Montag, 20. Juli 2015

Inherent Vice

Bei Versicherungsexperten wird mit Inherent Vice ein Gefahrenpotential bezeichnet, gegen das man sich nicht wirksam versichern kann, da es zur Natur der Sache gehört. Im gleichnamigen Film von Paul Thomas Anderson versucht die Hauptfigur erst gar nicht, eine Police abzuschließen. Es würde nicht helfen. Der Zuschauer sollte es auch nicht versuchen.

Spoiler

Vorsicht, es ist sehr unwahrscheinlich, dass irgendjemand die Story versteht. Achtung, das ist auch gar nicht beabsichtigt. Wenn man sich darauf einstellt, dass die Sequenzen – für sich genommen – irgendwie konventionellen Erzählungen ähneln, der mäandernde Plot insgesamt aber ein wahnwitziges und ohne Notizzettel kaum noch nachzuvollziehendes Geflecht von Verzahnungen zwischen den Erzählkernen herstellt, dann akzeptiert man (vielleicht), dass „Inherent Vice“ nach 60, spätestens nach 75 Minuten, für einen Sudden Death beim Zuschauer sorgt. In seinem Kopf.
 Also lehnt man sich besser zurück, schaltet von Anfang an das am TATORT sozialisierte Krimi-Gehirn ab und gibt sich den Bildern hin. Anschließend tröstet man sich damit, dass man die erste Verfilmung eines Buches von Thomas Pynchon gesehen hat. Immerhin versichern jene, die es gewagt haben, Bücher des Papstes der amerikanischen Post-Moderne zu lesen, ziemlich glaubwürdig, dass Paul Thomas Anderson alles richtig gemacht hat.
„Inherent Vice“ ist eine Literaturverfilmung.


Noch eine Literaturverfilmung

Als Howard Hawks vor fast 70 Jahren die mittlerweile immer noch als Klassiker geltende Raymond Chandler-Verfilmung „The Big Sleep“ ins US-Kino brachte, gab es den film noir bereits als etabliertes Genre.
„The Big Sleep“ fasste aber die gesamte Grammatik des Genres in einem schwer zugänglichen Tutorial elegant zusammen. Dies gipfelte darin, dass selbst Chandler eine Frage nach einem Handlungselement mit dem lapidaren „Keine Ahnung“ quittierte. Das adaptierte Script hatte u.a. der weltberühmte Romancier William Faulkner geschrieben. Geholfen hat es nicht. Dass weder Zuschauer noch Macher am Ende erklären konnten, wer denn nun wen umgebracht hat, konnte aber nicht verhindern, dass man Humphrey Bogart und Lauren Bacall auch heute noch gerne zuschaut. 


Das Private Eye und die saudummen Fragen

Komisch: auch nach dem erwähnten Sudden Death im Kopf schaut man in P.T. Andersons neuem Film auch Joaquin Phoenix gerne dabei zu, wie er sich im L.A. der frühen 1970er Jahre durch ein bizarres Komplott durchwuselt. Phoenix ist (wieder einmal) in Bestform. Seine Figuren tasten sich ja oft völlig naiv durch die Handlung, sind aber tatsächlich ziemlich intelligent und meistens sehr melancholisch.
Phoenix’ Figur Larry „Doc“ Sportello kann man guten Gewissens allerdings nicht als Nachfolger von Philip Marlowe bezeichnen. Der trank Bourbon und spielte Schachpartien nach und wenn er draußen Schreie hörte, dann machte er nicht die Fenster zu und den Fernseher lauter. Er ging raus und schaute nach. Weil er ein Romantiker sei, erklärte er den Lesern.
Ob das der richtige Begriff ist? Geschenkt. Marlowe war ein zynischer Moralist mit romantischer Ader, Letzteres dann, wenn es um seine seltenen Love Affairs ging.
„Doc“ Sportello ist dagegen ein ständig bekiffter Ex-Hippie, der auch mal gerne eine „Nase nimmt“, um nicht ungesellig zu wirken. Zynisch ist er nicht. Dämlich auch nicht, obwohl er manchmal so aussieht, besonders dann, wenn er saudämliche Fragen stellt. Geht auch eigentlich nicht anders, wenn seine Ex Shasta (Katherine Waterson) ihn bittet, ihren Liebhaber Mickey Wolfmann zu suchen. Wolfmann (Eric Roberts) ist ein Jude, der es liebt, sich mit Nazis zu umgeben, ein Immobilienhai, der etliche Millionen abgezockt hat und dem plötzlich einfällt, dass Wohnen eigentlich umsonst sein sollte. Planen Wolfmanns Frau und deren Liebhaber nun, den jähen Schub von sozialem Altruismus mit einer Einlieferung in die Psychiatrie zu beenden?
Und wie überhaupt soll man vernünftige Fragen stellen, wenn das schwarze Black Guerilla Family-Mitglied Tariq Khalil (Michael K. Williams, u.a. „The Wire) „Doc“ wenig später darum bittet, nach einem Mann zu suchen, der ihm Geld schuldet. Der wiederum ist ausgerechnet ein Mitglied der Aryan Brotherhood und ein Bodyguard von Wolfmann.
Klar, dass „Doc“ irgendwann am Strand neben der Leiche des Gesuchten aufwacht. Und als würde dies alles nicht reichen, soll das kiffende Private Eye auch noch nach dem für tot erklärten Saxofonisten Coy Harlingen (Owen Wilson) suchen, der aber nicht tot ist, sondern für das LAPD als Informant arbeitet und mehr über merkwürdige Gigs als über seine Arbeit brabbelt.

Alles hängt irgendwie zusammen, man versteht bald (wie gesagt) nur noch Bahnhof, aber es kommt noch schlimmer. Denn da ist noch das chinesische Bordell mit einer speziellen Muschi-Nummer, das wiederum zu einem „vertikal integrierten“ mächtigen Drogenring gehört, der sich möglicherweise als Bundesorganisation pädophiler Zahnärzte tarnt (oder auch nicht) und in Wirklichkeit aus einer Mittelstandsfamilie mit zwei Kindern besteht.

Es gibt folternde Nazis, einen Kredithai, der als Killer für die Cops arbeitet, und dann ist da noch Josh Brolin als depressiv-soziopathischer Cop Christian „Bigfoot“ Bjornsen.
„Bigfoot“ hasst „Doc“ abgrundtief, was allerdings die Basis für eine vertrauensvolle Freundschaft ist. Sie gipfelt darin, dass „Bigfoot“ gerne mal bei „Doc“ vorbeischaut und dabei rituell die Tür eintritt. 

Alle, Brolin voran, spielen toll, keine Frage. Aber bitte keine Psychologie, lieber Zuschauer, sie hilft nicht wirklich dabei zu verstehen, was in den Köpfen dieser Pynchon-Figuren wirklich vorgeht. Denn es gibt ja noch viele exzellent besetzte Nebenrollen, die wirkungsvoll verhindern, dass man in diesem Labyrinth den Ariadne-Faden findet. Zum Beispiel Benicio del Toro, der einen auf Seerecht spezialisierten Anwalt spielt und für „Doc“ immer wieder einige lose herabhängenden Komplottfäden zusammenfügt, ohne dass der Zuschauer anschließend schlauer ist. Und schließlich noch Reese Witherspoon, die in „Inherent Vice“ mehr oder weniger gelegentlich eine Staatsanwältin spielt und bekifften Sex mit „Doc“ hat. 

Einige Figuren sieht man vielleicht 60 Sekunden, andere etwas länger, dafür tauchen diese nie wieder auf und „Docs“ scheinbar saudumme Fragen lehren den Zuschauer recht schnell, dass er selbst besser keine stellen sollte. Weil es nichts zu interpretieren gibt, auch wenn Anderson en passant Richard Nixon im TV zeigt und andere Querverweise zeigen, dass nach den Manson-Morden und dem Aufkommen der harten Drogen die alte kalifornische Hippie-Kultur völlig auf den Hund gekommen ist.


Was Gottes Namen soll das?

Von einem Kritiker sollte man zu Recht ein Urteil erwarten. Also: Ich habe mich extrem gelangweilt. Bis zur letzten Einstellung. Ich erinnere mich dagegen gerne daran, dass Andersons „Magnolia“ (1999) im Filmclub gefeiert wurde, obwohl keiner verstand, warum es Frösche geregnet hat. Oder vielleicht doch, denn die Frösche passten exzellent zu dem traurigen Feeling der traurigen Figuren. 

There Will be Blood“ liegt im Mittelfeld meiner Top 100, die Upton Sinclair-Verfilmung (2007) ist eines der herausragenden Meisterwerke des neuen Kino-Jahrhunderts und eine historisch verwurzelte visionäre Bebilderung des kommenden Finanz-Kapitalismus. „The Master“ brachte Joaquin Phoenix und Philip Seymour Hoffman in Top-Form auf die Leinwand, blieb aber irgendwie kalt.

„Inherent Vice“ ist eine weitere Literatur-Adaption P. T. Andersons und wenn man sich fokussiert, dann gefällt die Art, wie Anderson den film noir gegen den Strich bürstet, ohne ihn lächerlich zu machen. Aber dennoch weht ein kühler Wind durch den Film, etwas Störrisches und Unzugängliches. Das sagt man auch Thomas Pynchons Büchern nach.
Anderson hat das Kunststück fertiggebracht, mit seinem Script das Unmögliche zu schaffen, nämlich einen dieser Roman zu verfilmen. Kongenial sagt man dazu anerkennend. Wenn man Pynchon und seine als ‚paranoiden Realismus’ gefeierten Amerika-Bilder mag.
Ästhetische Eleganz und eine formidable Ensembleleistung stimmen in „Inherent Vice“. Auch der häufig als unfilmisch verschriene Filmerzähler (die weibliche Stimme im Off gehört der Pynchon-Figur Sortilège) passt ziemlich gut, vergleichbar mit dem Ich-Erzähler in Chandlers Marlowe-Romanen. Fühlbares Interesse für die Figuren kommt dennoch nicht auf. Möglicherweise hat sich Anderson der literarischen Weltsicht Pynchons zu sehr ergeben und seine eigene Stimme dabei unterdrückt.

Paul Thomas Anderson selbst schwebte eine Mixtur aus der Mike Hammer-Verfilmung „Kiss Me Deadly“ (1955) von Robert Aldrich, dem Chandler-Roman „The Long Goodbye“ und dem Cheech & Chong-Film „Up in Smoke“ (1978) vor. Wer diese Vorlagen kennt, wird einräumen, dass Anderson den Elfmeter nicht verschossen hat.
Mir persönlich lag das Schicksal von Cheech & Chong weniger am Herzen, dafür aber um so mehr der in Deutschland massiv gekürzte Film von Robert Aldrich, der zu den letzten denkwürdigen Exemplaren des film noir gehörte und durchaus als Vorläufer der Paranoia Movies gelten kann. „Kiss Me Deadly“ war filmästhetisch nicht nur dank Ernest Laszlos Kamera ein Meisterwerk der abgründigen Stimmungen, ebenfalls nicht leicht zu verstehen, aber aufgeladen mit nachvollziehbaren Konnotationen, die sich assoziativ erschlossen. Beim zweiten oder dritten Mal.

Diese Option hält „Inherent Vice“ zumindest nicht ohne Weiteres bereit. Vielleicht erschließt sich der Film, wenn man auch ihn mehrmals sieht und gleich zu Beginn einfach alle Erwartungen über Bord wirft und einfach loslässt. Und vielleicht fängt man dabei mit dem Ende an. Denn dort, in der letzten Einstellung, finden „Doc“ und Shasta wieder zueinander und „Doc“ versichert seiner Ex, dass all dies nicht bedeute, dass sie wieder zusammen sind. Worauf Shasta lapidar erwidert: „Of course not.“

Man muss wohl akzeptieren, dass Andersons Arithmetik so funktioniert: 1+1=4.

Inherent Vice – UDSA 2014 – Regie, Buch: Paul Thomas Anderson – Laufzeit: 148 Minuten – D.: Joaquin Phoenix, Josh Brolin, Katherine Waterson, Owen Wilson, Reese Witherspoon, Benicio del Toro, Joanna Newsom (Narrator), Michael K. Williams, Eric Roberts, Jena Malone – Altersfreigabe: ab 16 Jahren – Der Film ist seit dem 25. Juni 2015 auf DVD und Bluray und bei einigen VoD-Anbietern erhältlich.

Anm.: Unterhaltsam ist der Kommentar der Jugendmedienkommission zur Altersfreigabe. Beachtet man, dass der Film nahezu gewaltfrei und nahezu sexfrei ist, so überrascht die gegenteilige Beurteilung der JMK auch angesichts von aktuellen Filmen, die ab 12 Jahren freigegeben worden sind. Möglicherweise wurde der Umstand, dass die Hauptfigur „eigentlich immer ‚breit’ ist“ zum Stolperstein. Außerdem würden Straftaten „zum Teil nicht geahndet“ und dass die Hauptfigur in Notwehr eine Person erschießt, die ihn foltern
lässt (was dezent bebildert wird) und umbringen will, hat für sie „keine rechtlichen Folgen.“ Selbst die Filmlänge wurde als Grund für die Entscheidung angegeben, den Film erst ab 16 Jahren freizugeben.

Noten: BigDoc = 3,5

Mittwoch, 8. Juli 2015

Bluray-Review: Jupiter Ascending

Verrisse sind eine spannende Sache. Besonders dann, wenn sie über die Wachowskis geschrieben werden. Hatte der Blätterwald nicht schon bei „Cloud Atlas“ mächtig gerauscht und sich grandios geirrt? Wiederholt sich nun das Bashing der Matrix-Schöpfer? Nein, diesmal ist die Kritik berechtigt. Es helfen weder Nachsicht noch tiefes Grübeln: „Jupiter Ascending“ ist ein misslungener Film.

Ein eisernes Gesetz der Hollywood-Blockbuster lautet: Die Story muss jeder verstehen können. Erinnern wir uns an „Star Wars“, aber bitte nur an den ersten Teil der Trilogie. Die Mixtur aus Space Opera und Märchen zog 1977 Millionen ins Kino, erwirtschaftete über 20 Milliarden US-Dollar und sorgte dafür, dass Sci-Fi fortan ohne Fantasy nur selten den Rubel rollen ließ. In der Geschichte mit dem simplen Stickmuster gab es eine liebe Prinzessin, die vor einem bösen Imperator gerettet werden musste, den quasi-religiösen Jedi-Novizen als romantischen Helden, den klassischen Schurken Darth Vader, der zu Pop-Ikone wurde, heldenhafte Weltraum-Schmuggler – und zwei lustige Droiden, die dafür sorgten, dass sich Millionen Kids Zahlen- und Buchstabenfolgen wie R2-D2 und C-3PO mühelos merken konnten, obwohl ihnen das im Chemieunterricht so gut wie nie gelang. Und wer erinnert sich nicht gerne an den sarkastischen, aber charakterfesten Han Solo und seinen  Kampfgefährten Chewbacca, jenes pelzige nette Monster, das grunzende Laute von sich gab, wenn es den Rasenden Falken in Bewegung setzen musste? Und obwohl es im Großen und Ganzen um nicht weniger als das Schicksal des ganzen Universums ging, hatte George Lucas die intrigenreiche Geschichte so gut im Griff, dass man den Überblick selten verlor.

In „Jupiter Ascending“ wird beim Start eines Raumschiffs auch gegrunzt, aber bei den Wachowskis sitzt kein Riesenaffe an der Steuerkonsole, sondern ein elefantenähnliches Alien mit Mini-Rüssel. Himmel, das ist geklaut. Und wie! Und obwohl „Krieg der Welten“ vier Jahrzehnte auf dem Buckel hat, kann es jeder erkennen, denn die Lucas-Saga ist im TV gefühlte 100 Mal gelaufen. 
Geklaut ist auch sonst recht viel im neuen Film von Lana und Andy Wachowski. Das könnte man verschmerzen, aber nach unzähligen Star Wars-Billigheimern und einem dröhnenden Prequel, mit dem George Lucas seine Saga fast vor die Wand gefahren hat, sollten Lana und Andy Wachowski eins gelernt haben: Simple Blockbuster-Geschichten erzählt man zunächst einfach, dann witzig und schließlich originell. Stimmt das Grundgerüst, dann darf es auch ruhig etwas komplexer werden.


Simple Geschichte, kompliziert und humorlos erzählt

Mit der Originalität ist es aber so eine Sache: Keiner (außer vielleicht Marvel) traut sich, wenn die Budgets astronomisch hoch sind. Stattdessen: Prequels, Sequels, Remakes. Selbst Arnie muss als T-800 zurück auf die Leinwand, anstatt seine Rente zu genießen. Muss man das ernst nehmen? 
Die Wachowskis erzählen in „Jupiter Ascending“ eine Geschichte, die es bierernst meint, den Erzählfluss unnötig mit etlichen retardierenden Momenten ausbremst, sich dabei geheimnisvoll gibt und Erklärungen nur widerstrebend herausrückt, obwohl alles doch ganz trivial ist. Dabei wird einem Eklektizismus gefrönt, der ohne jedwedes Augenzwinkern Genres persifliert, Versatzstücke zusammenklaubt und seine simple Geschichte so kompliziert erzählt, dass die meisten der staubtrockenen Dialoge offenbar nur dazu verwendet wurden, damit sich die Protagonisten gegenseitig den Plot erklären können.

Und der funktioniert so: die Putzfrau Jupiter (Mila Kunis) wird von Area 61-Aliens überfallen und findet heraus, dass sie genetisch zu einer mächtigen galaktischen Dynastie gehört. Ihr Genom gleicht exakt dem der verstorbenen Matriarchin des adeligen Hauses der Abrasax und als Reinkarnation der Toten gehört Jupiter nun höchstpersönlich die Erde. Wow! Diese wiederum möchten die untereinander konkurrierenden Erben des königlichen Hauses Abrasax in ihren Besitz bringen. Die dekadente Brut verdient ihr Geld damit, andere Spezies zu züchten, um aus ihren Körpern ein gewinnbringendes Serum zu produzieren. Und bald sollen die Menschen fällig sein, sie werden „abgeerntet“, was garantiert letal ist. Die Handelsware heißt „Zeit“ und sie ist teuer, denn die aus den Wirtskörpern gewonnene Substanz garantiert eine ziemlich lange Lebensdauer – wenn man nicht zwischendurch umgebracht wird. Und dies scheint in einem imperialen Universum, das einen rabiaten Kapitalismus in Reinkultur pflegt, ziemlich oft der Fall zu sein.

Jupiter, die Putzfrau, ist ihren bösen Widersachern dabei natürlich im Weg. Sie ist tatsächlich so etwas wie die Star Wars-Prinzessin der Wachowskis. Den romantischen Helden gibt Channing Tatum als aus Wolf und Mensch gezüchteter Supersoldat Caine Wise, paradoxerweise mit dem Charme eines Eisblocks. Die Han Solo-Rolle übernimmt der völlig unterforderte Sean Bean, der den Ex-Soldaten Stinger Apini spielt. Und der ist einem Gen-Splice aus Mensch und Biene entsprungen und deutlich verschlagener als Harrison Ford.
Einen Darth Vader gibt es nicht, dafür gleich mehrere Bösewichter. Sie entstammen dem royalen Haus von Abrasax, wobei Eddie Redmayne mit durchaus gelungenem Overacting den soziopathischen Balem gibt („Die Evolution wurde erschaffen für ein einziges Bestreben: das Erzeugen von Profit“). Balem, der auf dem Planten Jupiter eine der größten Raffinerien für das lebensverlängernde Serum betreibt, muss bei der Jagd auf Jupiter mit seinen verschlagenen Geschwistern Titus (Douglas Booth) und Kalique (Tuppence Middleton) konkurrieren.


Das Design rettet den Film nicht

Der Rest ist eine Melange. Alle jagen Jupiter: Alien-Shapeshifter, die ganz nebenbei das Kurzzeitgedächtnis der Menschen löschen können, damit diese sich nicht daran erinnern können, dass während der zahlreichen Schlachten ganze Städte in Schutt und Asche gelegt werden - und in einem wahren Affentempo über Nacht wieder aufgebaut werden! Dann gibt es Killer-Kommandos aus sprechenden Riesenechsen, die qualvoll zu Tode gefoltert werden, wenn sie ihren Job nicht machen. Und mittendrin saust Caine Wise mit Anti-Gravitationsstiefel wie der Silver Surfer durch die Nacht, um immer wieder die königliche Putzfrau zu retten.

Was man dabei zu sehen bekommt, ist ein intrigengeschwängerter Comic-Mix, der visuell an TV- und Kino-Schmonzetten wie „Buck Rogers“ oder „Flash Gordon“ erinnert, Filme, die bereits Stars Wars als Vorlage dienten und deren skurrile Ästhetik in den 1930er Jahren vielleicht noch durchgegangen ist. Etliche Dekaden später kann man das Ganze nun noch einmal sehen, nur ist das Production Design diesmal dank eines dreistelligen Millionen-Etats dramatisch gepimpt worden.
Und das sieht ziemlich gut aus: Der Retro-Look von „Jupiter Ascending“ verblüfft durch beeindruckende Schauwerte, auch weil die Wachowskis für ihren Film eine ausgefeilte Kameratechnik entwickelten – Panocam arrangiert ein an einem Hubschrauber befestigtes Set von mehreren Kameras, mit denen alle Aktionen in einem 180 Grad-Winkel gecovert werden konnten. Auch sonst bietet „Jupiter Ascending“ berauschende visuelle Schauwerte. Die Settings sind bis ins kleinste Detail finessenreich geplant worden, Kostüme und Masken setzen teilweise neue Standards. Und was Kameramann John Toll aus der Geschichte herausholt, ist streckenweise überwältigend. Wie liebevoll man am Detail gearbeitet, zeigt auch die bizarr anmutende Flotte von Raumschiffen, die ästhetische Traditionen des Genres einpflegen, etwa wenn ein Schiff bis in filigrane Einzelheiten an die Nautilus aus „20.000 Meilen unter dem Meer“ erinnern soll.

Nur können die Production Values den Film nicht retten. Trotz der prächtigen Bilder wurde alles wieder einmal zu hastig geschnitten, das Tempo ist atemlos, die Effekte sind gnadenlos oversized. Und viele prachtvolle Settings sind nur für einige Sekunden zu sehen, dann geht die atemlose Hatz weiter.
Das Schlimmste: „Jupiter Ascending“ gelingt es nicht, die Zuschauer emotional auf seine Seite zu ziehen. Das Love Interest funktioniert nicht, Mila Kunis und Channing Tatum wirken so glaubwürdig wie ein Sack Flöhe. Die technisch perfekte Space Opera ist einfach zu kalt, zu kalkuliert, die Figuren sind Abziehbilder. Ironie hätte viel bewirkt, es musste ja nicht der Brachialhumor von „Guardians of the Galaxy“ sein, aber eine Prise Marvel hätte das Schlimmste verhindert.
In „X-Men: Days of Future Past“ demonstriert Bryan Singer sehr elegant, wie man komplexe Geschichten nachvollziehbar erzählt (das gilt übrigens auch für den „Rogue Cut“).
Stattdessen wirkt der Film der Wachowskis so, als hätten sich ein durchgeknallter Tim Burton mit einem besoffenen Terry Gilliam (und der spielt sogar in einer Nebenrolle mit) und einem bekifften Luc Besson zusammengesetzt, um à la „Brazil“ oder „The Fifth Element“ einen bizarren Figurenpark zu entwickeln, dessen schrille Optik mit einigen kafkaesken Randnotizen abgeschmeckt wird. Wenn sich Jupiter in einer Sequenz mit verknöcherten Bürokraten herumschlagen muss, damit ihre Ansprüche als Adelige testiert werden, so wirkt dieser bemühte Spaß eher wie alberner Bruch. Comic Relief gewollt, aber nicht gekonnt.

„Jupiter Ascending“ hat vieles aus dem endlosen Fundus des Genres zusammengetragen, aber nur wenig Originelles ist den Machern gelungen. Tragisch ist daran, dass eben dies von dem Wunsch getragen wurde, wirklich originell zu sein. Lana Wachowski hat durchaus das Dilemma erkannt: „Wir sind nun mal Kinder des 20. Jahrhunderts. Daher zieht uns die Originalität an. Wir würden uns wünschen, dass es mehr originelles Material geben würde. Merkwürdig ist, dass wir uns in unserem Kulturkreis fast über Nacht von dem Gedanken der Originalität abgewandt haben. Menschen, die (...)  in unserem Alter sind (...), die denken so. Menschen, die später zur Welt kamen, suchen das Bekannte, das Familiäre.“

Sieht man davon ab, dass es eben das US-Kino ist, dass in den letzten zehn Jahren kräftig dazu beigetragen hat, liegt hier ein Irrtum vor. Originell ist eben nicht, wenn man Bekanntes schöner und spektakulärer zeigt als die Vorgänger. Originell sind eine gute Geschichte, ein gutes Script, gute Darsteller, die gute Dialoge bekommen – das ist das Kino, von dem wir gegenwärtig entwöhnt werden.
Dass sich Lana und Andy Wachowski mit „Jupiter Ascending“ an Homers Odyssee orientiert haben und ihnen dabei auch noch eine galaktische Version des „Wizard of Oz“ vorschwebte (Mila Kunis spielte in „Oz the Great and Powerful“, 2013), hört sich zwar gut an, aber der intellektuelle und künstlerische Anspruch erweist sich diesmal als heiße Luft. Es scheint eher so zu sein, als hätten sich die Wachowskis nach der philosophisch codierten Matrix-Trilogie und der kongenialen Literaturverfilmung von „Cloud Atlas“ (zusammen mit Tom Tykwer) diesmal vorgenommen, eine Geschichte auf dem Niveau eines Zwölfjährigen zu produzieren, dem man 100 Millionen Dollar in die Hand drückt, damit er seine infantilen Phantasien mit Pomp und Getöse ins Bild setzen kann: Schaut her – wir können es auch weniger intellektuell. Aber es sieht geil aus!
Und am Ende putzt die Heldin wieder eine Kloschlüssel.


Special Features

Besprochen wurde die 2D-Fassung. Die Bluray ist mit AVC MPEG-4 codiert, die Aspect Ratio beträgt 2.40:1 (16:9). Wir erwartet genügt das Bild gehobenen Ansprüchen und erreicht streckenweise sogar Referenzqualität. Hervorzuheben ist die ausgezeichnete Detailzeichnung. Die Farben hinterlassen einen guten Eindruck. Warner hat der deutschen Fassung zudem eine verlustfreie DTS-HD 7.1.-Abmischung spendiert, was keine Selbstverständlichkeit ist.

Das Bonusmaterial der Single Disc-Edition umfasst etliche Making of-Featurettes zwischen 5 und 9 Minuten. Neben den üblichen Elogen, in denen Darsteller und Mitarbeiter der Filmcrew die tolle Atmosphäre und die Genialität der Wachowskis feiern, gibt es gelegentlich gute Einblicke in die Entwicklung des Konzept-Designs und die Realisierung der Effekte und Stunts. Hervorzuheben ist besonders „The Wachowskis: Minds over Matter“, wo Lana Wachowski einiges zu ihrem Verständnis von Originalität zu berichten hat.

Die Extras:
•    Bullet Time Evolved
•    Caine Wise: Interplanetary Warrior
•    From Earth to Jupiter (And Everywhere in Between)
•    Jupiter Ascending: Genetically Spliced
•    Jupiter Jones: Destiny is Within Us
•    The Wachowskis: Minds over Matter
•    Worlds Within Worlds Within Worlds

Jupiter Ascending – USA 2015 – Regie/Buch: Lana und Andy - Kamera: John Toll - Blu-ray Start: 25.06.2015 - FSK: ab 12 - Laufzeit: 127 min -  Darsteller: Mila Kunis, Channing Tatum, Douglas Booth, Sean Bean, Eddie Redmayne, Terry Gilliam, James D'Arcy, Maria Doyle Kennedy, Vanessa Kirby, Tuppence Middleton.

Noten: BigDoc, Melonie = 4,5