Samstag, 22. September 2018

„The Endless“ - ein Kultfilm?

Den Begriff „Kultfilm“ zieht man schnell aus der Werkzeugtasche des Filmkritikers. Je häufiger man ihn benutzt, desto öfter bestraft einen dann die (Film-)Geschichte. Justin Bensons und Aaron Moorheads dritter Spielfilm hat allerdings das Zeug dazu, immer wieder neu entdeckt zu werden.
 
Die Brüder Justin (Justin Benson) und Aaron (Aaron Moorhead) haben ihr perspektivloses Leben als Reinigungskräfte satt. Finanziell kommen sie auf keinen grünen Zweig und ihr Erfolg bei Frauen wird meistens dadurch vereitelt, dass Justin beim ersten Date davon quatscht, dass sie vor Jahren einer UFO-Selbstmord-Sekte angehörten. Diesen Mythos hat Justin aber nach der Flucht aus einer ländlichen Kommune in Südkalifornien für eine lokale TV-Station selbst in die Welt gesetzt. Als Justin und Aaron von der Kommune eine geheimnisvolle Videocassette erhalten, drängt Aaron darauf, den Glücksort seiner Jugendjahre erneut aufzusuchen. Justin ist skeptisch, stimmt aber einem kurzen Trip zu. Dass sie in das Zentrum der Hölle reisen, ahnen sie nicht.




Wir drehen uns alle im Kreis

Benson und Moorhead erlangten bereits mit „Resolution“ (2012) in Nerdkreisen eine gewisse Berühmtheit. Das Buch stammte von Justin Benson, der zusammen mit Aaron Moorhead Regie führte. Benson und Moorhead spielten höchstpersönlich als sogenannte UFO-Kult-Mitglieder in dem Film in Nebenrollen mit. Die Hauptdarsteller Peter Cilella als Michael Danube und Vinny Curran als Chris Daniels tauchen nun in „The Endless“ erneut auf - in Nebenrollen. Auch andere Querverweise deuten an, dass „The Endless“ ein Sequel von „Resolution“ sein könnte.
2014 folgte mit „V/H/S: Viral“ eine Horrorfilm-Anthologie, im gleichen Jahre wurde der Romantic Body Horror-Film „Spring“ (2014) von Guillermo del Toro als „bester Horrorfilm der Dekade“ geadelt. Die besonderen Talente Justin Benson und Aaron Moorhead wurden nicht nur durch die hohen Ratings von Rotten Tomatoes zertifiziert, sondern auch durch die Ratlosigkeit einiger Konsumenten in den Foren eines großen E-Tailers: sie überstürzten sich mit dem Hinweis darauf, dass dies die langweiligsten Filme aller Zeiten seien und beteuerten, die DVDs und Blurays so tief im Mülleimer versenkt zu haben, dass niemand sie mehr finden können. Aussagen mit hoher Beweiskraft: die Filme müssen folglich außergewöhnlich gut sein. 


Tatsächlich trifft dies für „The Endless“ zu. Recht betreten muss der Verfasser dieser Zeilen einräumen, nie zuvor von Justin Benson und Aaron Moorhead gehört zu haben. „The Endless“ schaffte es, diese Wissenslücke zu korrigieren. Als Kultfilm würde ich den Film (noch) nicht bezeichnen, aber „The Endless“ ist eine Indie Produktion, die aus einem schmalen Budget dank Phantasie und Kreativität eine Menge herausholt. 
Eine profane Botschaft lässt sich dem Film ohne Weiteres entnehmen: Wir drehen uns alle im Kreis.


Auch wenn das nicht immer stimmt, so ist die Message zumindest witzig erzählt worden. Alle anderen Aussagen sind in tieferen Schichten des Films verborgen. Man sollte sich mit Weird Fiction und H.P. Lovecraft auskennen, um sie ans Tageslicht zu befördern.
Das ist zunächst nicht leicht, denn die Kommune lässt den Zuschauer zunächst nichts Böses ahnen. Die Mitglieder um ihren Anführer Hal (Tate Ellington) leben friedlich zusammen und verdienen sich den Lebensunterhalt mit dem Brauen von Bier. Auch sonst ist außer gesunder Ernährung und einer freundlichen Atmosphäre nichts Sektiererisches zu entdecken. Erstaunlich ist nur, dass alle so aussehen wie vor zehn Jahren, als Justin mit seinem Bruder das Weite gesucht hat.
Komisch ist dagegen eine „Erprobung“ am nächtlichen Lagerfeuer. Dazu wird ein Seil ins Dunkle geschleudert, das danach aber auf mysteriöse Weise von einer unbekannten Kraft festgehalten wird. Auch mit Zaubertricks wollen die Kommunarden ihre alten Freunde beeindrucken. Ein Baseball wird senkrecht in den nächtlichen Himmel geworfen, kehrt aber erst nach über einer Minute zurück und landet punktgenau in Justins Hand. Spätestens zu diesem Zeitpunkt sollten die beiden Brüder das Camp schleunigst verlassen.


Tun sie aber nicht. Auch nicht, als Hal erklärt, dass ein geheimnisvolles Wesen alle Mitglieder des Camps festhält. Justin macht sich danach alleine auf den Weg. Aaron will bleiben. Justin verläuft sich jedoch und trifft zufällig auf den Einsiedler „Shitty Carl“ (James Jordan), der sich gerade erhängt hat und wütend seine Leiche anstarrt.

„Wir sind wie Ratten, die Geschichten erzählen, damit das Scheißding sich amüsieren kann“, erklärt Carl seinem ungebetenen Gast. „Man muss sich umbringen, bevor es wieder losgeht. Oder das Ding macht es für dich, und das ist schlimmer als du es dir vorstellen kannst. Aber die Camper mögen es lieber, wenn es das Ding für sie tut. Für sie ist es sogar etwas Heiliges!“
Abgesehen davon, dass James Jordans („Wind River“) Auftritt in „The Endless“ zu den darstellerischen Höhepunkten in dem Film zählt, wird Justin nach diesem Gespräch klar, dass in der Region unterschiedliche Zeitblasen existieren, die alle, die in ihnen gefangen sind, nicht mehr entkommen lassen. Die Zeitschleifen (Loops) sind unterschiedlich lang und wer Pech hat, stirbt nach zehn Sekunden und beginnt wieder von vorne.
 Auf seiner nächtlichen Exkursion begegnet Justin dann auch noch Michael und Chris, den beiden Figuren aus „Resolution“, die sich in einem Loop befinden, der mit Michaels Besuch bei Carl beginnt und deutlich später damit endet, dass Michael das Haus ansteckt, in dem sie danach verbrennen, bevor wieder alles von vorne beginnt.
Aaron, der sich auf die Suche nach seinem Bruder begeben hat und ihn inmitten der Ödnis findet, will trotz der grausamen und völlig unverständlichen Motive und Regeln der Entität in der friedvollen Kommune bleiben. Als sie in einem verschlossenen Raum alte Filmbänder und VHS-Tapes finden, wird ihnen klar, dass die Kommune in einem Loop lebt, der sehr lange dauert und sich bereits seit vielen Jahrzehnten wiederholt. Offenbar erinnern sich alle danach an das zuvor Erlebte.


Der Sinn für das Un- und Übersinnliche

„Ich habe die Theorie, dass es aus unmöglichen Farben gemacht ist“, mutmaßt der unerschütterliche Hal, der immer wieder an Formeln arbeitet, die er auf eine Schiefertafel schreibt. Er will dem grausamen Wesen mit Mathematik auf die Pelle rücken. 
Unmögliche Farben, darüber hat H.P. Lovecraft 1927 in „The Colour Out of Space“ geschrieben, einer Kurzgeschichte, in der die Figuren die Anwesenheit einer außerirdischen Existenz an den unbeschreibbaren Farben erkennt, die von ihr verbreitet werden.
Lovecrafts Technik, das Unfassbare in Worte zu fassen, bestand aus geschicktem Weglassen. Aber man erfuhr durch Lovecrafts theatralischen Schreibstil, wie das Unsinnliche auf die Figuren wirkt. So wurde auch beim Leser die Wirkung verstärkt, nämlich zu spüren, dass man nicht alles beschreiben und verstehen kann, einen dabei aber das nackte Entsetzen packen konnte. 
Lovecraft fehlten nicht etwa die Worte, er demonstrierte grandios, dass zu viele Details seine Kreaturen entzaubern würden. Er zeigte aber auch, dass wir nicht die Sinnesfähigkeit haben, um seine extraterrestrischen Dämonen aus anderen Welten unbeschadet wahrnehmen zu können. Deshalb werden viele der Figuren in Lovecrafts Erzählkosmos umstandslos wahnsinnig.


„The Endless“ verfährt ähnlich. Wahnsinnig wird man beim Zuschauen nicht, nur etwas verwirrt. Natürlich kann man sich bei der Deutung des Films auf metaphysische Debatten zurückziehen und dabei aushandeln, ob es in dem Film um ewiges Leben als Hölle (Sartre) oder um die Freiheit geht, sich selbst umzubringen (Camus). Doch Sartre und Camus hatten bei diesen Fragen sicher nicht an Höllen und Tode gedacht, die in endlosen Zeitschleifen stattfinden.
Aber wie bei Lovecraft fehlen den Protagonisten in „The Endless“ die Sinne, um das Andere in seiner wahren Gestalt wahrzunehmen. In einer hübschen Szene wird daher gekifft, um diese Schwäche zu kompensieren. Und dabei sieht man gelegentlich auch etwas mehr als vorher, etwa drei Monde, die die „Erhebung“ der Kommunarden ankündigen. Und das ist ein grusliger Euphemismus. Er hält die Opfer allerdings nicht davon ab, darüber zu spekulieren, was es ist, das sie regelmäßig umbringt. „Der Trick ist“, erklärt Michael, „keine Angst zu haben vor etwas, das so schrecklich ist.“ Deshalb zeigt er dem unheimlichen Wesen auch den Stinkefinger. Danach bringt er sich trotzdem um…


„The Endless“ erzählt diese strange Geschichte mit einer gehörigen Portion Humor. Denn der Film ist auch ein Buddy Movie, in dem sich zwei Brüder zoffen, weil der Ältere dem Jüngeren vorschreiben will, wie ihr gemeinsames Leben auszusehen hat und der Jüngere einfach nur ein einziges Mal das letzte Wort haben will. „Es ist völlig egal, ob man in einem Loop gefangen ist oder seinen Scheißalltag immer wiederholen muss“, konstatiert Aaron. Benson und Moorhead spielen das Gezoffe übrigens recht gut, offenbar gehört die Schauspielerei ebenfalls zu ihren Talenten.



Noch einige Zumutungen

Die Sache ist aber etwas komplizierter. „The Endless“ bietet bei der Rezeption wie eine Zwiebel mehrere Deutungshäute an. Dass wir alle uns im Kreis bewegen, ist sicher die banalste. Aber auch eine Portion Medienkritik deutet der Film an, denn wie auch schon früher in den Filmen von Benson und Moorhead sind Medien ziemlich manipulativ, etwa wenn die Entität mit Fotografien die beiden Brüder verwirren und an den Ort binden will, der ihren regelmäßigen Tod bedeuten würde. Dass wir unsere Sinne entwickeln (oder auch nicht), wenn wir verwickelte Filme sehen, bietet sich daher als weitere Deutung an.

Am wichtigsten bei dieser Zwiebel-Strategie scheint mir etwas anderes zu sein. Die meisten Menschen verstehen nicht das Geringste über die flüchtigen Erkenntnisse der modernen Physik, die nach jedem Erkenntnisschritt neue Rätsel aufgeben. Dazu gehören auch die absurden Konsequenzen der Quantenphysik, die man sich sinnlich partout nicht vorstellen kann. Dass man darüber entscheidet, was real wird, wenn man es vermisst, ist allerdings auch eine außerordentliche Zumutung, die Richard Feynman, einer der bedeutendsten Physiker unserer Zeit, mit den Worten zusammenfasste: „Ich glaube, ich kann mit Sicherheit sagen, dass niemand die Quantenphysik versteht.“ Pech gehabt, denn mindestens ein Drittel unserer Hauhaltgeräte würde ohne das Verständnis der kleinsten Teile nicht funktionieren.
Wenn also in „The Endless“ beim Zaubertrick mit dem Baseball der Ball nicht gleich wieder zu Boden fällt, so ist das entweder Magie oder das temporäre Aushebeln der Gravitation. Da wir aber keine Sinne für das vermeintlich Übersinnliche haben, schauen wir nur dumm und entscheiden uns für eine naturwissenschaftliche Erklärung, die uns in einem Sci-Fi-Horrorfilm nicht immer weiterhilft.

Denn dumm schauen wir auch beim Doppelspalt-Experiment aus, wenn uns ein Physiker erklärt, dass ein Elektron sich gleichzeitig durch zwei Spalte bewegt. Diese sogenannte Superposition bringt bekanntlich auch Katzen um, was uns Ernst Schrödinger vergeblich zu erklären versuchte. Ob sie tot oder lebendig ist, sehen wir erst, wenn wir nachschauen. Zuvor war das arme Tier beides: tot und lebendig.
Ehrlich gesagt: Hier hilft dem Höhlenmenschen des 21. Jh. nur noch das Leugnen. Das klappt auch dann, wenn wir unseren ersten Quantencomputer bei Aldi gekauft haben. Versprochen.


Mittlerweile weiß man noch weniger, was Zeit ist. „The Endless“ macht aus diesem Umstand einen Film. Anschließend hat man (hoffentlich) trotz aller Limitierungen eine neue Sinneswahrnehmung erlebt. Wenn nicht, weiß man immerhin, wie sich Nicht-Wissen anfühlt. Nicht gut. Dass die Geschichte dabei nur wenig Rücksicht auf das nimmt, was die moderne Physik weiß – geschenkt. Feynman sagte dazu: „Ich hoffe, Sie können die Natur einfach als das akzeptieren, was sie ist: absurd.“
Vielleicht hilft das dabei, in „The Endless“ das höllische Vergnügen zu finden, das der Film bietet. Egal, ob Kultfilm oder nicht: ein hochintelligenter Spaß ist „The Endless“ auf jeden Fall. Am Ende bleibt nur eine Frage offen: Wie konnten die beiden Brüder so lange in der Kommune leben, ohne dabei in einem Loop zu landen? Sie sind rechtzeitig gefahren, erklärten Benson und Moorhead. Im Übrigen seien sie sich noch nicht klar darüber, wie sie die Quantenphysik in ihrem nächsten Film unterbringen.


BigDoc = 1,5


The Endless – USA 20127 – Regie: Justin Benson und Aaron Moorhead – Buch: Justin Benson – Produktion: Justin Benson und Aaron Moorhead – Kamera: Aaron Moorhead – Schnitt: Justin Benson und Aaron Moorhead – D.: Justin Benson und Aaron Moorhead, Tate Ellington, James Jordan, Peter Cillela, Vinny Curan u.a.