Montag, 20. Juli 2015

Inherent Vice

Bei Versicherungsexperten wird mit Inherent Vice ein Gefahrenpotential bezeichnet, gegen das man sich nicht wirksam versichern kann, da es zur Natur der Sache gehört. Im gleichnamigen Film von Paul Thomas Anderson versucht die Hauptfigur erst gar nicht, eine Police abzuschließen. Es würde nicht helfen. Der Zuschauer sollte es auch nicht versuchen.

Spoiler

Vorsicht, es ist sehr unwahrscheinlich, dass irgendjemand die Story versteht. Achtung, das ist auch gar nicht beabsichtigt. Wenn man sich darauf einstellt, dass die Sequenzen – für sich genommen – irgendwie konventionellen Erzählungen ähneln, der mäandernde Plot insgesamt aber ein wahnwitziges und ohne Notizzettel kaum noch nachzuvollziehendes Geflecht von Verzahnungen zwischen den Erzählkernen herstellt, dann akzeptiert man (vielleicht), dass „Inherent Vice“ nach 60, spätestens nach 75 Minuten, für einen Sudden Death beim Zuschauer sorgt. In seinem Kopf.
 Also lehnt man sich besser zurück, schaltet von Anfang an das am TATORT sozialisierte Krimi-Gehirn ab und gibt sich den Bildern hin. Anschließend tröstet man sich damit, dass man die erste Verfilmung eines Buches von Thomas Pynchon gesehen hat. Immerhin versichern jene, die es gewagt haben, Bücher des Papstes der amerikanischen Post-Moderne zu lesen, ziemlich glaubwürdig, dass Paul Thomas Anderson alles richtig gemacht hat.
„Inherent Vice“ ist eine Literaturverfilmung.


Noch eine Literaturverfilmung

Als Howard Hawks vor fast 70 Jahren die mittlerweile immer noch als Klassiker geltende Raymond Chandler-Verfilmung „The Big Sleep“ ins US-Kino brachte, gab es den film noir bereits als etabliertes Genre.
„The Big Sleep“ fasste aber die gesamte Grammatik des Genres in einem schwer zugänglichen Tutorial elegant zusammen. Dies gipfelte darin, dass selbst Chandler eine Frage nach einem Handlungselement mit dem lapidaren „Keine Ahnung“ quittierte. Das adaptierte Script hatte u.a. der weltberühmte Romancier William Faulkner geschrieben. Geholfen hat es nicht. Dass weder Zuschauer noch Macher am Ende erklären konnten, wer denn nun wen umgebracht hat, konnte aber nicht verhindern, dass man Humphrey Bogart und Lauren Bacall auch heute noch gerne zuschaut. 


Das Private Eye und die saudummen Fragen

Komisch: auch nach dem erwähnten Sudden Death im Kopf schaut man in P.T. Andersons neuem Film auch Joaquin Phoenix gerne dabei zu, wie er sich im L.A. der frühen 1970er Jahre durch ein bizarres Komplott durchwuselt. Phoenix ist (wieder einmal) in Bestform. Seine Figuren tasten sich ja oft völlig naiv durch die Handlung, sind aber tatsächlich ziemlich intelligent und meistens sehr melancholisch.
Phoenix’ Figur Larry „Doc“ Sportello kann man guten Gewissens allerdings nicht als Nachfolger von Philip Marlowe bezeichnen. Der trank Bourbon und spielte Schachpartien nach und wenn er draußen Schreie hörte, dann machte er nicht die Fenster zu und den Fernseher lauter. Er ging raus und schaute nach. Weil er ein Romantiker sei, erklärte er den Lesern.
Ob das der richtige Begriff ist? Geschenkt. Marlowe war ein zynischer Moralist mit romantischer Ader, Letzteres dann, wenn es um seine seltenen Love Affairs ging.
„Doc“ Sportello ist dagegen ein ständig bekiffter Ex-Hippie, der auch mal gerne eine „Nase nimmt“, um nicht ungesellig zu wirken. Zynisch ist er nicht. Dämlich auch nicht, obwohl er manchmal so aussieht, besonders dann, wenn er saudämliche Fragen stellt. Geht auch eigentlich nicht anders, wenn seine Ex Shasta (Katherine Waterson) ihn bittet, ihren Liebhaber Mickey Wolfmann zu suchen. Wolfmann (Eric Roberts) ist ein Jude, der es liebt, sich mit Nazis zu umgeben, ein Immobilienhai, der etliche Millionen abgezockt hat und dem plötzlich einfällt, dass Wohnen eigentlich umsonst sein sollte. Planen Wolfmanns Frau und deren Liebhaber nun, den jähen Schub von sozialem Altruismus mit einer Einlieferung in die Psychiatrie zu beenden?
Und wie überhaupt soll man vernünftige Fragen stellen, wenn das schwarze Black Guerilla Family-Mitglied Tariq Khalil (Michael K. Williams, u.a. „The Wire) „Doc“ wenig später darum bittet, nach einem Mann zu suchen, der ihm Geld schuldet. Der wiederum ist ausgerechnet ein Mitglied der Aryan Brotherhood und ein Bodyguard von Wolfmann.
Klar, dass „Doc“ irgendwann am Strand neben der Leiche des Gesuchten aufwacht. Und als würde dies alles nicht reichen, soll das kiffende Private Eye auch noch nach dem für tot erklärten Saxofonisten Coy Harlingen (Owen Wilson) suchen, der aber nicht tot ist, sondern für das LAPD als Informant arbeitet und mehr über merkwürdige Gigs als über seine Arbeit brabbelt.

Alles hängt irgendwie zusammen, man versteht bald (wie gesagt) nur noch Bahnhof, aber es kommt noch schlimmer. Denn da ist noch das chinesische Bordell mit einer speziellen Muschi-Nummer, das wiederum zu einem „vertikal integrierten“ mächtigen Drogenring gehört, der sich möglicherweise als Bundesorganisation pädophiler Zahnärzte tarnt (oder auch nicht) und in Wirklichkeit aus einer Mittelstandsfamilie mit zwei Kindern besteht.

Es gibt folternde Nazis, einen Kredithai, der als Killer für die Cops arbeitet, und dann ist da noch Josh Brolin als depressiv-soziopathischer Cop Christian „Bigfoot“ Bjornsen.
„Bigfoot“ hasst „Doc“ abgrundtief, was allerdings die Basis für eine vertrauensvolle Freundschaft ist. Sie gipfelt darin, dass „Bigfoot“ gerne mal bei „Doc“ vorbeischaut und dabei rituell die Tür eintritt. 

Alle, Brolin voran, spielen toll, keine Frage. Aber bitte keine Psychologie, lieber Zuschauer, sie hilft nicht wirklich dabei zu verstehen, was in den Köpfen dieser Pynchon-Figuren wirklich vorgeht. Denn es gibt ja noch viele exzellent besetzte Nebenrollen, die wirkungsvoll verhindern, dass man in diesem Labyrinth den Ariadne-Faden findet. Zum Beispiel Benicio del Toro, der einen auf Seerecht spezialisierten Anwalt spielt und für „Doc“ immer wieder einige lose herabhängenden Komplottfäden zusammenfügt, ohne dass der Zuschauer anschließend schlauer ist. Und schließlich noch Reese Witherspoon, die in „Inherent Vice“ mehr oder weniger gelegentlich eine Staatsanwältin spielt und bekifften Sex mit „Doc“ hat. 

Einige Figuren sieht man vielleicht 60 Sekunden, andere etwas länger, dafür tauchen diese nie wieder auf und „Docs“ scheinbar saudumme Fragen lehren den Zuschauer recht schnell, dass er selbst besser keine stellen sollte. Weil es nichts zu interpretieren gibt, auch wenn Anderson en passant Richard Nixon im TV zeigt und andere Querverweise zeigen, dass nach den Manson-Morden und dem Aufkommen der harten Drogen die alte kalifornische Hippie-Kultur völlig auf den Hund gekommen ist.


Was Gottes Namen soll das?

Von einem Kritiker sollte man zu Recht ein Urteil erwarten. Also: Ich habe mich extrem gelangweilt. Bis zur letzten Einstellung. Ich erinnere mich dagegen gerne daran, dass Andersons „Magnolia“ (1999) im Filmclub gefeiert wurde, obwohl keiner verstand, warum es Frösche geregnet hat. Oder vielleicht doch, denn die Frösche passten exzellent zu dem traurigen Feeling der traurigen Figuren. 

There Will be Blood“ liegt im Mittelfeld meiner Top 100, die Upton Sinclair-Verfilmung (2007) ist eines der herausragenden Meisterwerke des neuen Kino-Jahrhunderts und eine historisch verwurzelte visionäre Bebilderung des kommenden Finanz-Kapitalismus. „The Master“ brachte Joaquin Phoenix und Philip Seymour Hoffman in Top-Form auf die Leinwand, blieb aber irgendwie kalt.

„Inherent Vice“ ist eine weitere Literatur-Adaption P. T. Andersons und wenn man sich fokussiert, dann gefällt die Art, wie Anderson den film noir gegen den Strich bürstet, ohne ihn lächerlich zu machen. Aber dennoch weht ein kühler Wind durch den Film, etwas Störrisches und Unzugängliches. Das sagt man auch Thomas Pynchons Büchern nach.
Anderson hat das Kunststück fertiggebracht, mit seinem Script das Unmögliche zu schaffen, nämlich einen dieser Roman zu verfilmen. Kongenial sagt man dazu anerkennend. Wenn man Pynchon und seine als ‚paranoiden Realismus’ gefeierten Amerika-Bilder mag.
Ästhetische Eleganz und eine formidable Ensembleleistung stimmen in „Inherent Vice“. Auch der häufig als unfilmisch verschriene Filmerzähler (die weibliche Stimme im Off gehört der Pynchon-Figur Sortilège) passt ziemlich gut, vergleichbar mit dem Ich-Erzähler in Chandlers Marlowe-Romanen. Fühlbares Interesse für die Figuren kommt dennoch nicht auf. Möglicherweise hat sich Anderson der literarischen Weltsicht Pynchons zu sehr ergeben und seine eigene Stimme dabei unterdrückt.

Paul Thomas Anderson selbst schwebte eine Mixtur aus der Mike Hammer-Verfilmung „Kiss Me Deadly“ (1955) von Robert Aldrich, dem Chandler-Roman „The Long Goodbye“ und dem Cheech & Chong-Film „Up in Smoke“ (1978) vor. Wer diese Vorlagen kennt, wird einräumen, dass Anderson den Elfmeter nicht verschossen hat.
Mir persönlich lag das Schicksal von Cheech & Chong weniger am Herzen, dafür aber um so mehr der in Deutschland massiv gekürzte Film von Robert Aldrich, der zu den letzten denkwürdigen Exemplaren des film noir gehörte und durchaus als Vorläufer der Paranoia Movies gelten kann. „Kiss Me Deadly“ war filmästhetisch nicht nur dank Ernest Laszlos Kamera ein Meisterwerk der abgründigen Stimmungen, ebenfalls nicht leicht zu verstehen, aber aufgeladen mit nachvollziehbaren Konnotationen, die sich assoziativ erschlossen. Beim zweiten oder dritten Mal.

Diese Option hält „Inherent Vice“ zumindest nicht ohne Weiteres bereit. Vielleicht erschließt sich der Film, wenn man auch ihn mehrmals sieht und gleich zu Beginn einfach alle Erwartungen über Bord wirft und einfach loslässt. Und vielleicht fängt man dabei mit dem Ende an. Denn dort, in der letzten Einstellung, finden „Doc“ und Shasta wieder zueinander und „Doc“ versichert seiner Ex, dass all dies nicht bedeute, dass sie wieder zusammen sind. Worauf Shasta lapidar erwidert: „Of course not.“

Man muss wohl akzeptieren, dass Andersons Arithmetik so funktioniert: 1+1=4.

Inherent Vice – UDSA 2014 – Regie, Buch: Paul Thomas Anderson – Laufzeit: 148 Minuten – D.: Joaquin Phoenix, Josh Brolin, Katherine Waterson, Owen Wilson, Reese Witherspoon, Benicio del Toro, Joanna Newsom (Narrator), Michael K. Williams, Eric Roberts, Jena Malone – Altersfreigabe: ab 16 Jahren – Der Film ist seit dem 25. Juni 2015 auf DVD und Bluray und bei einigen VoD-Anbietern erhältlich.

Anm.: Unterhaltsam ist der Kommentar der Jugendmedienkommission zur Altersfreigabe. Beachtet man, dass der Film nahezu gewaltfrei und nahezu sexfrei ist, so überrascht die gegenteilige Beurteilung der JMK auch angesichts von aktuellen Filmen, die ab 12 Jahren freigegeben worden sind. Möglicherweise wurde der Umstand, dass die Hauptfigur „eigentlich immer ‚breit’ ist“ zum Stolperstein. Außerdem würden Straftaten „zum Teil nicht geahndet“ und dass die Hauptfigur in Notwehr eine Person erschießt, die ihn foltern
lässt (was dezent bebildert wird) und umbringen will, hat für sie „keine rechtlichen Folgen.“ Selbst die Filmlänge wurde als Grund für die Entscheidung angegeben, den Film erst ab 16 Jahren freizugeben.

Noten: BigDoc = 3,5