Ein Phänomen verblüfft. Zumindest wenn man den Begriff mit dem Synonym „Wunder“ erklärt. Das gilt auch für die Showtime-Serie „Dexter“ (2006-2013). 33,2 Mio. Views verzeichnete die Serie in den vergangenen Wochen bei NETFLIX. Ein Wunder und ein spektakuläres Comeback.
Verblüffend ist es trotzdem, dass der von Michael C. Hall gespielte Serienmörder mit dem verinnerlichten Moralcodex von der jungen Binge Watching-Generation gerade neu entdeckt wird. Aber es muss noch andere Gründe als ein Wunder geben, denn mit „Dexter: Resurrection“ (Wiederwachen) geht nach dem Prequel „Dexter: Original Sin" das zweite Sequel nach „Dexter: New Blood" an den Start – obwohl die Hauptfigur zwischenzeitlich tot war.
Ein Highlight des Quality-TV
Die Serie „Dexter“ war aufgrund ihre hohen Erzählqualität der ersten Staffeln ein Paradebeispiel für das vielgerühmte Quality-TV. Die 1990er-Jahre galten nach den 1950er- und 1960er-Jahren als zweites „Golden Age“. Serien wie „The Sopranos“ brachen Konventionen auf (ein Mafioso als Hauptfigur). Die HBO-Serie „The Wire“ verwandelte einen Crime-Plot (Kampf gegen Drogen) in das subtile Portrait einer Stadt und ihrer kriminellen, politischen, medialen und sozio-kulturellen Probleme. Eine nette Figur wie der von Bryan Cranston gespielte Chemieprofessor Walter White verwandelte sich in „Breaking Bad“ in einen brutalen Drogenbaron, ohne die Sympathie des Publikums einzubüßen. Überhaupt präsentierte das Quality-TV formal (z.B. Flash Forwards und Flashbacks in „Breaking Bad“) und inhaltlich verblüffend innovative Storys, die alle Konventionen und die Erwartungen des Publikums über den Haufen warfen. Gelegentlich wurde sogar non-linear erzählt. Mit Erfolg. HBO vermarktete daher den Trend mit dem Credo „It’s not TV, it’s HBO.“
Die Showtime-Serie „Dexter“ bot dem Publikum die härteste Herausforderung. Sie erzählte die Geschichte eines Psychopathen und Serienmörders, der andere Psychopathen und Serienmörder methodisch umbringt. Der Hauptdarsteller Michael C. Hall ist mittlerweile 54 Jahre alt und sieht 12 Jahre nach dem Ende der Mutterserie nur ein wenig älter aus. Filmbiographisch wird Hall nicht viele Highlights hinterlassen, aber für seine beeindruckende Performance als Killer, der sein Leben im Off kommentiert und fast pausenlos tote Familienmitglieder halluziniert wie seinen Ziehvater Harry, erhielt er zu Recht viele Auszeichnungen, u.a. den Golden Globe Award als Bester Schauspieler in einer TV-Serie. 2,8 Mio. Zuschauer sahen 2013 die allerletzte Folge - ein neuer Rekord für Showtime.
Aber trotz der Mythologisierung des „Golden Age“ verschwanden stinknormale Procedurals mit ihren abgeschlossenen Episoden nicht. „Law & Order“ lief von 1990-2012, erreichte im Peak bis zu 20 Mio. Zuschauer, produzierte sechs Spinoffs, erhielt 42 Awards und ging 2022 neu an den Start. „NYPD Blue“ (1993-2005) und „CSI“ (2000-2015) waren kaum weniger erfolgreich. Kein Wunder: der Zuschauer musste nicht jede Episode sehen. Und es war auch sicher kein Zufall, dass Police Procedurals eher technikaffin waren und weniger interessiert an komplexen Charakterentwicklungen. Daher gibt es Quality-TV immer noch. Und ohne Quality-TV gäbe es keine epischen Serien mit ihrem komplexen Worldbuilding.
Vom Serienmörder zum Familienmenschen
Komplexe Charakterentwicklungen waren ebenso ein Markenzeichen des Quality-TV wie ihre horizontal erzählten Geschichten. Wie auch die Serie Dexter“, die von Showrunner Clyde Phillips (Season 1-4) und dem Autor und Producer James Manos Jr. entwickelt wurde. Die Serie basiert auf Jeff Lindsays Roman „Darkly Dreaming Dexter“, dem sieben weitere Dexter-Romane folgten. Im letzten Roman „Dexter Is Dead“ stirbt der Serienmörder. Im TV und auf den Streamingportalen lebt er weiter.
Die Mutterserie hielt ich nach acht Staffeln trotzdem für auserzählt. Das Narrativ hinterließ geschlossenen Eindruck. Allerdings war das zu Recht umstrittene Ende nicht immer logisch und nachvollziehbar.
Aber wie schaffte es die Serie zuvor, einen Killer für die Zuschauer sympathisch zu machen? Immerhin war Dexter Morgan ein Serienmörder, aber einer, der dem Codex seines Ziehvaters Harry Morgan (James Remar) folgte – nämlich nur jene zu töten, die der Justiz entkommen waren. Also „Berufskollegen“ wie den „Trinity Killer“ (John Lithgow), der von Dexter rituell getötet wurde, aber zuvor dessen Frau Rita (Julie Benz) in der 4. Staffel brutal umgebracht hatte.
Zwei Faktoren waren entscheidend für die Bindungskräfte der Hauptfigur. Zu einen faszinierte die Dexter acht Staffeln lang, weil er gespalten war. Dexter folgte seinem Drang zu töten, weil er aus seiner Sicht von einem „düsteren Begleiter“ (The Dark Passenger) kontrolliert wurde. Andererseits wurde er zunehmend selbstreflexiv und ließ als Off-Kommentator den Zuschauer an der Finsternis seiner Seele teilhaben. Der Zuschauer konnte nun Folge für Folge seine inneren Kämpfe miterleben, denn die Figur veränderte sich dramatisch.
Peu à peu entdeckte Dexter nicht nur Emotionen (was er beharrlich leugnete), sondern auch seine Sexualität. Immer häufiger spielten Frauen eine Schlüsselrolle im Leben eines Mannes, der sich als Forensiker und Blutspurenexperte des Miami Police Department eine clevere Lebensfassade aufgebaut hatte. In der achten und letzten Staffel wurde sogar etwas zu angestrengt die Nützlichkeit der Psychopathie einer Analyse unterzogen. Streckenweise hatte man das Gefühl, dass dies wie in der ersten Staffel zu einer Debatte über das Freud‘sche „Über-Ich“ und „Es“ wurde. Dort handelte Dexters Bruder als Lustmörder nicht so regelbasiert wie Dexter und musste daher sterben.
„Dexter“ war am Ende ein abgeschlossener Prozess der Menschwerdung. Aus einem in früher Kindheit traumatisierten Mann, der den Zuschauern immer wieder erzählte, dass er nicht wisse, was Emotionen sind, war ein Familienvater geworden, der einen Sohn und seine zweite große Liebe gefunden hatte - und dies war ausgerechnet eine Serienmörderin. Dexters „düsterer Begleiter“ war fast vollständig verschwunden, der Drang und die Lust zu töten, waren geringer geworden.
In der achten Staffel suchte Dexter mit Frau und Kind daher einen Neuanfang in Argentinien, Dexter musste aber in Miami bleiben, weil „sein letzter Fall“ nicht erledigt war – Oliver Saxon (Darri Ingofsson), der Sohn der ziemlich abgedrehten Psychoanalytikerin Dr. Evelyn Vogel (Charlotte Rampling), hatte seine Mutter vor Dexters Augen gekillt und bedrohte zudem Dexters Familie. Einer der vielen Serienmörder, die auf Dexters „Tisch“ landeten und dort abgestochen, zerteilt und im Meer versenkt werden? Normalerweise.
Doch „Dexter“ hatte nicht mit dem Writer’s Room gerechnet. Es schien, als wolle man die Hauptfigur dafür bestrafen, dass sie ein Mensch mit einem Gewissen geworden war und es daher nicht fertigbrachte, ihren Job zu erledigen. Stattdessen überließ Dexter Saxon der Polizei. Dies kostete Dexters Schwester Debra (Jennifer Carpenter), einer Ermittlerin der Miami Metro, das Leben. Dexter brachte nolens volens Saxon mit einem Kugelschreiber um und suchte danach den Freitod, überzeugt davon, dass alle, die er liebt, sterben werden. Stattdessen landete er in der allerletzten Szene in Oregon und wurde Holzfäller.
Nur am Rande: das Finale war wegen der Holzfäller-Szene etwas vermurkst. Jeff Lindsay lässt die Figur im allerletzten Roman sterben und Ex-Showrunner Clyde Phillips hätte die ganze Geschichte als Flashback erzählt, den Dexter erlebt, während er unmittelbar vor seiner Hinrichtung steht. Ein offenes Ende wäre dagegen die beste Alternative gewesen. Sie hätte die Story beendet, ohne die Option zu verlieren, irgendwann weiter zu machen.
Das Ende verprellte einige Fans, aber auch Kritiker reagierten wütend. „But Dexter is the most prolific serial killer in history. He deserved a fate of epic proportions. Growing a Wolverine beard and living in solitude isn’t it”, schrieb Richard Rys für Vulture.
Vielmehr vermittelte das Ende den Kommentar „Bleibe, wer du bist, sonst wirst du bestraft“ oder à la Dexter „Du kannst deiner Identität nicht entkommen, sonst geschieht Schreckliches“. Auch der Vollzug der „gerechten Strafe“ konnte erkannt werden. Dieser verquere Moralismus hätte an anderer Stelle die Erwartungen der Fans befriedigt. Als Finale war dies aber ein Rohrkrepierer. Zum einen, weil es die Charakterentwicklung der Figur ignorierte. Zum anderen, weil mit Dexters Schwester Debra eine der beliebtesten Figuren der Serie umgebracht wurde. Sowas hat auch andere Serien beschädigt. Remember „Game of Thrones“.
World-Building ist angesagt
Der Serie hat es offenbar nicht geschadet. Die Mutterserie wird aktuell neuentdeckt und fährt beachtliche Quoten ein. Das Sequel „Dexter: New Blood“ (Showtime, 2021) und das Prequel „Dexter: Original Sin“ (Paramount+, 2024) fuhren Mega-Quoten ein und sind immer noch Streaming-Hits. Und „Dexter: Resurrection“ (Paramount+ with Showtime, 2025) konnte aktuell bereits mit den ersten beiden Folgen die Kritiker überzeugen.
Die Erfolgsgeschichte von „Dexter“ hat einen weiteren Grund: die Marktstrategien der Networks und Streaminganbieter haben sich geändert. Der Trend zum Franchise à la „Star Trek“ nimmt zu. Ein komplexes Worldbuilding wie in Taylor Sheridans „Yellowstone“-Saga mit ihren Prequels scheint das Publikum mittlerweile zu favorisieren. Auch weil die Figuren mehr als nur ambivalent sind. „Dexter“ besitzt diese Qualität noch immer.
Chris McCarthy, ein Executive Producer von Paramount, ging sogar ein Schritt weiter. Ein Franchise sei so etwas wie eine moderne Mythologie und moderne Serien könne man mit den griechischen Epen wie Homers „Ilias“ vergleichen. Der Vorteil des Worldbuilding: Nicht nur die Zuschauer, sondern auch die Produzenten, die Showrunner und ihre Autoren, bewegen sich in einem vertrauten Rahmen. Ist das Worldbuilding erfolgreich etabliert, kann es im Franchise weiterentwickelt werden. Mittlerweile untersuchen die Produzenten sogar intensiv die Debatten der Fans in den unterschiedlichen Web-Foren, bevor ein Spinoff grünes Licht erhält.
„The safest approach is to offer an audience more of what they love”, erklärte die Filmkritikerin Alexis Soloski den Trend in der New York Times. Das ist witzig, denn diese Strategie setzt auf Bewährtes und weniger auf Innovation. Hat Soloski Recht, dann ist eine konservative Rezeption momentan den innovativen Erzählformen überlegen.
Das kann nicht lange gutgehen. Im Dexter-Franchise mussten die Fans bereits einiges schlucken, denn die Hauptfigur wird am Ende von „New Blood“ von seinem Sohn Harrison, der ebenfalls den „Drang“ besitzt, erschossen. Erst auf Drängen von Michael C. Hall beschäftigte man sich mit der Frage, ob es einen Weg gibt, Dexter wiederzubeleben. „Un-kill“ nannte dies Hall. Das geschah dann auch. In „Original Sin“ sah man den Schauspieler kurz, ansonsten kommentierte Hall die Ereignisse im in Off.
In „Resurrection“ ist Dexter (endlich) wieder auferstanden. Im zweiten Prequel suchten die Macher gleich in den ersten Minuten eine Verknüpfung zur Mutterserie. Dexter Morgan liegt im kleinen Kaff Iron Lake im Krankenhaus. Er ist dem Tod nur knapp entronnen. In mehreren Halluzinationen erscheinen ihm Figuren aus der Mutterserie: Miguel Prado (Jimmy Smits) und der Trinity-Killer Arthur Mitchell (John Lithgow), der Dexter vorwirft, dass er alles gleichzeitig haben wollte: Morde, Familie, Kinder. Sgt. James Doakes (Erik King) taucht ebenfalls auf, aber überraschenderweise erklärt der tote Cop seinem ewigen Widersacher, dass er im Kern ein guter Kerl sei. Auch Dexters Vater Harry Morgan (James Remar) ist anders als in „New Blood“, wo Dexter seine tote Schwester Debra halluzinierte, wieder „Berater“ seines Ziehsohns. Vielleicht will man Neueinsteiger an die Mutterserie erinnern, was den Quoten-Hype teilweise erklären würde.
Vergessen sollte man allerdings nicht, dass der neue Hype nicht nur der Hauptfigur und ihrem Darsteller zu verdanken ist. „Dexter“ hatte die besten Nebenfiguren. Das erinnert an die Erzählkunst von „Game of Thrones“. Egal, ob es Dexters Schwester Debra, der gradlinige Sgt. Angelo Batista (David Zayas), der skurrile Forensiker Vince Masuka (C.S. Lee), der zeitweilig korrupte Det. Joey Quinn (Desmond Harrington) oder der FBI-Ermittler Frank Lundy (Keith Carradine) waren – sie alle hatten ihre eigenen Geschichten, die nicht weniger komplex waren wir die der Hauptfigur. Dass man sich dabei nicht verzettelte, gehörte ebenfalls zu den erfolgreichen Bindungskräften der Serie.
Nun geht es weiter, aber zunächst nicht in Miami, sondern in New York. Ob Michael C. Hall die Story allein stemmen kann, wird man sehen.
Noch spannender ist, dass seine Figur einer erstaunlichen Neudeutung unterzogen wurde. Einige Kritiker schreiben nicht mehr über einen Psychopathen. Dexter wird vielmehr als „Vigilant“ bezeichnet, also als illegaler Ordnungshüter, was natürlich die Entwicklungsgeschichte der Figur und ihrer dissoziativen Persönlichkeitsstörung auf den Kopf stellt. Denn für Dexter waren die Momente vor der Tötung, die Tötung selbst und die kurze Befriedigung danach Motivation genug, um zu tun, was er tun musste. Harry Morgans Codex, den er zusammen mit Evelyn Vogel entwickelte, sollten den Trieb lediglich in die richtigen Bahnen lenken. Man nennt dies Instrumentalisierung.
Dexter war also alles andere als ein Vigilant. Er war ein sozialisierter Triebtäter, der sich erfolgreich dekonstruierte und neu zusammensetzte. Am Ende war Dexter mehr Mensch als Killer. Dieser Kraftakt machte ihn zu einer der spannendsten Figuren der jüngeren Seriengeschichte. Man darf gespannt sein, ob dies in „Resurrection“ so bleibt. Immerhin ist Clyde Phillips als Showrunner wieder dabei. Bei Rotten Tomatoes erreicht die neue Serie 100%.
Meine Rezension wird in einigen Wochen folgen…
Ältere Rezensionen:
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