Freitag, 26. Juli 2013

DVD-Review: Das Spinnennetz

Deutschland 1989, R.: Bernhard Wicki, Laufzeit: 246 Minuten, D.: Ulrich Mühe, Klaus Maria Brandauer, Armin Mueller-Stahl, Andrea Jonasson, Corinna Kirchhoff, Elisabeth Endriss, Hans Korte, Hark Bohm, Alfred Hrdlicka.

Der Verlag Fernsehjuwelen, der in den letzten Monaten mit einigen bemerkenswerten Neuauflagen (1) auf sich aufmerksam gemacht hat, hat nun einen der wichtigsten deutschen Filme der 1980er Jahre zugänglich gemacht: „Das Spinnennetz“ von Bernhard Wicki („Die Brücke“). Die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Joseph Roth wurde 1989 in Cannes für die Goldene Palme nominiert und erhielt 1990 das Filmband in Gold des Deutschen Filmpreises. Nun ist auf DVD die über vier Stunden lange Uncut-Version der ursprünglich 196 Minuten langen Kinofassung erschienen.


„Das Spinnennetz“ steckt die fünf Jahre zwischen der Novemberrevolution 1918 und dem gescheiterten Hitlerputsch im Jahre 1923 ab. Während die Kommunisten erbittert die Sozialdemokratie bekämpfen, ist auf der anderen Seite des politischen Spektrums die Weimarer Republik bereits früh zum verhassten Ziel deutschnationaler oder kaisertreue Organisationen geworden, die auch vor Gewalt und Terror nicht zurückschrecken. Während sich rasend die Inflation ausbreitet, wittern nationalistische Terrororganisationen wie die Organisation Consul die Chance, die Republik mit politischen Morden zu destabilisieren.

Eher zufällig gerät der ehemalige Leutnant Theodor Lohse (Ulrich Mühe), der sich sein Jurastudium u.a. als Hauslehrer bei einem jüdischen Bankier verdient, in dieses Milieu. Er lernt den einflussreichen Baron von Rastchuk (Armin Mueller-Stahl) kennen, der Lohse in die „Organisation“ aufnimmt, einen mysteriösen paramilitärischen Geheimbund. Lohses erste Aufgabe ist eine Undercover-Aktion, bei der er eine anarchistische Gruppe ausheben soll. Dort lehnt er den jüdischen Polizei-Informanten Benjamin Lenz (Klaus Maria Brandauer) kennen, der Informationen an alle Seiten verkauft, um der jüdischen Gemeinde in Berlin auf die eine oder andere Weise zu helfen. Lenz wird Lohses Gegenspieler.


Kein mono-kausales Geschichtsbild

„Das Spinnennetz“ ist das wuchtige Portrait einer Gesellschaft am Abgrund. Joseph Roths Roman wurde von Bernhard Wicki allerdings nicht textkonform adaptiert, sondern als Vorlage genutzt, um die schillernden politischen Verhältnisse in der jungen demokratischen Republik in eine filmische Metapher zu verwandeln. Während Roth 1923 das Heraufziehende nur erahnte und dennoch ein prophetisches Psychogramm vorlegte, kann Wicki eine historische Perspektive einnehmen: der deutsche Schauspieler und Regisseur war einige Monate in einem KZ inhaftiert und das „Spinnennetz“ kann durchaus als politisches Vermächtnis gedeutet werden. Er zeigt, was meiner Einschätzung keinem deutschen Film wirklich gelungen ist: nämlich keine gradlinige Lehrbuchanalyse des deutschen Faschismus, sondern dessen Nährboden, in dem es gärt und brodelt. Also jene Kräfte, die nach 1918 in Militär, Verwaltung und Justiz höchste Positionen bekleideten, die Demokratie aber abgrundtief hassten und wie die Spinnen in ihrem Netz auf Mitläufer und politische Feinde lauerten. Damit deutet der Film an, wie divergierend die deutschnationalen und reaktionären Kräfte nach Ende des 1. Weltkrieges gewesen sind. Ein mono-kausales Geschichtsbild lieferte Wicki nicht ab.

Lohse ist einer dieser Mitläufer, der die Linken verabscheut und konsequent antisemitisch ist, obwohl er sich eine Affäre mit der Frau seines jüdischen Arbeitsgebers gestattet. Lohse will aber kein Mitläufer bleiben, sondern ganz nach oben, egal, wo dieses „oben“ sich am Ende befindet. Er will zu den Spinnen gehören, die im Netz sitzen.

Ulrich Mühe spielt diesen Opportunisten als intelligenten, aber nicht intellektuellen Analytiker, der über Leichen geht, um in der „Organisation“ aufzusteigen. Wicki zeigt ihn zwar als monströsen Vorboten des Nationalsozialismus, aber zunächst nicht als Monster. Lohse, und das ist das Erschreckende, ist ein Mann, den der Zuschauer zunächst nicht unbedingt als abstoßend erlebt: höflich, gut aussehend, charmant. Ein Intrigant, der Gefühle hat und sich selbst noch an die eigene Kaltschnäuzigkeit gewöhnen muss. Mit anderen Worten: eine ambivalente Figur aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, fasziniert von der Macht, ein Mann, der alles andere als angepasst sein will, sondern es schafft, die Verhältnisse seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten anzupassen. Dann tötet 
Lohse und lässt töten. Über der Leiche seines besten Freundes, der als einziger von der Affäre mit einer Jüdin erfahren hat und dessen Liquidierung er mit einer gezielten Denunziation kalt inszeniert hat, bricht er weinend zusammen und erschlägt anschließend den Mörder, weil er dessen Position übernehmen will. Langsam kriecht die Kälte beim Zuschauen hoch.


Großartiger Schauspielerfilm

Mühes grandiose schauspielerische Leistung im „Spinnenetz“ war sicher ein früher Höhepunkt seiner Karriere. Überhaupt ist „Das Spinnennetz“ ein exzellenter Schauspielerfilm. Glänzend: Armin Mueller-Stahl als charmanter und gleichzeitig eiskalter Strippenzieher des Geheimbundes, auch die Nebenrollen sind hervorragend besetzt: Agnes Fink als Lohses Mutter, Peter Roggisch als Banker Efrussi, Hans Korte als Hugenberg. Klaus Maria Brandauer als Benjamin Lenz spielt eine seiner besten Rollen: er umgarnt Lohse jovial, weil er in ihm den potenten und gefährlichen Gegner früher erkennt als alle anderen. Am Ende wird er es nicht fertigbringen, Lohse zu erschießen. Dies wird ihn nicht retten.
Lenz ist mehr als ein Spitzel. Er ist der intellektuelle Antagonist Lohses, seine Einschätzung der politischen Kultur ist ebenso zynisch wie die Lohses. Den drohenden Untergang der Republik, vorangetrieben durch die unzähligen Lohses, sieht er ebenso kommen wie er die Anpassungsleistungen der arrivierten Juden, etwa des Bankiers Efrussi, angesichts des radikalen Antisemitismus als aussichtslos einschätzt. Lenz fühlt sich daher den Anarchisten näher, ebenso und fast paradoxerweise den Ostjuden, die mit zum Teil mit illusionären Vorstellungen über die deutsche Kulturnation nach Berlin gekommen sind und nun systematisch vertrieben werden oder progromähnlichen Agressionen ausgesetzt sind.
Lenz' Paktieren mit allen Seiten hält das Unvermeidliche nicht auf, will es auch nicht und wirkt wie ein Brandbeschleuniger. Brandauers spielt dies genauso chamäleonhaft wie Mühe die Figur des Theodor Lohse, eine außergewöhnliche Leistung, die dem Film die Qualität eines Politthrillers gibt.

Überzeugend ist auch das Set-Design: Dem „Spinnennetz“ gelingt es, die frühen 1920er Jahre lebendig werden zu lassen. Das Berliner Künstlermilieu mit seinen Dadaisten wird genau so treffsicher gezeichnet wie das jüdische Scheunenviertel oder die riesigen Güter im Osten des Landes. Dort wird Lohse seinen nächsten Karriereschritt machen, als er streikende polnische Wanderarbeiter mitsamt Frauen und Kindern niederkartätschen lässt.

Bernhard Wicki ist mit dem „Spinnennetz“ ein Meilenstein der deutschen Filmgeschichte gelungen. Beim Zuschauen beschleicht einen allerdings das Gefühl, dass Filme mit dieser analytischen Schärfe und konsequenten politischen Stellungsnahme gegenwärtig nicht mehr zu erwarten sind. Offenbar fehlen nicht nur Produzenten, die sich eine derartige Projektierung zutrauen, sondern auch Darsteller wie Ulrich Mühe, Klaus Maria Brandauer und Armin Mueller-Stahl, deren Präsenz derartige Filme erst glaubwürdig macht. Von den Regisseuren ganz zu schweigen. Vor einigen Jahren wäre so etwas noch Volker Schlöndorff oder Edgar Reitz zuzutrauen gewesen.

Und das Ende? Es ist der Anfang vom Ende. Auf einem Fest erfahren die führenden Mitglieder der Organisation vom Hitlerputsch. Begeisterung macht sich breit: Hitler will nach Berlin marschieren. Lohse zeigt dem Baron kühl lächelnd sein Parteiabzeichen: er ist bereits Mitglied der NSDAP. Von Ratschuk bleibt nur Staunen: er hat gerade erst einen Antrag gestellt. Als der Putsch scheitert, stellt Lohse, wieder einmal ganz der Opportunist, fest: „Was kümmert mich Hitler?“ 
Dann fügt er hinzu: „Warten wir ab!“


Appendix

Technisch hat der Verlag Fernsehjuwelen gute Arbeit geleistet. Die restaurierte Uncut-Version macht einen guten Eindruck und überzeugte mich mehr als die Neuauflage des „Zauberbergs“. Auf einer Bonus-DVD gibt es Interviews mit Elisabeth Endriss, der Frau von Bernhard Wicki. Ein Booklet mit weiteren Informationen fehlt ebenfalls nicht.

Wer sich für die literarische Vorlage interessiert, kann Joseph Roths Roman kostenlos im Projekt Gutenberg lesen: http://gutenberg.spiegel.de/buch/4266/1.

Darüber hinaus hat der Bayerische Rundfunk eine Hörfassung in zwei Teilen produziert, die man ebenfalls kostenfrei downloaden kann: http://www.br.de/radio/bayern2/programmkalender/sendung292210.html.

Und wer mehr über die nationalistischen Geheimorganisationen während der Weimarer Republik und des Dritten Reiches wissen will, sollte sich mit der Organisation Consul beschäftigen, die für die Ermordung des deutschen Außenministers Walter Rathenau verantwortlich war. Einer ihrer führenden Köpfe war Friedrich Wilhelm Heinz, der bereits vor der nationalsozialistischen Machtergreifung im rechten „Spinnennetz“ der nationalistischen Fraktionskämpfe ein Chamäleon der Macht wurde – ähnlich wie der fiktive Theodor Lohse. 
Das NSDAP-Mitglied Heinz fiel fast den Säuberungen nach dem Röhm-Putsch zum Opfer, ging zur Wehrmacht, suchte die Nähe zum Widerstand und war aktiv an der Novemberverschwörung gegen Hitler beteiligt. Unter Canaris baute er einen Agentenring auf, überlebte den 20. Juli und den Zweiten Weltkrieg, baute nach dem Krieg für die Amerikaner einen Nachrichtendienst auf und dann für das Bundeskanzleramt eine Vorläuferorganisation des Militärischen Abschirmdienstes (MAD). Erst 1953 wurde er entlassen und ging, natürlich erfolgreich, in die Werbung. Die Lohses sind überall.

(1) http://bigdocsfilmclub.blogspot.de/2013/07/dvd-review-der-zauberberg.html