Claude in der letzten Einstellung des Films gemeinsam als Freunde auf einer Parkbank und schauen sehnsuchtsvoll auf die Fenster der Häuser um sie herum, Fenster, hinter denen wohl weitere Geschichten warten. Man muss sich halt nur Zugang zu den Wohnungen verschaffen.
Welche Sehnsüchte sich hinter diesem Voyeurismus verbergen, mag der Zuschauer für sich selbst entscheiden. Vielleicht ist es die Lust am heimlichen Belauschen und gleichzeitig auch die Lust am Geschichtenerzählen. Aber die eigentliche Subtilität besteht dann doch wohl darin, in diese Geschichten eingreifen zu können. Und so sind die allerletzten Bilder des Films eine Hommage an Rear Window (Fenster zum Hof) von Alfred Hitchcock, der mustergültig darin war, die Freuden des heimlichen Zuschauens und der erotischen Sublimierung zu demonstrieren und den Zuschauer dabei auch noch zum Komplizen zu machen.

Noten: Melonie, BigDoc = 1, Klawer = 2

Damit übernahm In ihrem Haus Platz Nr. 1 im laufenden Rating.

Mittwoch, 10. Juli 2013

DVD-Review: Der Zauberberg

Regie: Hans W. Geißendörfer - Buch: H. W. Geißendörfer, nach dem Roman von Thomas Mann - Kamera: Michael Ballhaus (Farbe) - Musik: Jürgen Knieper - Darsteller: Christoph Eichhorn (Hans Castorp), Alexander Radszun (Joachim Ziemßen), Flavio Bucci (Ludovico Settembrini), Marie·France Pisier (Clawdia Chauchat), Rod Steiger (Mynheer Peeperkorn), Hans Christian Blech (Hofrat Behrens), Charles Aznavour (Naphta), Margot Hielscher (Frau Stöhr), Irm Hermann (Fräulein Engelhart) u. a. - Produktion: BRD/Frankreich/Italien 1981 - Länge: 153Min. - Verleih: United Artists (35mm) - FSK: ab 16 Jahren
 

Der letzte Versuch, den „Zauberberg“ von Thomas Mann zu verfilmen, war die gleichnamige deutsch-französisch-italienische Koproduktion aus dem Jahre 1981, bei der H.W. Geißendörfer Regie führte. Bekannt wurde die 2½ lange Kinoversion, die über Stunden lange TV-Fassung hat nun der Filmverlag Fernsehjuwelen mitsamt der Kinofassung auf den Markt gebracht. Es ist seit über 30 Jahren die erste Gelegenheit, diesen nicht nur filmhistorisch bedeutenden Versuch wiederzuentdecken.
 

Die Adaption des Molochs


"Kühn angegriffen, könnte das ein merkwürdiges Schaustück werden, eine phantastische Enzyklopädie, mit hundert Abschweifungen in alle Welt, und die um ein episches Zentrum Visionen aller Gebiete, der Natur des Sports, der Medizin und Lebensforschung, der politischen Geschichte und so weiter ordnen würde", schreibt Thomas Mann im Jahre 1928 über eine geplante, aber damals nicht zustande gekommene Verfilmung seines Romans "Der Zauberberg", den Marcel Reich-Ranicki noch heute zu den besten drei deutschsprachigen Romanen zählt. 
Kühnheit wäre allerdings nötig gewesen, um diesen voluminösen und in seiner thematisch-symbolischen Vielfalt kaum zu bändigenden Roman zu verfilmen. Lediglich nacherzählen lässt sich der "Zauberberg" nicht, denn er ist in doppelter Hinsicht ein Zeitroman: der Versuch einer geistesgeschichtlichen Reflexion deutscher Geschichte und des bürgerlichen Denkens, und ein Versuch, sich auf die Zeit selbst einzulassen, sie zu benutzen, um eine Beziehung von Erzählzeit und erzählter Zeit herzustellen. Dies hatte bereits Thomas Mann im Sinn, denn bei seinen Figuren wird der Eindruck einer Zeitlosigkeit evoziert, solange jedenfalls, bis die Zeiten sich ändern. Dies sollte auch für die Leser des Buches nacherlebbar werden – eine Zeitlosigkeit, die eigentlich mehr eine Verzerrung und Dehnung von Zeitabläufen ist. Die Zeit ist in diesem Roman ein wesentlicher Bestandteil der fiktionalen Konstruktion.
 

Hans W. Geißendörfers Film ist zunächst einmal ein Projekt mit doppeltem Boden. Hebt man den einen ab, so schaut darunter die zweite Fassung des Films hervor, die doppelt so lang ist und 1984 vom ZDF gesendet werden wurde. Auf über Zwanzig Millionen Mark beliefen sich damals die aus verschiedenen Budgets finanzierten Produktionskosten, die, wie Produzent Seitz feststellte, nur vom "Boot" übertroffen wurden. Heute sind solche Beträge Peanuts.
 

"... wollte ich versuchen, das gefilmte Geschehen in einen historisch nicht mehr genau erfaßbaren Zeitraum zu stellen, gewissermaßen die Zeit aufzulösen, ohne dabei ,Aktuelles' oder ,Gegenwärtiges' vorzugaukeln." (H. W. Geißendörfer)
 

Kranke aller Länder, vereinigt euch!


Thomas Mann erzählt in seinem Roman die langsame Bildungsgeschichte eines mittelmäßigen und bürgerlichen Ingenieurs. Hans Castorp heißt der Proband, den es mehr zufällig und zwecks Besuches eines kranken Verwandten aus Hamburg in ein Schweizer Lungensanatorium nach Davos verschlägt. 
Castorp ist ein etwas langweiliger und zunächst völlig unambitionierter Nachfolger Wilhelm Meisters. Ganz in der Tradition des deutschen Bildungsromans lässt Mann ihn die Erfahrung eines humanistischen Weltverständnisses machen, dessen Utopie durch den beginnenden 1. Weltkrieg am Ende des Buches einen kräftigen, wenn nicht sogar vernichtenden Schlag erhält. Hans Castorp ahnt schwach, dass das hehre Ziel nur in der Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten des Lebens zu erreichen ist; Krankheit, Tod und Apathie müssen erst ihre faszinierende Wirkung auf den Helden verlieren.
Das Buch dokumentiert mit seinen geistesgeschichtlichen, philosophischen und medizinischen Exkursen nicht nur das an der Hauptfigur vollzogene Erziehungsprogramm, sondern auch die weltanschaulichen Auseinandersetzungen, die Mann mit sich und seinem Konservativismus geführt hat. All dies wird mit einer kräftigen Portion Ironie versehen, denn schließlich und endlich landet der Held nach seinen geistigen und physischen Abenteuern immer wieder im Speisesaal: die hermetische Welt der Kranken aller Länder ist eine sinnenfreudige Tafelgesellschaft!
 

Lässt sich der "Zauberberg" überhaupt verfilmen? Auch über 30 Jahre nachdem ich beide Fassungen im Kino und im Fernsehen vergleichen konnte, komme ich beim „Zauberberg“ über ein unentschlossenes Jein nicht hinaus. Zwischen Werktreue und filmischer Nach- und Neuerzählung liegen nicht immer Welten. Filme haben eine starke Affinität zur Story und scheinen die Nacherzählung geradezu herauszufordern. Der Blick ins sogenannte Innere der Figuren bleibt versperrt, was beileibe nicht immer ein Problem ist. In Mann großem Roman finden die entscheidenden Diskurse allerdings dort statt, wo die Kamera nicht hinschauen kann: in kaskadierenden Binnenansichten, die sich fast wie ein ‚Gespräch’ zwischen dem Erzähler und seinen Figuren lesen lassen. 

Aber selbst wenn es einem Filmemacher gelingt, dies alles mitsamt der Mann'sche Symbolik , die noch weit hinter die deutsche Romantik zurückgreift, zu rekonstruieren, so wäre die Frage berechtigt, was dadurch gewonnen wäre. Niemand kann das sogenannte "Geistige und Ideelle" (Mann) ohne Brüche und Reibungsverluste in die Gegenwart überführen. Erst recht nicht aufgrund der heutzutage unvermeidbar zunehmenden Distanz zu den letzten sieben Jahren vor Beginn des 1. Weltkriegs, in denen sich die Bildungsgeschichte des Hans Castorp ereignet.
Mit etwas Glück könnte eine Verfilmung des "Zauberberg" zumindest ein wenig die geistige Verfassung einer bestimmten Zeit andeuten, die schon etwas "Edelrost" (Mann) angesetzt hat. Zumindest der längeren TV-Fassung ist dies in fast fünf Stunden doch einigermaßen gelungen. Die Kinofassung war kaum mehr als ein faulem Kompromiß.
 

Zwischen Humanismus und Gottesstaat


Im Kino gab es Mann als Fastfood, sozusagen einen "Zauberberg"-Reader: das Beste aus der Fernsehfassung. Der Film beginnt nach einigen einleitenden Bildern, darunter auch die Hippe-Episode: im Roman subtil präsentiert, bekommt man im Film die Bisexualität der Hauptfigur, die Castorp selbst gar nicht erkennt, mit dem Holzhammer serviert, damit man auch ja nicht die Phallus-Symbolik des später auch von Madame Chauchat offerierten Crayon übersieht! 
Weiter geht es mit der Ankunft des jungen Castorp (Christian Eichhorn) in Davos, wo er von seinem kranken Vetter Joachim Ziemßen (Alexander Radszun) am Bahnhof abgeholt wird. Der Vetter ist Offiziersanwärter und die Pflicht wird ihn umbringen. Zuvor aber fährt man zum Sanatorium, dem Gast wird ein Zimmer angewiesen. Die äußeren und inneren Uhren beginnen zu ticken.

Im ersten Drittel hatte auch der Kinofilm seine überzeugendsten Sequenzen, die TV-Fassung steht dem nicht nach. Geißendörfer zeichnet das historische Ambiente mit viel Liebe zum Detail nach. Die Haupt- und Nebenfiguren werden eingeführt, man trifft sich im Speisesaal und tauscht die Erfahrungen des Tages aus. Der Regisseur versteht es mit Raffinesse, dem Zuschauer, dem der Roman bekannt ist, bald ein ,Déjà-vu'-Gefühl zu vermitteln: Personen werden kurz angedeutet, Nebenhandlungen knapp skizziert, Pointen eingestreut. Es ist eine freundliche Komplizenschaft mit dem Bekannten, die sich zunächst unaufdringlich einstellt.
Christian Eichhorn, Alexander Radszun und Hans-Christian Blech als Hofrat Behrens gehören zu den Aktivposten des Films. Eichhorn spielt den Castorp mit einer Mischung aus hanseatischer Steife und kühler Neugier, und ganz am Ende wird naive junge Mann in der hermetischen Welt der Kranken einiges über sich erfahren haben. Radszun gibt den Soldaten unaffektiv, fast introvertiert - ein Mann mit Gefühlen, die er sich nicht gestattet. Und der großartige
Hans-Christian Blech ist geradezu eine Idealbesetzung für die Rolle des Hofrats: jovial, polterig, jemand, dem man Geheimnisse nichts zutraut, der aber einige hat.

Im Mittelpunkt steht aber die Love Affair: Auch in der TV-Fassung steuert Castorp einigermaßen zielstrebig auf seine Affäre mit der schönen Madame Chauchat zu. Wo bei Mann schließlich eine pathetische, aber doch auch ironische Liebeserklärung in französischer Sprache vorgetragen wird, weil die fremde Sprache für Castorp das einzige in Frage kommende Medium ist, um die Konventionen außer Kraft zu setzen, ohne sie aufzuheben, wurde bei Geißeldörfer in der Kinofassung überwiegend Deutsch parliert. In der TV-Fassung wird dagegen endlich Französisch gesprochen. Endlich.

Kommen wir zu den lauen und  halbgaren Stellen. Das Dilemma zeigte sich besonders in der Kinofassung: dort, wo die Mann'sche Ironie ausgeklammert wird, die die Figuren aus der ,halben Distanz' beobachtet, wird das Nacherzählen gelegentlich zum Zitat. Kaum mehr als Zitate sind auch Settembrini und Naphta. Der italienische Humanist Settembrini ist eine der wichtigsten Figuren im Roman. Er ist Castorps Mentor und höflich-distanzierter Freund, während Naphta erst später erscheint und eine philosophischen Tour de Force anzettelt, in der er eine im Kino der 1980er Jahre merkwürdig erscheinende Melange predigt: Sein gegen-aufklärerisches Konzept will Terror durch das Proletariat, Vernichtung des Kapitalismus und die Errichtung eines christlichen Gottesstaates, in dem Pflicht und Gehorsam die Freiheit und den Pluralismus einer liberal aufgeklärten Gesellschaft in der Kloschüssel herunterspülen.
Von der dramatischen Auseinandersetzung zwischen asketischem Terror und rationalem Humanismus blieb in der Kinofassung nur etwas Rabulistik. Und auch die TV-Fassung gesteht den Schlüsselfiguren aus Manns Romans nicht wirklich entscheidend mehr Raum und Gehör zu. Die Philosophie ist in die karierte Hose Settembrinis gerutscht. Allerdings lösen Naphtas Terrorprogramme mitsamt seinem Gottesstaat  heute
aus nachvollziehbaren Gründen eine größere Beklemmung aus als vor über 30 Jahren, obwohl auch damals Terror alles andere als ein Fremdwort war.

Wenn Rod Steiger (der in den 1980er Jahren als Weltstar von den Filmplakaten herunterblickte) als Mynheer Peeperkorn auftritt, gerät der Film allerdings aus den Fugen. Steiger spielt den Peeperkorn als grimassierenden und tobenden Irrwisch. Wer das Filmscript mit den entsprechenden Kapiteln des Romans vergleicht, erfährt auch etwas über die Grenzen dieses Films. Von dem abschließenden Gespräch Castorps mit Peeperkorn, das auch die Möglichkeit einer schwierigen Freundschaft zwischen Rivalen erkennen lässt, bleiben nur einige Zitate. Die Darstellung des fragilen Geflechts zwischen Castorp, seiner Ex-Geliebten Clawdia und deren neuen Lover, gelingt der Langfassung insgesamt aber deutlich besser. Und vom Cover der DVD blicken nun Christoph Eichhorn und Marie·France Pisier herunter. So ändern sich die Zeiten, auch die im Film.
 

Insgesamt gelungen - mit Abstrichen!


Die Verfilmung Geißendörfers lässt einen zwiespältigen Eindruck zurück. Die handwerkliche Perfektion, die ausgezeichnete Besetzung der Rollen, die bemerkenswerte Kamera von Michael Ballhaus und das Bemühen um eine gewisse Authentizität schien in der Kinofassung mit dem Zwang zu kollidieren, einen appetitlichen Happen für den Kinomarkt zu produzieren. Nichts eckte an und allzu Schwieriges wurde dem Zuschauer auch nicht zugemutet. Alles taucht irgendwie auf, Unwichtiges bleibt ungesagt. Doch mehr als Episodisches kam dabei nicht heraus.
Die über fünf Stunden lange TV-Fassung kommt dem Anspruch an eine ansprechende Verfilmung doch schon ein gewaltiges Stückchen näher. Und ganz am Ende gelingt Geißendörfer eine noch heute beklemmende Szene: Das Sanatoriumspublikum verwandelt sich in ein Tollhaus und ein antisemitischer Haßausbruch deutet nicht nur die bevorstehende Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft im Angesicht des Ersten Weltkriegs an, sondern weist mit Nachdruck bereits auf die Jahrzehnte später stattfindende Katastrophe hin, die Thomas Mann schließlich aus Deutschland vertrieben hat.
 

So gesehen ist H.W. Geißendörfers Verfilmung des „Zauberberg“ wieder einmal ein Beispiel dafür, dass die Zeit nicht nur in einem Sanatorium mit Langzeitpatienten, sondern auch bei der Wahrnehmung von Filmen interessante Ergebnisse erzeugt: Es hat sich gelohnt, diesen Film noch einmal zu sehen und wer etwas Appetit auf den Roman bekommen will, kann sich das angestaubte Fernsehjuwel ohne schlechtes Gewissen zu Gemüte führen.
 

Technik


Die Langfassung wird im Pappschuber auf drei DVDs angeboten, auf der vierten Scheibe befindet sich der Kinofilm. Das ist konsequent und dem Projekt angemessen.
Als Bonus gibt es ein Interview mit dem Regisseur sowie einen Trailer. Das beigefügte Booklet ist recht informativ, auf jeden Fall erfährt man die wichtigsten Eckdaten zum Film.
Bildtechnisch darf man allerdings nicht viel erwarten. Die tatsächliche Auflösung sieht man nur dann, wenn man die dafür erforderlicher Einstellungen an seinen Geräten vornehmen kann – im vorliegenden Fall führt dies dazu, dass man nicht einmal 4:3 sieht, sondern ein Bild in der Mitte des Screens, das je nach Größe ca. 60% ausfüllt. Zoomt man das Bild auf, dann wird zwar unten und oben der Bildschirm gefüllt, aber die Qualität erinnert dann doch stark an eine sehr gute VHS oder eine nicht ganz mittelmäßige DVD, die wie, es scheint, nicht von einer restaurierten Filmkopie abgetastet worden ist. Gerade in diesem Fall aber würde sich eine Restaurierung für eine Bluray-Fassung anbieten, denn der Film hat doch einige sehr opulente Schauwerte zu bieten.