Dienstag, 12. August 2008

Akte X - Jenseits der Wahrheit

USA / Kanada 2008 - Originaltitel: The X-Files: I want to Believe - Regie: Chris Carter - Darsteller: David Duchovny, Gillian Anderson, Amanda Peet, Billy Connolly, Xzibit, Mitch Pileggi, Adam Godley, Callum Keith Rennie - FSK: ab 16 - Länge: 104 min.

Es sind gerade einmal vierzehn Jahre seit dem Serienstart von ‚Akte X’ vergangen: Im Herbst des Jahres 1994 begann ProSieben mit der Erstausstrahlung einer Serie, die in der zweiten Hälfte der 90ziger Jahre zu einem Mega-Event und sowohl in formaler als auch inhaltlicher Hinsicht zu einem einsamen Fixstern wurde. Die Geschichte der beiden FBI-Agenten, die Fälle zu untersuchen hatten, die gegen jede offenbare Logik verstießen, eben jene X-Files, sorgte dafür, dass wir bis zum heutigen Tage mit Alien-, Monster- und Mystery-Serien versorgt werden, obwohl deren Quotenerfolg mittlerweile – zumindest in Deutschland – auf wackeligen Füßen steht. 

Akte X war die Mutter als dieser Serien und ihre besten Episoden waren so brillant geschrieben und mit ironischen Verweisen auf Zeitgeschichtliches ausgestattet, dass der wöchentliche TV-Abend mit Fox Mulder und Dana Scully zu einem Straßenfeger wurde. Mit episodenübergreifenden Plots zwangen die X-Files nicht nur zu einer kontinuierlich und zeitlich korrekten Ausstrahlung der Staffeln, sondern führten auch eine mäandernde Mythologie ein, ohne deren Formprinzip ähnlich bahnbrechende Serien wie „24“ oder „Heroes“ nicht möglich gewesen wären. 

Das richtige Ende ist irgendwo da draußen
Mit den Staffeln 4 und 5 erreichte die Serie qualitativ ihren Höhenpunkt, 1998 folgte mit „Akte X – der Film“ der für Fans längst überfällige Kinostart des ersten X Files-Spielfilms („The X Files“), vier Jahre später wurde die Serie mit der Doppelfolge 200 und 201 der neunten Staffel beendet, ohne dass es Chris Carter und seinen Mitstreitern gelungen wäre, die X-Files überzeugend enden zu lassen. 
Sicher nicht grundlos: David Duchovny war lange zuvor ausgestiegen und als Fox Mulder nur noch selten zu sehen, er, der als skeptisch Suchender und doch vom Irrationalen und von der Existenz weltumspannender Verschwörungen Überzeugter letztlich der Motor gewesen war, der auch Dana Scully (Gillian Anderson) als methodisch prüfende Rationalistin dazu brachte, um seinen Fixstern zu kreisen: der Theorie einer weltweiten Regie-rungsverschwörung, deren Ziel es ist, eine geplante Alien-Invasion zu unterstützen, um im Gegenzug das Leben der Verschwörer zu retten. Duchovny war nicht wirklich zu ersetzen und den Geschichten, die ohne ihn erzählt werden mussten, ging in den letzten beiden Staffeln bald die Luft aus.
Am Ende entgingen der wieder aufgetauchte Mulder und Scully in einer fraglos schwachen Doppelfolge nach einem Schauprozess der fälligen Liquidierung durch die Verschwörer und tauchten unter, während die Wahrheit und vermutlich auch die Aliens immer noch irgendwo da draußen auf sie warteten. 
Als dann alles vorbei war, lehnte man sich verstört im Fernsehsessel zurück: war dieses Finish eine Rechtfertigung für neun Staffeln, die sich zuletzt neben den „Monster of the week“-Episoden immer mehr im undurchsichtigen Gestrüpp ihrer Mythologie verheddert hatten? 

Langweilig und reaktionär
Nun, sechs Jahre nach dem Serienende, noch einmal Akte X im Kino, die große Chance also, das Versäumte nachzuholen, alles rund zu machen. Herausgekommen ist dabei eine riesige Luftblase, ein jämmerliches und klägliches Scheitern, das auch für mich beispiellos ist. Man kann ‚The X-Files – I want to believe’ eine Menge vorwerfen, aber nichts ist unerträglicher als ein Film, der die Beziehung zu seinem eigenen Serien-Kosmos ruppig durchtrennt und so tut, als hätte es ihn nicht gegeben. 
Von der Erkenntnis getrieben, dass bereits eine halbe Dekade nach dem Ende der Serie das juvenile und medien-geschichtslose Publikum nichts mehr über Alien-Mensch-Hybriden und Supersoldaten weiß und die älteren Zuschauer im Vermarktungsgeschäft eine zu vernachlässigende Größe darstellen, haben Chris Carter und Frank Spotnitz ein Drehbuch verfasst zu einem Film verfasst, der nicht einmal als Single-Episode funktioniert: lausig, langweilig und leider auch streckenweise reaktionär angesichts Mulders Glaube an einen religiösen und gleichzeitig magischen Katholizismus, irgendwo da draußen angesiedelt zwischen diesem waberndem Mystizismus und einer dünnen Love Story. Summa summarum etwas, was wir einfach nicht verdient haben.

Das Drehbuch ist ein Desaster
Die Handlung beginnt mit einer Parallelmontage: während in West-Virginia ein FBI-Suchtrupp im tiefsten Schnee etwas Unbekanntes sucht und dabei von einem mysteriösen Mann geleitet wird, sehen wir, wie eine FBI-Agentin nachts überfallen wird. Kurz bevor sie verschleppt wird, fügt sie einem ihrer unbekannten Häscher noch eine schwere Armverletzung mit einem Gartengerät zu. Schnitt: der etwas strubbelige Anführer des FBI-Suchtrupp findet auf dem riesigen Schneefeld einen abgetrennten Arm mit den glei-chen Verletzungen: die Parallelmontage war gar keine, die zeitliche Dissonanz führt den Zuschauer geradewegs zu einer Pointe, deren Spannungspotential so gering ist, dass man zum ersten Mal stutzt - es wird nicht das letzte Mal sein, denn entscheidende Stei-gerungen hat der Film danach nicht mehr zu bieten.

Angeführt wurde der FBI-Suchtrupp von einem ‚Seher’, dem ehemaligen Priester Father Joe. Da die für den Fall verantwortlichen FBI-Agenten dessen übersinnlichen Fähigkeiten nicht ganz trauen, zieht man zwei Experten hinzu: Scully und Mulder. Dazu muss der Zuschauer allerdings die Continuity der letzten Staffel komplett vergessen, die uns die beiden Alienjäger als Verfolgte gezeigt hat: abgetaucht in New-Mexico, ausgestoßen und mit dem Tode bedroht.
Schwamm drüber: Scully geht mittlerweile in einem katholischen Krankenhaus einer Tätigkeit als Ärztin nach, Ex-FBI-Agent Mulder sitzt bärtig und ungepflegt zu Hause und beklebt die Wände mit Zeitungsartikeln, als würde er immer noch X-Files auswerten. Klar: bald rasiert er sich und sieht fast wieder so aus wie früher. Das ist auch alles.

Der Plot gerät danach komplett unter die Räder. Der Grund ist einfach: das von Chris Carter und Frank Spotnitz verfasste Drehbuch ist schwach und (offen gesagt) anfängerhaft. Bereits mit der Ausgangssituation haben sich die X-Files-Routiniers schwer verhoben und die Szenen, in denen sie dem Publikum erklären wollen, wie ihre beiden Helden ticken, basieren auf der fatalen Annahme, dass der mit den X-Files nicht sonderlich vertraute Zuschauer eine singuläre Handlung sehen soll, für die er wenig Vorkenntnisse benötigt. Gleichzeitig und trotzdem müssen auch die Serienbuffs genug Footage erhalten, um die Figuren als vertraut zu erleben. Diese Schieflage kann nicht gut gehen: abgese-hen davon, dass weite Strecken der Handlung auf schwer erträgliche Weise von Scully und Mulder mit langweiligen Beziehungsdialogen zugequatscht werden, läuft die Skizzierung der beiden Protagonisten lediglich darauf hinaus, dass Mulder immer noch der ‚I want to believe’-Sonderling ist, während Scully mit eisernem Rationalismus das Spirituelle nur als allerletzte Möglichkeit in Betracht zieht. Mehr ist von den X-Files nicht übrig geblieben: zwei gesichts- und geschichtslose Helden in einer Story, die nicht mal eine ist.
Das funktioniert nach der Exposition so: Mulder ist bald der einzige, der während der Suche nach der verschwundenen FBI-Agentin dem merkwürdigen Seher Father Joe glaubt (der übrigens ein pädophiler Priester war, bevor er sich in jungen Jahren selbst kastrierte (!)); Scully durchlebt derweil an ihrem Arbeitsplatz eine Krise, weil sie bei einem tödlich erkrankten Jungen eine neue Therapie riskieren will, während die von Geistlichen geleitete Krankenhausverwaltung den Patienten in ein Hospiz abschieben will. 
Diese Nebenhandlung gestattet Carter einige nette Einstellungen auf dämonisch wirkenden Priester und Krankenschwestern, ohne dass so recht klar wird, was das Ganze mit dem Kern der Geschichte zu tun hat. Geradezu grotesk ist die Szene, in der Scully allen Ernstes nach ‚stam cell therapy’ googelt, um sich über ihre nächsten Behandlungsschritte zu informieren. Bedeutend besser wird das Niveau übrigens nicht.

Reden wir nicht um den heißen Brei herum: Spätestens nach dieser Szene weiß man, dass das Erfolgsduo Carter/Spotnitz, das einige der besten Episoden der X-Files geschrieben hat, wahrhaftig von allen guten Geistern verlassen wurden. Anders formuliert: die Jungs können nicht mehr schreiben. 
Wer die ersten zwei Drittel des Films noch einigermaßen ertragen hat, gibt spätestens dann auf, wenn der Film ohne besondere Spannungsmomente lange vor dem Ende seine Pointe verrät: eine geheime Organisation, die mit Organhandel ihr Geld verdient, hat die FBI-Agentin entführt. Ihr Anführer, ein russischer (!) Dr. Frankenstein, experimentiert nebenbei mit der Verpflanzung von Köpfen. Die FBI-Agentin soll als Spenderkörper für einen kranken Mann herhalten, der in seiner Jugend von Father Joe missbraucht wurde. 

Wir erinnern uns: selbst in einigen schwachen ‚Monster of the week’-Folgen der X-Files hatte Chris Carter mit klassischer Spannungsdramaturgie dafür gesorgt, dass das Monströse und Unheimliche die Phantasie ausufern ließ, bevor es seinen letzten grandiosen Auftritt erhielt. In „Akte X – I want to believe“ wird der Kern des Plots so weit an die Peripherie geschoben, dass man Ende überrascht ist, dass es ihn überhaupt gegeben hat. Und von einem grandiosen Auftritt des Monströsen kann nun wirklich nicht die Rede sein: man sieht es kaum und wie ein laues Lüftchen haucht der Film sein Leben aus. Als hätten Carter/Spotnitz gewusst, dass das wirklich Unheimliche irgendwo da draußen wartet, 
aber kaum in ihrem Film, dürfen Scully und Mulder schließlich den albernsten Filmkuss der Seriengeschichte vorführen.

Ein Film, der nie entstehen durfte
Mich hat angenehm überrascht, wie viele Kritiker sich weniger mit dem Film als vielmehr intensiv mit der Serie auseinandergesetzt haben: von der ideologiekritischen Analyse bis hin zu einfühlsamen Beschreibungen der komplexen Lichtregie und den aufwändigen Sets der neun Staffeln wurde ein Bogen gespannt, der nostalgisch, aber auch erhellend wirkte, da er eben jenes historische Moment in die die Medienrezeption einbringt, die wir benötigen. Nur wer eine Geschichte hat, kann in der Gegenwart Bedeutungen erkennen.

Anscheinend wurde diese Verortung von Carter und Spotnitz geleugnet. Zweifellos befan-den sie sich in einer Zwickmühle: nämlich jener, zwischen Kommerz und Tradition ent-scheiden zu müssen. Sie entschieden sich für Ersteres und werden wohl auch dort auf den Bauch fallen. In den Charts sieht es jedenfalls nicht gut aus. Auf den Punkt gebracht sieht ihr Film so aus, als hätten bereits vor der ersten Scriptseite eine rigide Streichliste angelegt. Und das Ergebnis war klar: nach über sechs Jahre nach der letzten Folge kennt bestimmt kein Mensch mehr den „Raucher“, die „Supersoldaten“, „Deep Throat“ oder den „Alien Bounty Hunter“ – machen wir also einen Film, der so tut, als hätte es die X-Files nie gegeben.

Wie erbärmlich.

Noten: BigDoc = 6