Mittwoch, 10. Juli 2013

DVD-Review: Der Zauberberg

Regie: Hans W. Geißendörfer - Buch: H. W. Geißendörfer, nach dem Roman von Thomas Mann - Kamera: Michael Ballhaus (Farbe) - Musik: Jürgen Knieper - Darsteller: Christoph Eichhorn (Hans Castorp), Alexander Radszun (Joachim Ziemßen), Flavio Bucci (Ludovico Settembrini), Marie·France Pisier (Clawdia Chauchat), Rod Steiger (Mynheer Peeperkorn), Hans Christian Blech (Hofrat Behrens), Charles Aznavour (Naphta), Margot Hielscher (Frau Stöhr), Irm Hermann (Fräulein Engelhart) u. a. - Produktion: BRD/Frankreich/Italien 1981 - Länge: 153Min. - Verleih: United Artists (35mm) - FSK: ab 16 Jahren
 

Der letzte Versuch, den „Zauberberg“ von Thomas Mann zu verfilmen, war die gleichnamige deutsch-französisch-italienische Koproduktion aus dem Jahre 1981, bei der H.W. Geißendörfer Regie führte. Bekannt wurde die 2½ lange Kinoversion, die über Stunden lange TV-Fassung hat nun der Filmverlag Fernsehjuwelen mitsamt der Kinofassung auf den Markt gebracht. Es ist seit über 30 Jahren die erste Gelegenheit, diesen nicht nur filmhistorisch bedeutenden Versuch wiederzuentdecken.
 

Die Adaption des Molochs


"Kühn angegriffen, könnte das ein merkwürdiges Schaustück werden, eine phantastische Enzyklopädie, mit hundert Abschweifungen in alle Welt, und die um ein episches Zentrum Visionen aller Gebiete, der Natur des Sports, der Medizin und Lebensforschung, der politischen Geschichte und so weiter ordnen würde", schreibt Thomas Mann im Jahre 1928 über eine geplante, aber damals nicht zustande gekommene Verfilmung seines Romans "Der Zauberberg", den Marcel Reich-Ranicki noch heute zu den besten drei deutschsprachigen Romanen zählt. 
Kühnheit wäre allerdings nötig gewesen, um diesen voluminösen und in seiner thematisch-symbolischen Vielfalt kaum zu bändigenden Roman zu verfilmen. Lediglich nacherzählen lässt sich der "Zauberberg" nicht, denn er ist in doppelter Hinsicht ein Zeitroman: der Versuch einer geistesgeschichtlichen Reflexion deutscher Geschichte und des bürgerlichen Denkens, und ein Versuch, sich auf die Zeit selbst einzulassen, sie zu benutzen, um eine Beziehung von Erzählzeit und erzählter Zeit herzustellen. Dies hatte bereits Thomas Mann im Sinn, denn bei seinen Figuren wird der Eindruck einer Zeitlosigkeit evoziert, solange jedenfalls, bis die Zeiten sich ändern. Dies sollte auch für die Leser des Buches nacherlebbar werden – eine Zeitlosigkeit, die eigentlich mehr eine Verzerrung und Dehnung von Zeitabläufen ist. Die Zeit ist in diesem Roman ein wesentlicher Bestandteil der fiktionalen Konstruktion.
 

Hans W. Geißendörfers Film ist zunächst einmal ein Projekt mit doppeltem Boden. Hebt man den einen ab, so schaut darunter die zweite Fassung des Films hervor, die doppelt so lang ist und 1984 vom ZDF gesendet werden wurde. Auf über Zwanzig Millionen Mark beliefen sich damals die aus verschiedenen Budgets finanzierten Produktionskosten, die, wie Produzent Seitz feststellte, nur vom "Boot" übertroffen wurden. Heute sind solche Beträge Peanuts.
 

"... wollte ich versuchen, das gefilmte Geschehen in einen historisch nicht mehr genau erfaßbaren Zeitraum zu stellen, gewissermaßen die Zeit aufzulösen, ohne dabei ,Aktuelles' oder ,Gegenwärtiges' vorzugaukeln." (H. W. Geißendörfer)
 

Kranke aller Länder, vereinigt euch!


Thomas Mann erzählt in seinem Roman die langsame Bildungsgeschichte eines mittelmäßigen und bürgerlichen Ingenieurs. Hans Castorp heißt der Proband, den es mehr zufällig und zwecks Besuches eines kranken Verwandten aus Hamburg in ein Schweizer Lungensanatorium nach Davos verschlägt. 
Castorp ist ein etwas langweiliger und zunächst völlig unambitionierter Nachfolger Wilhelm Meisters. Ganz in der Tradition des deutschen Bildungsromans lässt Mann ihn die Erfahrung eines humanistischen Weltverständnisses machen, dessen Utopie durch den beginnenden 1. Weltkrieg am Ende des Buches einen kräftigen, wenn nicht sogar vernichtenden Schlag erhält. Hans Castorp ahnt schwach, dass das hehre Ziel nur in der Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten des Lebens zu erreichen ist; Krankheit, Tod und Apathie müssen erst ihre faszinierende Wirkung auf den Helden verlieren.
Das Buch dokumentiert mit seinen geistesgeschichtlichen, philosophischen und medizinischen Exkursen nicht nur das an der Hauptfigur vollzogene Erziehungsprogramm, sondern auch die weltanschaulichen Auseinandersetzungen, die Mann mit sich und seinem Konservativismus geführt hat. All dies wird mit einer kräftigen Portion Ironie versehen, denn schließlich und endlich landet der Held nach seinen geistigen und physischen Abenteuern immer wieder im Speisesaal: die hermetische Welt der Kranken aller Länder ist eine sinnenfreudige Tafelgesellschaft!
 

Lässt sich der "Zauberberg" überhaupt verfilmen? Auch über 30 Jahre nachdem ich beide Fassungen im Kino und im Fernsehen vergleichen konnte, komme ich beim „Zauberberg“ über ein unentschlossenes Jein nicht hinaus. Zwischen Werktreue und filmischer Nach- und Neuerzählung liegen nicht immer Welten. Filme haben eine starke Affinität zur Story und scheinen die Nacherzählung geradezu herauszufordern. Der Blick ins sogenannte Innere der Figuren bleibt versperrt, was beileibe nicht immer ein Problem ist. In Mann großem Roman finden die entscheidenden Diskurse allerdings dort statt, wo die Kamera nicht hinschauen kann: in kaskadierenden Binnenansichten, die sich fast wie ein ‚Gespräch’ zwischen dem Erzähler und seinen Figuren lesen lassen. 

Aber selbst wenn es einem Filmemacher gelingt, dies alles mitsamt der Mann'sche Symbolik , die noch weit hinter die deutsche Romantik zurückgreift, zu rekonstruieren, so wäre die Frage berechtigt, was dadurch gewonnen wäre. Niemand kann das sogenannte "Geistige und Ideelle" (Mann) ohne Brüche und Reibungsverluste in die Gegenwart überführen. Erst recht nicht aufgrund der heutzutage unvermeidbar zunehmenden Distanz zu den letzten sieben Jahren vor Beginn des 1. Weltkriegs, in denen sich die Bildungsgeschichte des Hans Castorp ereignet.
Mit etwas Glück könnte eine Verfilmung des "Zauberberg" zumindest ein wenig die geistige Verfassung einer bestimmten Zeit andeuten, die schon etwas "Edelrost" (Mann) angesetzt hat. Zumindest der längeren TV-Fassung ist dies in fast fünf Stunden doch einigermaßen gelungen. Die Kinofassung war kaum mehr als ein faulem Kompromiß.
 

Zwischen Humanismus und Gottesstaat


Im Kino gab es Mann als Fastfood, sozusagen einen "Zauberberg"-Reader: das Beste aus der Fernsehfassung. Der Film beginnt nach einigen einleitenden Bildern, darunter auch die Hippe-Episode: im Roman subtil präsentiert, bekommt man im Film die Bisexualität der Hauptfigur, die Castorp selbst gar nicht erkennt, mit dem Holzhammer serviert, damit man auch ja nicht die Phallus-Symbolik des später auch von Madame Chauchat offerierten Crayon übersieht! 
Weiter geht es mit der Ankunft des jungen Castorp (Christian Eichhorn) in Davos, wo er von seinem kranken Vetter Joachim Ziemßen (Alexander Radszun) am Bahnhof abgeholt wird. Der Vetter ist Offiziersanwärter und die Pflicht wird ihn umbringen. Zuvor aber fährt man zum Sanatorium, dem Gast wird ein Zimmer angewiesen. Die äußeren und inneren Uhren beginnen zu ticken.

Im ersten Drittel hatte auch der Kinofilm seine überzeugendsten Sequenzen, die TV-Fassung steht dem nicht nach. Geißendörfer zeichnet das historische Ambiente mit viel Liebe zum Detail nach. Die Haupt- und Nebenfiguren werden eingeführt, man trifft sich im Speisesaal und tauscht die Erfahrungen des Tages aus. Der Regisseur versteht es mit Raffinesse, dem Zuschauer, dem der Roman bekannt ist, bald ein ,Déjà-vu'-Gefühl zu vermitteln: Personen werden kurz angedeutet, Nebenhandlungen knapp skizziert, Pointen eingestreut. Es ist eine freundliche Komplizenschaft mit dem Bekannten, die sich zunächst unaufdringlich einstellt.
Christian Eichhorn, Alexander Radszun und Hans-Christian Blech als Hofrat Behrens gehören zu den Aktivposten des Films. Eichhorn spielt den Castorp mit einer Mischung aus hanseatischer Steife und kühler Neugier, und ganz am Ende wird naive junge Mann in der hermetischen Welt der Kranken einiges über sich erfahren haben. Radszun gibt den Soldaten unaffektiv, fast introvertiert - ein Mann mit Gefühlen, die er sich nicht gestattet. Und der großartige
Hans-Christian Blech ist geradezu eine Idealbesetzung für die Rolle des Hofrats: jovial, polterig, jemand, dem man Geheimnisse nichts zutraut, der aber einige hat.

Im Mittelpunkt steht aber die Love Affair: Auch in der TV-Fassung steuert Castorp einigermaßen zielstrebig auf seine Affäre mit der schönen Madame Chauchat zu. Wo bei Mann schließlich eine pathetische, aber doch auch ironische Liebeserklärung in französischer Sprache vorgetragen wird, weil die fremde Sprache für Castorp das einzige in Frage kommende Medium ist, um die Konventionen außer Kraft zu setzen, ohne sie aufzuheben, wurde bei Geißeldörfer in der Kinofassung überwiegend Deutsch parliert. In der TV-Fassung wird dagegen endlich Französisch gesprochen. Endlich.

Kommen wir zu den lauen und  halbgaren Stellen. Das Dilemma zeigte sich besonders in der Kinofassung: dort, wo die Mann'sche Ironie ausgeklammert wird, die die Figuren aus der ,halben Distanz' beobachtet, wird das Nacherzählen gelegentlich zum Zitat. Kaum mehr als Zitate sind auch Settembrini und Naphta. Der italienische Humanist Settembrini ist eine der wichtigsten Figuren im Roman. Er ist Castorps Mentor und höflich-distanzierter Freund, während Naphta erst später erscheint und eine philosophischen Tour de Force anzettelt, in der er eine im Kino der 1980er Jahre merkwürdig erscheinende Melange predigt: Sein gegen-aufklärerisches Konzept will Terror durch das Proletariat, Vernichtung des Kapitalismus und die Errichtung eines christlichen Gottesstaates, in dem Pflicht und Gehorsam die Freiheit und den Pluralismus einer liberal aufgeklärten Gesellschaft in der Kloschüssel herunterspülen.
Von der dramatischen Auseinandersetzung zwischen asketischem Terror und rationalem Humanismus blieb in der Kinofassung nur etwas Rabulistik. Und auch die TV-Fassung gesteht den Schlüsselfiguren aus Manns Romans nicht wirklich entscheidend mehr Raum und Gehör zu. Die Philosophie ist in die karierte Hose Settembrinis gerutscht. Allerdings lösen Naphtas Terrorprogramme mitsamt seinem Gottesstaat  heute
aus nachvollziehbaren Gründen eine größere Beklemmung aus als vor über 30 Jahren, obwohl auch damals Terror alles andere als ein Fremdwort war.

Wenn Rod Steiger (der in den 1980er Jahren als Weltstar von den Filmplakaten herunterblickte) als Mynheer Peeperkorn auftritt, gerät der Film allerdings aus den Fugen. Steiger spielt den Peeperkorn als grimassierenden und tobenden Irrwisch. Wer das Filmscript mit den entsprechenden Kapiteln des Romans vergleicht, erfährt auch etwas über die Grenzen dieses Films. Von dem abschließenden Gespräch Castorps mit Peeperkorn, das auch die Möglichkeit einer schwierigen Freundschaft zwischen Rivalen erkennen lässt, bleiben nur einige Zitate. Die Darstellung des fragilen Geflechts zwischen Castorp, seiner Ex-Geliebten Clawdia und deren neuen Lover, gelingt der Langfassung insgesamt aber deutlich besser. Und vom Cover der DVD blicken nun Christoph Eichhorn und Marie·France Pisier herunter. So ändern sich die Zeiten, auch die im Film.
 

Insgesamt gelungen - mit Abstrichen!


Die Verfilmung Geißendörfers lässt einen zwiespältigen Eindruck zurück. Die handwerkliche Perfektion, die ausgezeichnete Besetzung der Rollen, die bemerkenswerte Kamera von Michael Ballhaus und das Bemühen um eine gewisse Authentizität schien in der Kinofassung mit dem Zwang zu kollidieren, einen appetitlichen Happen für den Kinomarkt zu produzieren. Nichts eckte an und allzu Schwieriges wurde dem Zuschauer auch nicht zugemutet. Alles taucht irgendwie auf, Unwichtiges bleibt ungesagt. Doch mehr als Episodisches kam dabei nicht heraus.
Die über fünf Stunden lange TV-Fassung kommt dem Anspruch an eine ansprechende Verfilmung doch schon ein gewaltiges Stückchen näher. Und ganz am Ende gelingt Geißendörfer eine noch heute beklemmende Szene: Das Sanatoriumspublikum verwandelt sich in ein Tollhaus und ein antisemitischer Haßausbruch deutet nicht nur die bevorstehende Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft im Angesicht des Ersten Weltkriegs an, sondern weist mit Nachdruck bereits auf die Jahrzehnte später stattfindende Katastrophe hin, die Thomas Mann schließlich aus Deutschland vertrieben hat.
 

So gesehen ist H.W. Geißendörfers Verfilmung des „Zauberberg“ wieder einmal ein Beispiel dafür, dass die Zeit nicht nur in einem Sanatorium mit Langzeitpatienten, sondern auch bei der Wahrnehmung von Filmen interessante Ergebnisse erzeugt: Es hat sich gelohnt, diesen Film noch einmal zu sehen und wer etwas Appetit auf den Roman bekommen will, kann sich das angestaubte Fernsehjuwel ohne schlechtes Gewissen zu Gemüte führen.
 

Technik


Die Langfassung wird im Pappschuber auf drei DVDs angeboten, auf der vierten Scheibe befindet sich der Kinofilm. Das ist konsequent und dem Projekt angemessen.
Als Bonus gibt es ein Interview mit dem Regisseur sowie einen Trailer. Das beigefügte Booklet ist recht informativ, auf jeden Fall erfährt man die wichtigsten Eckdaten zum Film.
Bildtechnisch darf man allerdings nicht viel erwarten. Die tatsächliche Auflösung sieht man nur dann, wenn man die dafür erforderlicher Einstellungen an seinen Geräten vornehmen kann – im vorliegenden Fall führt dies dazu, dass man nicht einmal 4:3 sieht, sondern ein Bild in der Mitte des Screens, das je nach Größe ca. 60% ausfüllt. Zoomt man das Bild auf, dann wird zwar unten und oben der Bildschirm gefüllt, aber die Qualität erinnert dann doch stark an eine sehr gute VHS oder eine nicht ganz mittelmäßige DVD, die wie, es scheint, nicht von einer restaurierten Filmkopie abgetastet worden ist. Gerade in diesem Fall aber würde sich eine Restaurierung für eine Bluray-Fassung anbieten, denn der Film hat doch einige sehr opulente Schauwerte zu bieten.