Donnerstag, 25. August 2011

Habermann


Deutschland / Österreich / Tschechien 2010 - Regie: Juraj Herz - Darsteller: Mark Waschke, Hannah Herzsprung, Ben Becker, Franziska Weisz, Karel Roden, Wilson Gonzalez Ochsenknecht - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 104 min.

Die Vertreibung der Deutschen aus dem Sudetenland ist bis heute eine weitgehend unbefriedigend aufgearbeitete Fußnote der Nachkriegsgeschichte. Für die Vertriebenenverbände nach wie vor ein heißes Eisen, waren die teilweise sehr blutigen Vorkommnisse unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs auch eine nicht unerhebliche Belastung des deutsch-tschechischen Verhältnisses. 
In einer deutsch-tschechisch-österreichischen Gemeinschaftsproduktion versucht der tschechische Regisseur Juraj Herz mit seinem Film „Habermann“ eine an den historischen Fakten orientierte Rückbesinnung – und ist dabei bei den Kritikern kräftig ins Fettnäpfchen getreten.

Abrechnung
1945: Mit großer Brutalität werden in einer tschechischen Kleinstadt deutsche Familien zusammengetrieben, gedemütigt und misshandelt und sogar getötet. Männer pissen auf ein Hitler-Foto, andere treiben ihre ehemaligen Nachbarn in die Züge, mit denen die Deutschen deportiert werden sollen. Unnachsichtig rächen sich die Tschechen im kurz zuvor noch annektierten Sudentenland für die unter den Nazis erlittene Unbill.

1937: Der junge Unternehmer August Habermann (Mark Waschke), führt das Sägewerk und die Mühle seiner Familie bereits in der vierten Generation. In seinem kleinen Heimatstädtchen im Sudetenland bereitet der auch bei den Tschechen sehr beliebte Mann die Hochzeit mit der katholisch erzogenen Tschechin Jana (Hannah Herzsprung) vor. Mit dabei sind auch Jan Brezina (Karel Roden), Habermanns bester Freund und engster Mitarbeiter, und sein jüngerer Bruder Hans (Wilson Gonzalez Ochsenknecht), ein enthusiastischer Nazi. Während der Feierlichkeiten entdeckt der Bürgermeister in Janas Geburtsurkunde, dass die junge Frau Halbjüdin ist. Noch droht aber keine Gefahr, dennoch sind die politischen Weichen gestellt. Mit dem Münchner Abkommen 1938 konnten die britische und französische Regierung zwar verhindern, dass Hitler die tschechischen Randgebiete mit Waffengewalt an sich riss. Nichtsdestoweniger wurde im Oktober 1938 die Annexion des Sudetenlandes vollzogen. 3,63 Millionen Einwohner, die in diesem Gebiet lebten (davon etwa 2,9 Mio. deutsche und 0,7 Mio. Tschechen) wurden mit sofortiger Wirkung „heim ins Reich“ geholt. 1939 wurde der „Reichsgau Sudetenland“ mit der Hauptstadt Reichenberg geschaffen.

Auch in „Habermann“ dauert es nicht lange und die Nazis tauchen auf, verkörpert durch den SS-Offizier Koslowski (Ben Becker), der als das auftritt, was er repräsentiert: ein zynischer und sadistischer Okkupant, der die tschechische Bevölkerung als minderwertig behandelt und Habermanns Frau bei passender Gelegenheit sexuell bedrängt.

Floskelhaft-didaktisch und nicht frei von Klischees
Juraj Herz erzählt die Geschichte sehr elliptisch, fast jede Szene markiert einen konkreten Abschnitt der historischen Gesamtstrecke. Die Zeitsprünge sind oft groß, Überflüssiges wird weggelassen, nichts ist verschlüsselt – was Herz sagen will, verbirgt sich nicht hinter komplexen psychologischen Konstellationen, fast etwas schulfunkhaft repräsentieren seine Protagonisten die historischen Schnittstellen.

Ach ja, habe ich es mir hier zu leicht gemacht? Ich habe nämlich fast wortwörtlich die Beschreibung des erzählerischen Vorgehens von Herz aus meiner Kritik über Andrzej Wajdas „Das Massaker von Katyn“ (http://bigdocsfilmclub.blogspot.com/2010/05/das-massaker-von-katyn.html) übernommen. Es ist nämlich ganz interessant, narrative Parallelen in Filmen zu suchen, besonders dann, wenn sie ein Schlaglicht auf die Unterschiede werfen. 
Und die tun sich in „Habermann“ spürbar auf: während Wajdas Geschichtslektionen auf charismatische Figuren verzichten, um in strenger Reduktion und mit völligem Verzicht auf Pathos die Verzweifelung seiner Protagonisten und die Gnadenlosigkeit der historischen Ereignisse zur Sprache zu bringen, kann Herz diesen Verzicht nicht leisten. Seine Figuren sind pathetisch, emotional und letztlich auch Ausdruck einer dramaturgischen Stereotypie, die den Film zwar nicht zur Gänze verdirbt, aber ein durchgehend unbehagliches Gefühl zurücklässt.
August Habermann ist im Rahmen der fiktionalen Aufbereitung noch eine interessante Figur: ein moralisch aufrechter Mann, dem Ideologien und Hass fremd bleiben, ein um Ausgleich bemühter Unternehmer ohne Gutsherrenmentalität. Gerade seine politische Naivität lässt erzähltechnisch viel Raum, um zu zeigen, wie menschenverachtend die neuen Herrscher des Sudetenlandes auftreten.
Ben Beckers SS-Mann Koslowski entspricht auf den ersten Blick einer geläufigen und als politisch korrekt anzunehmenden Figurenzeichnung. Eher peinlich werden seine sexuellen Avancen gegenüber Habermanns Frau (besonders vor dem Hintergrund der demagogisch verzerrten Sexualisierung des „Jud Süss“ von Veit Harlan und der umstrittenen Kolportierung dieses klassischen Propagandathemas in Oskar Roehlers „Jud Süss – Film ohne Gewissen“), denn man ahnt hier das floskelhaft-didaktisch Motiv: der Nazi muss richtig fies sein, um sich nicht vorwerfen lassen zu müssen, man hätte das spätere Schicksal der Sudetendeutschen angesichts der historischen Schuld der Deutschen zu stark aufgewertet.

Stereotypien finden sich auch in anderen Figuren wieder: viele Tschechen sind opportunistisch, selbst der sich gründende Widerstand scheint charakterlich nicht ganz gefestigt zu sein, auch mit Verrat ist zu rechnen. Ein moralisches Äquivalent ist in diesem Plot Augusts tschechischer Freund Jan, der ein Musterbeispiel für einen integren Charakter abgibt. Man ahnt es: Juraj Herz hat alles getan, um eine dramaturgische Balance herzustellen, die verhindern soll, dass sein Filmende die falschen Kritiker auf den Plan ruft. Diese Zugeständnisse wirken jedoch leider sehr unfertig.

Der Pakt mit dem Teufel
Als sich wirtschaftliche und gesellschaftliche Druck auf die Habermanns verstärkt, gelingt es August Habermann nicht länger, seine Familie und seine Firma aus den Ereignissen herauszuhalten. Die SS veranstaltet plötzlich eine Razzia in seinem Betrieb, um dort nach Waffenlagern und heimlich gedruckten Flugblättern zu suchen. Koslowski erschießt Habermanns tschechischen Buchhalter.
Der entscheidende Plot Point in Herz’ Film wird jedoch erreicht, als zwei SSLeute auf einer Patrouille von einem seiner Mühlenarbeiter erschossen werden. Koslowski fordert blutige Vergeltung. „Ein Deutscher ist soviel wert wie zehn Tschechen“, stellt er fest und verlangt die sofortige Erschießung von zwanzig Dorfbewohnern. Habermann muss auswählen, welche es sein sollen – und weigert sich. Er beginnt damit den Familienschmuck einzusetzen, um die Leben seiner Nachbarn zu retten, denn Sturmbannführer Koslowski hat bereits die Zeichen der Zeit erkannt hat und mithilfe eines katholischen Geistlichen den Fluchtweg nach Argentinien organisiert. Doch ganz bestechen lässt sich der SS-Mann nicht: er zwingt Habermann mitsamt seiner Familie zur Anwesenheit bei der Exekution von zehn Tschechen und lässt anschließend Jana deportieren.
Habermann ist diskreditiert und wird nach Kriegsende von der aufgebrachten Bevölkerung gelyncht, während sein Frau und ihr Kind das KZ überlebt haben und Jana trotz ihres Judensterns 'als Deutsche' von den marodierenden tschechischen Milizen zusammengeschlagen und zusammen mit ihrer Tochter in den Deportationszug geworfen wird.

Wieder einmal helle Empörung
„Habermann“ hat einige Filmkritiker (wieder einmal) an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen: der Vermutung, dass in einem Film die politisch korrekte Darstellung des Nationalsozialismus (wieder einmal) nicht erfolgt ist und sich möglicherweise geschichtsrevisionistische Bilder durch die Hintertür in die Kinosäle einschleichen. Eigentlich sollte ein tschechischer Regisseur, der zudem die literarische Vorlage eines tschechischen Autors adaptiert hat, frei von diesem Verdacht sein. Aber tatsächlich scheint auch das nicht zu reichen.

Ich möchte dies an einem Beispiel zeigen, und zwar an der Kritik von Sonja M. Schultz, einer für das Thema übrigens wissenschaftlich sehr qualifizierten Filmwissenschaftlerin (ihre Dissertation „Der Nationalsozialismus im Film“ gelangt in wenigen Wochen in den Buchhandel). In Critic.de fasst sie zusammen:
„’Habermann’ überträgt zusätzlich Holocaust-Symbolik auf die an den Deutschen begangene Gewalt. Auf der Bildebene glaubt man zunächst, ein typisches Holocaust- Drama vor sich zu haben: Eine Gruppe von Menschen muss Spießruten laufen, sie werden blutig geschlagen, sie müssen über Glasscherben kriechen, ein Kopf knallt an die Mauer, dazu dröhnt dramatisch Musik...Die Bilder, die man so oder ähnlich schon oft gesehen zu haben glaubt, rasten sofort ein: Hier findet eine Judenverfolgung statt. Aber halt – die Zeichen sind umgedreht...‚Habermann’ schließt mit dieser Chiffre des Holocaust: dem abfahrenden Deportationszug.
Seit den 1990er Jahren gibt es eine Entwicklung, die als „neuer deutscher Opferdiskurs“ bekannt geworden ist. Bücher, Filme und Zeitschriftenreihen thematisieren verstärkt das Leiden der deutschen Bevölkerung durch den Zweiten Weltkrieg. Ärgerlich wird dieser Diskurs immer dann, wenn es ihm nicht allein um Trauer und persönliche Erinnerung geht, sondern um ein Aufrechnen von Kriegsschuld und um eine Gleichsetzung der deutschen Erfahrungen mit den jüdischen. Der beim bayerischen Filmpreis zweifach ausgezeichnete Habermann ist ein Paradebeispiel hierfür, das umso ekelhafter erscheint, je mehr die Produktion mit ihrer „wahrhaft historischen Bedeutung“ wirbt.“

Close but no cigar. 
Schultz läuft hier leider in die Falle der historischen Uneindeutigkeit, deren Ambivalenz sie zuvor ideologiekritisch aufzudecken glaubte. Zum einen sind die von Herz’ gewählten drakonischen Bilder historisch belegt: Bereits weit vor Kriegsende, nämlich 1943, erreichte der ehemalige tschechische Präsident Beneš von den Westalliierten die grundsätzliche Zustimmung zu seinen den der deutschen Bevölkerung des Sudetenlandes zugedachten Entrechtungs und Vertreibungsplänen.
Nach dem Ende des 2. Weltkrieges wurde das Sudetenland wieder in die Tschechoslowakei eingegliedert. Und man begann sofort damit, die BenešDekrete in die Tat umzusetzen. Insgesamt wurden 3 Millionen der knapp über 3,2 Millionen Sudetendeutschen vertrieben. Bei spontanen Massakern kamen viele Deutsche um, genaue Zahlen sind nicht bekannt. Der Verleih von „Haberman“ gibt in seiner Pressemappe über 240.000 Tote sind an, während der Historiker Ferdinand Seibt auf etwa 30.000 Tote durch willkürliche Tötungen, Krankheit und Hunger verweist. Das Bundesarchiv (Quelle: Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Abt. Präs. 9 – Medienservice: Sudetendeutsche und Tschechen, Austria, Reg.Nr. 89905I) gibt 60.000 – 70.000 Tote an. Dass Hass und Neid auf die wohlhabenden Deutschen, so wie es auch Herz zeigt, dabei eine Rolle gespielt haben, ist historisch bislang nicht angezweifelt worden.
Zum anderen und viel entscheidender als diese historischen Fakten, die ungeachtet konkreter Zahlen eine menschliche Tragödie widerspiegeln, ist der Kern der Kritik von Schultz: die vermutete Symbolkraft der Bilder und die vermutete Übertragung des Holocaust-Motivs auf die einleitenden und abschließenden Bilder des Films.
Abgesehen davon, dass diese Analogie vermutlich nur bei den sogenannten Unverbesserlichen greift, ist sie ein historischer Kurzschluss, der das zu Rettende, nämliche die Singularität des Holocaust gegen Geschichtslügen zu verteidigen, gleich wieder preisgibt: denn trotz der zahlreichen Toten unter den Sudetendeutschen haben die Tschechen eben keinen Holocaust akribisch und mit gnadenloser Vernichtungsabsicht zelebriert, sondern etwas der menschlichen Natur leider keineswegs Fremdes getan: sie haben sich an möglicherweise überwiegend Unschuldigen für die Barbarei gerächt, mit der die deutsche Herrenrasse ganz Europa überzog.
C’est la petite difference!

Unterm Strich ist „Habermann“ also kein neuer Skandalfilm. Juraj Herz ist kein großer Wurf gelungen, aber diese Kritik bezieht sich auf formale Kriterien: Schwächen bei der Figurenzeichnung, die leicht misslungene Verbindung eines elliptischen schulfunkhaften Erzählstils mit einer groß angelegten Charakterstudie, die Nutzung vermeidbarer Klischees. Aber der faktische Kern stimmt und es ist aus meiner Sicht unverdächtig, wenn sich ein Tscheche an dieses auch heute noch belastete Thema heranwagt. 
Ich zitiere gerne noch einmal Andrzej Wajda: „Solange es keine Filme und keine Literatur gibt, die die Fakten darstellt, existiert das Ereignis nicht im kollektiven Bewusstsein. Das sollten sie aber. Es gibt die Überzeugung, dass eine Gesellschaft ohne Intelligenz eine Gesellschaft ohne Erinnerung, ohne Gedächtnis ist. Ohne Gedächtnis sind wir aber nur ein Sammelsurium, das man jederzeit zerstören kann.“

Pressespiegel

Zoran Gojic in „Bayern 3“: „Das Ansinnen, den Opfern des Krieges und des Hasses – gleich welcher Nationalität – Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist grundanständig. Aber die Geschichte ist derart hölzern konstruiert, dass man es regelrecht knirschen hört...’Habermann’ ist eher ein gut gemeinter als ein wirklich guter Film. Die Absicht ist löblich, der Film handwerklich sauber produziert und die Schauspieler gut ausgesucht. Aber es bleibt der Nachgeschmack von belehrendem Schulkino ohne echte Haltung."

Bert Rebhandl in „Berliner Zeitung“: „'Habermann' gibt sich den Anschein kontroversen Geschichtskinos, ist aber intellektuell wie ästhetisch unter jedem dafür angebrachten Niveau.“

Rudolf Worschech in „epd Film“:Dieser Film will zu viel und er meint es zu gut, vor allem mit seinen Hauptfiguren Habermann und Jan, für deren Verhalten frühere Generationen gern das Adjektiv „anständig“ verwendeten. Mit jeder Drehbuchwendung wird die Ausgewogenheit dieses Films immer deutlicher zur Schau gestellt: der gute (Habermann) und der böse Deutsche (Koslowski, der als Figur ganz aus der Tiefe des Nazi-Bilder-Fundus gezerrt wurde), der aufrechte Tscheche und der Mob seiner Landsleute. Dass Habermanns Frau Halbjüdin ist und er damit erpressbar, gehört ja mittlerweile (siehe Jud Süss) zu den wenig subtilen Entlastungstricks der Drehbuchautoren von Filmen über die NS-Zeit.“

FBW (Deutsche Film- und Medienbewertung): „Die aufwühlende, europäische Koproduktion inszeniert die Zeit der Besetzung und der politischen Grauzone eindrucksvoll, ohne dabei eine Seite zu heroisieren oder zu verteufeln. HABERMANN bildet historische Wahrheiten und bewegende Schicksale ab, deren Folgen auch heute noch spürbar sind. Ein cineastisch selten aufbereitetes Stück Geschichte, als Koproduktion auf beste Weise zusammengefügt....Prädikat: besonders wertvoll.“

Noten: BigDoc = 3,5

Mittwoch, 24. August 2011

Quick Review: Monsters vs. Tron



MONSTERS - Großbritannien 2010 - Regie: Gareth Edwards - Darsteller: Scoot McNairy, Whitney Able - FSK: ab 12 - Länge: 93 min.

TRON: LEGACY - USA 2010 - Regie: Joseph Kosinski - Darsteller: Garrett Hedlund, Olivia Wilde, Jeff Bridges, Michael Sheen, Bruce Boxleitner, James Frain, Beau Garrett, John Hurt, Yaya DaCosta, Serinda Swan, Amy Esterle - FSK: ab 12 - Länge: 125 min.

Science Fiction adieu? Immer, wenn man wieder einmal einen richtig grottigen SciFi-Film gesehen hat, durchleidet man einen Anflug von Skeptizismus und bramarbasiert vom Niedergang des Genres. Nichts Originelles zu sehen?
Remakes, Sequels, Prequels und Crossovers („Cowboys & Aliens“) scheinen die Leinwand zu beherrschen: Universal belebt seine guten alten Genretraditionen mit einem Prequel von Carpenters „The Thing“, einem Film, der seinerseits ein Remake ist. Und wenn man sich die ersten Trailer anschaut, glaubt man, jede Einstellung bereits in Carpenters Film gesehen zu haben. Sogar der Score hört sich gleich an. 20th Century Fox will in „Alien 5: Prometheus“ zusammen mit Ridley Scott erzählen, wie es überhaupt zu „Alien“ (1979) kommen konnte. Da kann man nur hoffen, dass die Macher auch wirklich etwas zu erzählen haben. Irgendwie hat man aber den Eindruck, das gute Stoffe fehlen und die Studios daher auf Bekanntes setzen.

Trotzdem sollte man nicht unbescheiden maulen, denn das klassische Sci-Fi-Genre hat in den vergangenen Jahren gleich mehrere Male machtvoll sein Haupt erhoben: „District 9“ (Neil Blomkamp, 2009), „Avatar“ (James Cameron, 2009), „Moon“ (Dincan Jones, 2009), „Splice“ (Vincenzo Natali, 2010), „Inception“ (Christopher Nolan, 2010) und „Die kommenden Tage“ (Lars Kraume, 2010) zählen aus meiner Sicht zu den herausragenden Beiträgen der letzten Jahre, wobei zu sehen war, dass sowohl der irrsinnig teure High Budget-Film als auch sein etwas billigerer kleiner Bruder einiges zu bieten haben, was über Ballerorgien und zielgruppenaffine Schablonenfilme hinausgeht.

Qualvoll langweilig
Fangen wir mit der letzten Baugruppe an. Die Disney Studios konnten ihren Einsatz von 170 Mio. US-Dollar mit einem „Tron“-Sequel mehr als verdoppeln und zeigten damit, dass richtig schlechte Filme ihre Existenzberechtigung aus der Bereitschaft des Publikums ableiten, ihr Geld für einen digitalen Ausstattungsfilm ohne Inhalt herzugeben. „Tron: Legacy“ wirkt wie am Reißbrett geschneidert: um ja nicht von den beleidigend langweiligen Effekten (ich weiß: Millionen Zuschauer haben dies wohl anders gesehen, sie können nicht irren) abzulenken und die breitestmögliche Vermarktung im 3D-Segment nicht zu behindern, wurde das bereits in „Tron“ (1982) auffallend simpel gestrickte narrative Konzept qualitativ noch einmal kräftig unterboten. Die kaum noch stereotyp (das wäre eine Aufwertung) zu nennende krude Story bietet hölzerne Figuren, ergreifend schlichte Dialoge und eine jederzeit vorhersehbare Plot-Struktur, sodass man sich ohne große Ablenkungen der Ausstaffierung einer virtuellen Welt widmen kann, die eine herausfordernde Beleidigung für alle ist, die die mittlerweile übel beleumundete Matrix-Trilogie einigermaßen verstanden haben. Das Ganze ist ganz gezielt für 8- 10-Jährige zusammengestrickt und ich muss gestehen, dass es eine Qual war, diesen Film bis zum Ende anzuschauen.

Surreal
Ein Großteil der von der schlichten Disney-Welt kopfkolonisierten Zielgruppe hat sich hierzulande offenbar in Gareth Edwards für 200.000 US-Dollar produzierten Low-Budget-Movie „Monsters“ verirrt und anschließend in diversen Foren beredt Auskunft über ihre Verfasstheit gegeben: der „schlechteste Film aller Zeiten“ zeigt tatsächlich nur selten Monster, dafür aber ein witziges Road-Movie, das wie ein Spin Off des ‚echten’ Films wirkt. Ein Fotograf soll die Tochter seines Verlegers heil aus Mexico in die USA zurückbringen, die sich mittlerweile hinter einem gigantischen steinernen Schutzwall gegen krakenähnliche Invasoren aus dem All abschotten. Große Teile des armen Nachbarlandes sind bereits vor Jahren einer extraterrestrischen ‚Infizierung’ zum Opfer gefallen, die von den Vereinigten Staaten mit einer verunglückten Raumsonde selbst heraufbeschworen wurde. Während die beiden jungen Leute mit einer Schlepperband die infizierte Zone durchwandern, tobt um sie herum der Kampf zwischen dem Militär und den Aliens: dies wäre der Logik von „World Invasion: Battle Los Angeles“ (Jonathan Liebesman, USA 2011) und den Erwartungen einiger Genrefreunde zufolge der ‚richtige’ Film gewesen. Tatsächlich aber haben in „Monsters“ die krakenähnliche und 100 m hohen Aliens, die Teile Mexicos in eine riesige Brutplantage verwandelten, nur selten einen Auftritt.

„Monsters“ wird durchaus intelligent an den Genreerwartungen vorbei inszeniert, wobei der finale Plot Point andeutet, dass die Aliens bereits Teile der USA besetzt haben und offenbar nur dann auf die Ureinwohner des Planeten reagieren, wenn sie angegriffen werden. Edwards zieht ähnlich wie Neil Blomkamp klassische Projektionen und Subtexte von den fremdartigen Wesen ab und erzeugt mit einem lächerlich geringen Budget eine irritierende Atmosphäre des Fremdartigen, die entfernt an die visionären Romane des avantgardistischen Science Fiction-Autors James Graham Ballard (1930 – 2009) erinnert, der in seinen nicht immer leicht zugänglichen Dystopien beschrieb, wie geheimnisvolle Mächte und Naturkatastrophen schleichend Landschaften, Flora und Fauna, Menschen und Tiere verändern, ohne dass die Rätselhaftigkeit der Ereignisse vollends aufgelöst werden kann. Da Ballards Romane hierzulande nur noch antiquarisch zu erhalten sind, dürfte dem Leser dieser Zeilen eine zeitnahe Überprüfung meines Vergleichs nicht ohne Weiteres möglich sein.
Aber dieser literarische Querverweis soll Gareth Edwards Film nicht über Gebühr aufwerten. „Monsters“ spielt dank seiner etwas versponnenen und fast lyrischen visuellen Qualitäten zwar in einer anderen Liga als das kalt kalkulierte Massenprodukt „Tron: Legacy“, bietet aber in punkto Figurenzeichnung nichts, was den Zuschauer wirklich berühren könnte. Fazit: eine bemerkenswerte Fingerübung und ein Versprechen auf mehr.

Noten „Tron Legacy“: BigDoc = 6
Noten: „Monsters“: BigDoc = 2,5

Dienstag, 16. August 2011

The Green Hornet


USA 2011 - Regie: Michel Gondry - Darsteller: Seth Rogen, Jay Chou, Christoph Waltz, Cameron Diaz, Edward James Olmos, David Harbour, Tom Wilkinson, Edward Furlong, Chad Coleman, Analeigh Tipton - FSK: ab 12 - Länge: 119 min.

The Green Hornet gehört zu den älteren Comic-Helden und basiert auf einer Radioserie, die in den 1930er Jahren als überaus erfolgreiche Radioserie ihren Ursprung nahm. Fünf Jahrzehnte lang gab es dann Comic-Hefte über die Grüne Hornisse und in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre auch eine TV-Serie mit Bruce Lee in der Rolle des Sidekick Kato.
Mit der wohl längst fälligen Adaption fürs Kino hat Regisseur Michel Gondry seinen nächsten Karriereschritt geschafft: die Grüne Hornisse spielte rund 230 Millionen US-Dollar und damit das Doppelte der Produktionskosten ein.

Britt Reid (Seth Rogen: der kanadische Comedian soll kräftig am Drehbuch gebastelt haben) ist ein verwöhntes Millionärsöhnchen, das den Medienkonzern seines Vaters erbt und beschließt, zusammen mit seinem Chauffeur Kato (Jay Chou) einen neuen Superhelden zu kreieren: The Green Hornet soll in der Öffentlichkeit als Verbrecher erscheinen, in Wirklichkeit aber die Kriminellen bekämpfen. In seinem ersten großen Kampf gegen die Welt des Bösen bekommt es der intelligenzgeminderte grüne Held mit dem grausamen russischen Mafiaboss Benjamin Chudnofsky (Christoph Waltz) zu tun.

Debil
Nach vielen ambitionierten und innovativen Comic-Verfilmungen wurde mit The Green Hornet der Beweis erbracht, dass Gondrys Drittel-Oscar kein Zufall gewesen sein kann : Michel Gondry (der als Co-Autor an dem Drehbuch seines überaus witzigen und intelligenten Films Eternal Sunshine of the Spotless Mind mitarbeitete, für das Charlie Kaufman dann der Oscar erhielt) hat seine Interpretation der grünen Hornisse so dicht an der Grenze zur Debilität angesiedelt, dass all jene, denen „The Dark Knight“ und „Watchmen“ zu intellektuell gewesen sind und angesichts des innovativen Witzes von „Kick-Ass“ überfordert in die Knie gingen, nun endlich einen Blockbuster auf Augenhöhe genießen können – der Comic als Klamotte!

‚Superheld’ Reid/The Green Hornet ist ein tumber und narzisstischer Tor, der nur dank seines coolen Sidekick Kato und dessen unbestreitbar genialen technischen Erfindungen eine Chance gegen das organisierte Verbrechen hat. Und so ist "The Green Hornet" auch ein Buddy Movie, das allerdings die Konventionen dieses Sub-Genres mit anspruchsloser Situationskomik stereotyp durchdekliniert: Freundschaft - Zerwürfnis - wieder Freundschaft.

Natürlich könnte der Transfer ins Komödiengenre seine witzigen Seiten haben, aber dafür ist das Drehbuch einfach nur beleidigend schlecht. Die halbstündige Exposition hat zwar immer dann ihre witzigen Momente, wenn man sieht, wie Reid und Kato ihren neuen Superhelden am Reißbrett planen und sich das dazu passende Corporate Design aushecken, aber als Figuren bleiben beide psychologisch auf dem Niveau von Zwölfjährigen, die etwas tun, aber ihre Motive nicht wirklich erklären können. Das Ergebnis sind die dämlichsten Dialoge, die ich seit Jahren anhören musste.
Einen richtigen Schreck bekommt man, wenn einem dämmert, dass der Film grässlich ‚over-dressed’ ist: der wirklich großartige Charaktermime Tom Wilkinson hat einige belanglose Auftritte als Reids Vater, während Christop Waltz nach seiner Einführung erst einmal komplett aus dem Setup verschwindet und 30 Minuten lang nicht mehr zu sehen ist. Es ist dem OSCAR-Preisträger Waltz zu gönnen, dass er seinen hoffentlich nicht kurzlebigen Erfolg auch einmal kräftig versilbern konnte.
Ähnlich wie „The Dark Knight“ hat auch die Hornisse Mitdenker, die im Hintergrund agieren. Auch einen Intriganten Staatsanwalt gibt es. Hier wurden u.a. für einige belanglose Dialoge die sauteure Actrice Cameron Diaz (Gagen/Jahr zwischen 30 und 50 Millionen US-Dollar), Edward James Olmos (Battlestar Galactica) und James Franco (Planet der Affen: Prevolution) verpflichtet.

Spätestens nach 60 Minuten schaltet man innerlich genervt ab. Für die ohren- und sinnenbetäubenden Actionszenen, die den Rest des Films und die innere Leere der Story auffüllen, benötigt der Kinogänger dann garantiert nicht mehr seine Großhirnrinde. Zurück bleibt ein betäubter Kritiker, den die blanke Angst packt, wenn er über den Gemütszustand der Zuschauer nachdenkt, die „The Green Hornet“ zum finanziellen Durchbruch verholfen haben. Es können nicht nur Kinder gewesen sein.

Samstag, 13. August 2011

Jud Süss - Film ohne Gewissen


Deutschland 2010 - Regie: Oskar Roehler - Darsteller: Tobias Moretti, Martina Gedeck, Moritz Bleibtreu, Justus von Dohnányi, Armin Rhode, Martin Feifel, Ralf Bauer, Robert Stadlober, Paula Kalenberg, Milan Peschel - FSK: ab 12 - Länge: 114 min.

Immer wenn die Nazi-Sujets durch’s deutsche Kino spuken, gibt es ein gewaltiges Blätterrauschen im Medienwald. Dabei gilt (zumindest für mich) die traurige Regel: eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hat es im deutschen Nachkriegskino kaum gegeben, und wenn sie versucht wurde, wussten die deutschen Kritiker wenigstens immer, dass es so nicht geht.

Als Oskar Roehlers „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ Anfang 2010 im Rahmen der 60. Berlinale uraufgeführt wurde, hatten die Medien endlich wieder einen Skandal. Der Film wurde mit moderaten Buh-Rufen abgestraft und Tobias Morettis depressiv stimmende Sexszene mit der nunmehr 61-jährigen Gudrun Landgrebe ist seither ein Markenzeichen trashiger Sexploitation, wobei – wenn schon, denn schon – der Begriff der Naziploitation eher angebracht ist.
Roehlers Film wurde mit galliger Häme überzogen und löste, wie Rüdiger Suchsland in seiner Kritik zu Recht feststellte, „gedankenlose Beißreflexe“ aus. Offenbar sind wir alle in der filmischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus heillos in Widersprüche verstrickt, die in ein Durcheinander münden, das durch Zensur, Tabuisierung und möglicherweise falsch verstandene Political Correctness abgesteckt wird.
Genauigkeit ist geboten. Die folgende Kritik ist daher eher eine medienkritische Auseinandersetzung als ein feuilletonistischer Text, zu dessen Stärken Prägnanz und Kürze gehören. Eine konsistente Auseinandersetzung mit Oskar Roehlers Film schließt daher unabdingbar auch eine vergleichende Kritik mit Veit Harlans hierzulande unter Verschluss gehaltenen NS-Propagandafilm „Jud Süß“ ein. In diesem Zusammenhang soll die Frage beantwortet werden, ob wir weiterhin NS-Propagandafilme vor der Öffentlichkeit wegschließen sollen und welche Freiheiten die künstlerische Fiktion im Umgang mit Fakten besitzen kann und sollte.
Den Mitgliedern des Filmclubs wurde explizit eine Sichtung des alten UFA-Films ans Herz gelegt, wobei zwei Mitglieder aufgrund ihres Hintergrunds als Medienwissenschaftler bereits die Gelegenheit hatten, sich wissenschaftlich mit dem Film auseinanderzusetzen.

Teil 1: Zensur? Vorbehaltsfilme in Deutschland

Rohlers Film: ein Desaster?
Roehlers Film handelt von der Entstehungsgeschichte eines der bekanntesten Nazi-Propagandafilme, dem von Veit Harlan 1940 inszenierten „Jud Süß“. Die Zahlen schwanken, aber wohl jeder dritte Deutsche soll diesen Film in den Kriegsjahren gesehen haben. Auch in Europa erreichte der Film ähnliche Zuschauerzahlen. „Jud Süß“ wurde 1940 bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig uraufgeführt und war für den Reichspropagandaminister Joseph Goebbels ein Prestigeobjekt, sollte der neue nationalsozialistische Film doch das Weltkino erobern. Von dem damals noch unbekannten Michelangelo Antonioni wurde er über alle Maße gelobt (was Roehler auch zitiert), in der harten Realität eines antisemitisch durchseuchten Deutschlands (was auch für einige Länder im besetzten Europa galt) ist der Zusammenhang belegt, dass Kinobesuch und exzessive Gewalt gegen Juden unmittelbar aufeinanderfolgten. „Jud Süß“ wurde auch den Offizieren und Wachmannschaften der Konzentrationslager vorgespielt. Harlans Film ist als Hetzfilm bis heute verboten und darf nur unter bestimmten Bedingungen vorgeführt werden.

In Roehlers „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ (2010) spielt Moritz Bleitreu den Joseph Goebbels und dort spricht er mit Emphase vom „deutschen Panzerkreuzer Potemkin“, um zu verdeutlichen, auf welchen Podest er Veit Harlan setzen wollte. Dies ist eine Szene Roehlers, die mir gefallen hat, liegt in diesem Satz die Mischung aus Hybris und Bedeutungssucht in etwa auf dem gleichen Level wie in den grellen Teilen von Roehlers Films. 
Roehlers Film dreht sich nicht um Harlan, sondern um den österreichischen Schauspieler Ferdinand Marian, der in Harlans Film die Hauptrolle spielt, den Juden Robert Süß Oppenheimer. Marian war zuvor eher als fescher Liebhaber im Kino aufgefallen. Nun aber sollte er in einem antisemitischen NS-Film den Bösewicht geben.  

Roehler, der für sein Biopic auch das Skript bearbeitet hat, baute viele historische Fakten durchaus geschickt in den Film ein. Aber offensichtlich hat ihm als Sujet eine Mischung von Faust-Drama und ‚Verführung der Verführers’ vorgeschwebt hat und deshalb wurden ganz entscheidende ‚Nachbesserungen’ der nachweisbaren Tatbestände vorgenommen.
Um Ferdinand Marian im gewünschten Sinne zu deuten, hat Roehler die Figur des Adolf Wilhelm Deutscher in das Skript hineingeschrieben: der jüdische Freund Marians hat jedoch nie existiert. Ebenso wenig war Marians Frau Jüdin. Auch Marians Abstieg nach seinem Erfolg als Oppenheimer ist der beabsichtigten Dramatisierung geschuldet und verdreht nachweislich die bekannten Fakten. Und nicht zu vergessen: Veit Harlan, die aus meiner Sicht wesentlich interessantere Figur, wird in dem Plot klein gehalten. Das hätte ein ganz anderen Film gegeben: ein erzkonservativer Regisseur, der sich den Nazis anbiedert, dem aber sogar von distanzierten Betrachtern ein grandioses Talent nachgesagt wurde. Ein Filmemacher, der mit „Jud Süß“ und „Kolberg“ die faschistische Kinoästhetik definierte und dessen Werk bis in die 50er Jahre mitsamt der aufsehenerregenden Prozesse gegen ihn die junge Republik zu einer Nabelschau anstachelte. Dies hätte ein spektakulärer Film sein können.

Aber Roehlers Film ist kein Schundfilm. Im Gegenteil: „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ ist ein aufregendes Künstlerdrama, zu dessen Qualitäten die Inszenierung des Shakespearschen ‚Rise an Fall’-Motivs gehört, dessen Schwächen in der schrecklichen Unterwerfung der Fakten unter ein Konzept bestehen, das großes Kino im Sinn hat und dieses Ziel auch mit anderen Mitteln hätte erreichen können.
Das eigentliche Dilemma von „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ besteht darin, dass der Zuschauer ohne Kenntnis des Originalfilms und ohne weitreichende Kenntnis der Hintergründe weder die gelungenen noch die misslungenen Anteile von Roehlers Film auseinanderhalten kann. Die meisten deutschen Filmkritiker sind allerdings anderer Meinung: für sie ist Roehlers Film auch ohne dieses Hintergrundwissen ein Desaster, was meiner Meinung nach weder dem Drehbuch noch der formalen Gestaltung des Films gerecht wird.

Zu Recht im Giftschrank weggeschlossen? Der Vorbehaltsfilm
Um zu wissen, wobei es dabei geht, sollte man die Friedrich-Murnau-Stiftung kennen, bei der die urheberrechtlichen Nutzungsrechte für eine große Anzahl der NS-Filme liegen. Die Stiftung hat den sog. Vorbehaltsfilm definiert und die Kriterien auf die einzelnen Filme angewendet. So ist dort über „Jud Süß“ zu lesen: „Dieser Film gehört zu einem Kontingent von ca. 40 Titeln aus dem Rechtebestand der Murnau-Stiftung, die unter sog. Vorbehalt stehen. Vorbehaltsfilme (VB-Filme) sind vorwiegend Propagandafilme aus der Zeit des Dritten Reichs, deren Inhalt kriegsverherrlichend, rassistisch oder volksverhetzend ist, denen z.T. die Freigabe der Freiwillige Selbstkontrolle (FSK) verweigert wurde und die auf Beschluss des Kuratoriums der Murnau-Stiftung von ihr nicht gewerblich ausgewertet werden. Stattdessen kommen diese Filme in geschlossenen Veranstaltungen – etwa im Rahmen der politischen Bildungsarbeit – zum Einsatz. Hier werden sie von kompetenten Referenten eingeführt und anschließend mit dem Publikum diskutiert. Veranstaltungen mit Vorbehaltsfilmen führt im Auftrag der Murnau-Stiftung das Kölner Institut für Kino und Filmkultur durch. Eine Sichtung von Vorbehaltsfilmen für wissenschaftliche Zwecke ist auch – nach vorheriger Terminvereinbarung - direkt bei der Stiftung möglich“.

Werden wir alle wieder Nazis, wenn wir „Jud Süß“ ohne pädagogische Begleitung sehen dürfen? Sind pädagogisch begleitete Filmvorführungen bereits Zensur? Werden hier Filme in den Giftschrank gesteckt, denen implizite mystische Verführungskräfte zugestanden werden oder gibt es begründete Sorgen, dass die Nazi-Propaganda immer noch Menschen verführen kann? In Falle einer Freigabe würden sich dann wie bei der Büchse der Pandora unbeherrschbare Kräfte frei entfalten.

Diese Auffassung scheint auch Oskar Roehler zu teilen, der in einem Interview zu wissen glaubte: "Klar muss Jud Süß zensiert bleiben. Das nötige politische Bewusstsein fehlt dem heutigen Publikum doch mehr als je zuvor...Unglaubliches Casting, messerscharfe Dramaturgie, geniale Manipulation. Wenn man Jud Süß heute irgend-welchen Brandenburger Neonazis zeigt, dann ziehen die ihre Kampfanzüge an und marschieren Richtung Jüdische Synagoge."
Nun sind Brandenburger Neonazis nur bedingt eine Messlatte für eine medienpädagogische Diskussion über mögliche wirkungsgeschichtliche Konsequenzen. Spektakulärer sind da schon Roehlers dunkle Andeutung „mehr als je zuvor“ und seine hoffentlich unbeabsichtigte Mystifizierung des Films: „unglaublich“ und „genial“ – das möchte man doch selbst nachprüfen können. Geht aber nicht. Und schon haben wir den weißen Fleck auf der Landkarte.

Zur Funktionalität des Propagandafilms
Der Propagandafilm ist keine Erfindung des deutschen Faschismus. Auch die Alliierten haben während des Zweiten Weltkrieges Propagandafilme gedreht. Letztere werden aber in der Regel von uns nicht negativ bewertet, was zunächst darüber Auskunft gibt, dass die Bewertung von ‚guter’ und ‚schlechter’ Propaganda auch Ausdruck der Wertegemeinschaft ist, in der wir leben. Wir verurteilen deshalb zu Recht Filme, die unseren politischen und ethischen Konsens angreifen und verletzen.
Darüber hinaus gibt es formale Kriterien, die zu beachten sind.

Insgesamt sind folgende Fragen zu beantworten:
1. Wie funktioniert Propaganda?
2. Ist „Jud Süß“ nach wie vor ein gefährlicher Film?
3. Ist ein Verbot von „Jud Süß“ weiterhin sinnvoll?
4. Muss man „Jud Süß“ gesehen haben, um sich ein Bild von Oskars Roehler „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ machen zu können?

Vorab: sowohl die Entstehungsgeschichte als auch die Wirkungsgeschichte von „Jud Süß“, die weit in das Nachkriegsdeutschland hineinreicht, lassen keinen Zweifel entstehen - „Jud Süß“ ist ein formal gut gemachter Film mit exzellenten darstellerischen Leistungen, der diese Qualitäten aber wirkungsvoll für eine historisch verfälschende und propagandistisch raffinierte Verhetzung seiner Zuschauer eingesetzt hat.
Ist er aber immer noch als Propagandafilm gefährlich?

Dazu muss man zunächst definieren, was ein Propagandafilm ist.
Dass ein Propagandafilm  eine Aussage hat, ist selbstverständlich. Dass er in einem engen Zeitfenster seine Zielgruppe erreichen soll, muss ebenso festgehalten werden. Ich nenne dieses Zeitfenster die ‚Primär-Phase’.
Beispiel: Die Primär-Phase alliierter Propagandafilme ist mit dem Zweiten Weltkrieg beendet, die der Nazi-Propaganda auch. Dennoch wird NS-Filmen eine wirkungsgeschichtliche Latenz unterstellt, die über dieses Zeitfenster hinausgeht.

Deshalb einige Überlegungen zur Funktionalität der Propaganda:
1) Propagandafilme müssen eine zahlenmäßig großen Zielgruppe in der Primär-Phase ansprechen: breiteste Kreise der Bevölkerung müssen mit der Botschaft infiltriert werden, 2) Propagandafilme zeichnen ein einseitiges Bild der Zusammenhänge und fälschen im Extremfall die dargestellten Zusammenhänge und Themen, 3) als Teil einer umfassenden Medienstrategie helfen sie bei der Unterdrückung eines rationalen Diskurses zugunsten einer rein emotionalen Wahrnehmung bis hin zur Empörung. Das Ziel ist die Zerstörung einer Diskussionskultur, wie sie gerade repressive Systeme verhindern wollen. Deshalb unterscheidet sich Propaganda von Meinungen, wie sie zum Beispiel im offenen Meinungsstreit von Zeitungen stattfindet, 5) Propagandafilme verletzen nach der Primär-Phase in vielen Fällen den neu formulierten ethisch-moralischen Konsens einer Gesellschaft, wie dies in der Bundesrepublik der Fall gewesen ist (sonst hätte es auch keinen Prozess gegen Veit Harlan gegeben). Sie können allerdings auch während ihrer Primär-Phase auf Widerstand stoßen.

„Jud Süß“ erfüllt mühelos die Punkte 1-4 des Pflichtenheftes. Mit alliierten Propagandafilmen können wir besser umgehen, weil sie nicht Teil einer repressiven Meinungskultur sind, bzw. gerade den Angriff auf repressive Systeme zu ihrem Thema gemacht haben. Am interessantesten ist jedoch Punkt 5.
Ein Beispiel: auf der Berlinale 2000 wurde der Spielfim "Nebeska Udica" (Sky Hook) von Ljubisa Samardzic gezeigt, der die unmittelbaren physischen und psychischen Folgen des Nato-Bombenkrieges auf die Zivilbevölkerung in Belgrad zeigt. Aus serbischer Sicht zeigt Samardzic , wie die Zivilbevölkerung durch das Bombardement traumatisiert wird, wie sie leidet. Westliche Kritiker haben dies als Propaganda kritisiert, weil der Regisseur nicht auf die politischen Ursachen des Themas eingeht. Es ist legitim und es gehört zu den Gepflogenheiten unseres Kulturkreises, dass dies verhandelt werden muss und darf. Dennoch wäre es unsinnig, einem serbischen Künstler seine Sicht der Dinge zu versagen, wenn wir den liberalen Grundsatz der Diskussionskultur ernst nehmen. Und wir können nicht wissen, wie dieser Film – unabhängig davon, ob man ihn als Propaganda einstuft oder nicht – in einigen Jahren wahrgenommen wird. Möglicherweise müssen wir uns damit abfinden, dass Filme, die wir für ausgewogen und fair halten, in einem anderen Kulturkreis unannehmbar sind, während wir empört aufschreien, wenn wir sehen, wie andere Kulturen (und Religionen) ‚unsere’ Welt deuten. Wir sehen also, dass es nicht so einfach ist, Propaganda in jedem Fall klar zu erkennen.

NS-Filme werden weggeschlossen, weil sie unseren ethisch-moralischen Konsens verletzen. Zudem wird ihnen unterstellt, dass sie auch heute noch gefährlich sind. Wenn wir untersuchen, ob Propagandafilme auch jenseits ihres primären Zeitfensters brisant sind, müssen ihnen ganz essentielle Qualitäten nachgewiesen werden, die so nachhaltig sind, dass wir Folgendes vermuten: gefährliche Propaganda kann unabhängig vom jeweiligen politisch-sozialen Kontext immer wieder gefährlich werden und erweist sich als resistent gegen kulturelle und politische Veränderungen innerhalb einer Gesellschaft. Nur am Rande: eine ähnliche Langzeitwirkung unterstellen wir – allerdings im positiven Sinne - überragenden Kunstwerken.

Wenn also Propagandafilme in einem neuen politisch-sozialen Kontext nach wie vor zensiert werden, muss man dies begründen können. Im Falle von „Jud Süß“ könnte man auf den immer noch virulenten Antisemitismus in Deutschland verweisen.
Dies wird auch durch die gültige Rechtssprechung abgedeckt sind (Vorwurf der Volksverhetzung).
Dies ist nachvollziehbar. Ich verweise darauf, dass der Antisemitismus nach wie vor in Deutschland weit verbreitet ist – und das nicht nur in traditionell rechten Milieus. So veröffentlichte die Bundeszentrale für politische Bildung 2007 die Ergebnisse (http://www.bpb.de/themen/CTEAZV,0,0,Antisemitismus_in_Deutschland.html) einer von Beate Küpper und Andreas Zick vorgenommenen Langzeitstudie über Menschenfeindlichkeit in Deutschland. Das Ergebnis: stereotype Vorurteile existieren auf zahlenmäßig hohem Niveau und werden zur Beurteilung aktueller Ereignisse herangezogen.
Der traditionelle Antisemitismus wird von uns als offen erkennbare Abwertung von Juden oder dem Judentum definiert, der sich in der Zustimmung zu tradierten Stereotypen, eindeutigen Antipathien und offenen Diskriminierungsneigungen äußert und von der Mehrheit nicht erwünscht ist. Die GMF-Studie sowie andere Umfragen in Deutschland (Bergmann 2004; Zick/Küpper 2005a) zeigen, dass er trotz normativer Ächtung und teilweiser Tabuisierung in Deutschland immer noch ausgeprägt ist....In seiner legitimierenden Funktion bietet der Antisemitismus moralische wie intellektuelle Rechtfertigung für bestehende oder angestrebte soziale Systeme und rechtfertigt somit auch Ungleichwertigkeit und Ausgrenzung bestimmter Gruppen, in diesem Fall von Juden. Auffällig ist, dass sich wie in vielen anderen Mythen in antijudaistischen Mythen religiöse Begründungen ('Christus- und Gottesmörder'), weltliche Begründungen ('Wucherjude'), politische Begründungen ('jüdische Weltverschwörung') und rassistische (natürliche) Begründungen (Charakter, Aussehen) finden. Auch wenn nicht zu jeder Zeit alle diese Begründungen gleichermaßen wirksam sind, bleiben antisemitische Mythen im kollektiven Gedächtnis erhalten (Bergmann 2001). Sie bieten sich immer wieder zur Erklärung alltäglicher und gesellschaftspolitischer Ereignisse an und bleiben so bewahrt“.

Dass NS-Filme im gegenwärtigen Kontext einer nach wie vor mit antisemitischen Vorurteilen durchsetzten Bevölkerung gut funktionieren könnten, kann nicht ausgeschlossen werden. Deshalb kann ein Plädoyer für eine Freigabe der Vorbehaltsfilme nicht ohne Restzweifel vertreten werden.
Ein weiteres Argumente für die Aufrechterhaltung des Verbotes ist ebenfalls schwer von der Hand zu weisen: Nazi-Propagandafilme wie „Jud Süß“ besitzen ein Alleinstellungsmerkmal : sie sind künstlerische Komplizen des Holocaust!
Gegen die Aufrechterhaltung des Verbotes spricht dagegen der Umstand, dass Propagandafilme im Kern eine liberale Diskussionskultur bekämpfen und wir unter Umständen ein Teil dieser Strategie werden, wenn wir sie einer politischen oder medienpädagogischen Diskussion entziehen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass es zwar objektive inhaltliche und formale Kriterien für Propaganda gibt, aber wir Propaganda nur in einer offenen Diskussion verstehen und ihr entgegentreten können. Diese Auffassung wird auch von anderen Medienwissenschaftlern vertreten.
Dass wir uns moralisch und gut begründet durch einen rationalen Diskurs für Menschenrechte, Freiheit und Demokratie einsetzen, ist unser gutes Recht. Dies bedeutet nicht bedingungsloses Laissez-faire. Ob unser Freiheitsbegriff auch kulturell uneingeschränkt zu gelten hat, ist Gegenstand der Debatte in diesem Text, wobei man festhalten kann, dass sich die Verbote von Büchern und Filmen in unserer Gesellschaft zum Glück auf eine Handvoll Fälle beschränken – dies unterscheidet uns von der Auftraggebern Veit Harlans!


Der historische Hintergrund: wer war Robert Süß Oppenheimer?
Erinnern wir uns an These 2 zur Funktionalität von Propaganda: Propagandafilme zeichnen ein einseitiges Bild der Zusammenhänge und fälschen im Extremfall die dargestellten Zusammenhänge und Themen. Sie hängt eng mit unserer Arbeitsfrage "Muss man 'Jud Süß' gesehen haben, um sich ein Bild von Oskars Roehler 'Jud Süß – Film ohne Gewissen' machen zu können?" zusammen.

Joseph Süß Oppenheimer (1698-1738) war Geheimer Finanzrat des Herzogs von Württemberg und wurde wegen seiner Wirtschafts- und Steuerpolitik von seinen politischen Gegnern gehasst. Seine Aufgabe war der Aufbau einer modernen Verwaltungsstruktur, die entscheidend die Kassen des Landesherren auffüllen sollte. Brisant: Herzog Karl Alexander war katholisch und operierte mit einem jüdischen Finanzrat gegen eine protestantische Bevölkerung und deren Landstände. 1738 hängten die wütenden Stuttgarter Oppenheimer nach dem Tode seines Dienstherrn und nach monatelangen Prozessen, ohne dass seine Schuld bewiesen werden konnte.

Der Stoff war bereits vor Harlans Film mehrfach bearbeitet worden, unter anderem von Wilhelm Hauff und Lion Feuchtwanger, mit jeweils unterschiedlichen Tendenzen. Joseph Goebbels erkannte bereits vor dem Kriegsausbruch das Potential der Geschichte, deren ideologische Umdeutung und Fälschung letztendlich die Bevölkerung auf die Endlösung einstimmen sollte.

Wer aber war Robert Süß Oppenheimer wirklich?
Die alten Prozessakten sind allerdings nicht ohne Weiteres einzusehen. Dafür gibt es ausreichende Stellungsnahmen der Fachwissenschaft: das Landesarchiv Baden-Württemberg erwähnt, dass sowohl Wilhelm Hauff für seine Novelle als auch Lion Feuchtwanger für seinen historischen Roman keine Akteneinsicht vorgenommen haben, was allerdings erst ab 1913 gestattet war. Akteneinsicht hatten dagegen die Macher von „Jud Süß“, was allerdings nicht einer sachlichen Darstellung dienen sollte: „Der Film von Veit Harlan hatte eine große Breitenwirkung. Er war ein antisemitischer Hetzfilm. Auch wenn der Dramaturg und der Drehbuch-Autor im Hauptstaatsarchiv die Akten zum Kriminalprozess eingesehen haben..., so basierte der Film doch in keiner Weise auf dem Aktenbestand“ (http://www.landesarchiv-bw.de/web/43796).

Aufschlussreich für die Bewertung der Quellenlage und die Zusammenhänge von historischen Fakten und Wirkungsgeschichte (in den Medien) ist eine Tagung, die vom 8. bis 10. Juli 2004 im Hamburger Haus Rissen stattfand und die von Alexandra Przyrembel (Universität Göttingen) und Jörg Schönert (Universität Hamburg) organisiert und von der DFG gefördert wurde: "Joseph Oppenheimer, genannt ‚Jud Süß': Zur Wirkungsmacht einer ‚ikonischen Figur'" (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=550&view=print).
Deutlich wurde auf der Tagung, dass die Auseinandersetzung über die Finanz- und Steuerpolitik durchaus ambivalente Züge aufweist: „Rebekka Habermas (Göttingen) forderte in ihrem Kommentar eine stärkere historische Kontextualisierung des "Falles" unter Einbeziehungen jüngerer Forschungen zum Absolutismus. Aus dieser Perspektive erschienen die Reformen des Herzogs und Oppenheimers nicht mehr als die Versuche der Schaffung eines modernen Staatssystems, sondern als die Maßnahmen politischer "Außenseiter" (der katholische Herzog und der landfremde Hoffaktor), die die politische Situation und die Praxis des Aushandelns der Macht nicht gekannt und gegen dieses Prinzip verstoßen hätten“ (ebd.).
Breiter Konsens scheint aber in einer Hinsicht zu bestehen: die historischen Fakten werden bis zum heutigen Tage durch die Ikonisierung des historischen Oppenheimers und die damit verbundene Wirkungsgeschichte überlagert.

Aus meiner Sicht scheint bedeutsam zu sein, dass zunächst die Kenntnis der historischen Fakten darüber entscheidet, ob wir es bei „Jud Süß“ mit einem Propagandafilm zu tun haben oder nicht. Sind sie gefälscht oder nicht?
Im zweiten Schritt muss die Wirkungsgeschichte betrachtet werden. Die historischen Fälschungen in „Jud Süß“ können wir sicher herausarbeiten und in wirkungsgeschichtlicher Hinsicht lässt sich gut beschreiben, warum der Film als antisemitischer Hetzfilm so gut funktioniert hat. Einem breiten Publikum lassen sich diese Einsichten aber nur dann vermitteln, wenn es den Film auch zu sehen bekommt!  Um den filmhistorischen Hintergrund zu verdeutlichen, hat Roehler einige Szenen des Harlan-Film nachgestellt und einige Originalstellen in seinen Film übernommen, aber dies ist natürlich nicht ausreichend und es
erschwert die Debatte. Der Vergleich mit dem Original wäre geboten, ist aber nicht möglich: Der UFA-Film „Jud Süß“ ist ein Vorbehaltsfilm und darf in Deutschland aufgrund der derzeit gültigen Rechtslage nicht frei zugänglich gemacht werden.

Die Grenzen der Kontrolle
Stattdessen finden sich genug Hinweise darauf, dass wir wohl vergeblich vor den Einflüsterungen der NS-Propaganda geschützt werden. Zum einen kann man ohne Schwierigkeiten „Jud Süß“ auf YouTube sehen (aktuell in einer Fassung mit ungarischen Untertiteln, was nur wenig Zweifel über die mögliche Quelle auslöst), zum anderen tauchten vor Jahren andere Vorbehaltsfilme wie „Robert und Bertram“ (Hans H. Zerlett) ganz legal in VHS-Editionen wie „Die großen UFA-Klassiker“ auf, freigegeben ab 6 und auch gegenwärtig ganz aktuell auf Ebay gehandelt, wovon man sich mit einigen Klicks bei Google selbst überzeugen kann.

Gegen die Verbreitung rechtsextremer Medien auf YouTube ist erst vor wenigen Jahren das staatliche jugendschutz.net vergeblich angetreten. 2007 dachte auch der Zentralrat der Juden öffentlich über eine Anzeige nach – und zwar gegen YouTube wegen Beihilfe zur Volksverhetzung. Die Internet-Plattform, so der Zentralrat, ermögliche es, nationalsozialistisches Filmmaterial aufzurufen, zum Beispiel „Jud Süß“. Dazu passt auch ein TV-Bericht von REPORT Mainz: http://www.youtube.com/watch?v=DHJf7z2E8G4 (Nazis bei YouTube).

Wie löchrig der Käse ist, kann jeder leicht bei YouTube herausfinden, egal, ob es sich um „Triumph des Willens“ oder neo-nazistisches Material handelt. Eine mögliche Liberalisierung unseres Umgangs mit NS-Filmen kann aber nicht damit begründet werden, dass man sich dem Zwang des Faktischen beugen muss. Das wäre zu simpel.
Vielmehr muss man sich klarmachen, dass bereits die Restriktionen gegen die Vorbehaltsfilme ganz wesentlich den Kontext des Kinos im Dritten Reich missverstehen. Zum Beispiel dort, wo man mittelbar zwischen ‚bösen’ Propagandafilmen und ‚guten’ Unterhaltungsfilmen unterscheidet, in denen Marika Rökk harmlos tanzt und steppt. Ganz zu schweigen von Filmen wie Wolfgang Liebeneiners „Bismarck“ (1940), der nach dem Krieg nicht als Vorbehaltsfilms eingestuft wurde. In all diesen Fällen wäre es mehr als sinnvoll, diese ‚ungefährlichen’ Nazi-Filme auf ihre Subtexte abzuklopfen. Dies wird natürlich in den akademischen Filmwissenschaften getan, aber es ist nicht sonderlich wahrscheinlich, dass diese Diskussionen das breite Publikum erreichen. Besonders irritierend ist es dann, wenn man die Begründungen liest, mit denen die Vorbehaltsfilme aus dem Verkehr gezogen werden: da steht dann etwa eine Satz wie „verfälschte Wertevermittlung bzgl. allgemeiner Lebensnormen“, was in etwa so verständlich ist wie ein aus dem Koreanischen ins Deutsche übersetzte Handbuch eines TV-Geräte-Herstellers.
„Wenn in einer Demokratie ein Film verboten wird“, schreibt der Journalist Hans Schmid, „möchte man meinen, wäre es das Mindeste, auf Transparenz zu achten und dieses Verbot sorgfältig zu begründen. Als ich anfing, an der Artikelreihe über die "Vorbehaltsfilme" zu arbeiten, blieben meine diesbezüglichen Anfragen an die Murnau-Stiftung unbeantwortet“ (Quelle: Hans Schmid, „Das Dritte Reich im Selbstversuch“, in: Telepolis auf www.heise.de)

Zusammenfassend möchte ich festhalten: NS-Propagandafilme haben aufgrund ihrer Instrumentalisierung für die antisemitische Hetze und letztlich für den Holocaust ein Alleinstellungsmerkmal, das sie ethisch von anderen Propagandafilmen unterscheidet. Darüber hinaus es gibt eine Reihe von objektiven Kriterien, um Propagandafilme zu definieren; wesentlich komplexer ist ihre Wirkungsgeschichte. Dies führt dazu, dass es trotz des Alleinstellungsmerkmals sowohl überzeugende Argumente für ein Verbot als auch für eine offene Diskussion gibt.
Bedenklich ist, dass die aktuelle Verbotssituation durch die Realitäten des World Wide Web konterkariert werden. Medienpädagogisch wird hier möglicherweise eine große Chance vertan, obwohl ich mich von nachhaltigen Zweifeln nicht ganz befreien kann. Und so bleibt es wohl Utopie, zu erwarten, dass in naher Zukunft eine Doppel-Edition von Harlans und Roehlers Film mit entsprechendem Begleitmaterial auf dem Markt erscheint. Ganz wie es Hans Schmid fordert: „65 Jahre nach Führers Abgang könnten wir das Schein-Wissen von Gestern und den Hang zu unsinnigen Verboten endlich durch eine vernünftige Diskussion ersetzen. Dafür bedarf es einer Gesprächsgrundlage. Daher meine Bitte an die Murnau-Stiftung: Sorgfältig kommentierte DVD-Ausgaben für erwachsene Bürger eines demokratischen Landes mit Informationsfreiheit. Eine FSK, die miese antisemitische Musicals auf Videokassette für sechsjährige Kinder freigibt, halte ich dagegen für verzichtbar“ (Hans Schmid, Telepolis).

Teil 2: Jud Süß (Veit Harlan, Deutschland 1940)
Quellen
Eine umfangreiche medienhistorische Auseinandersetzung mit dem Thema liegt bereits vor. So hat der für Telepolis schreibende Filmjournalist Hans Schmid mehrere umfangreiche und sehr lesenswerte Artikelserien zu dem Thema veröffentlicht, u.a.:
- Hans Schmid: „Der Führer ist sehr eingenommen – Mordsache Jud Süß“ (http://www.heise.de/tp/artikel/30/30407/1.html, 2009);
- „Ich klage an! Wie mich Telepolis zum Nazi machte“ (http://www.heise.de/tp/artikel/32/32253/1.html, 2010);
- „Das Dritte Reich im Selbstversuch“ (http://www.heise.de/tp/artikel/32/32256/1.html, Teil 1 ff., 2010).

Schmid ist immer dann zur Stelle, wenn es um Indizierung und Verbote geht und es ist sicher gut, dass da draußen jemand recherchiert und schreibt, der sich akribisch für Details interessiert. Besonders seine Artikelserie „Das Dritte Reich im Selbstversuch“ ist eine monolithische Arbeit über den Film im Nationalsozialismus.
Ich möchte versuchen, einige Aspekte herauszuarbeiten, die mir besonders wichtig erscheinen und die von Schmid nicht in den Fokus gestellt worden sind. Dabei werde ich mich nicht an ein strenges methodisches Konzept halten, sondern nach Widersprüchen und Widerhaken suchen, die sich in unserer gegenwärtigen Gesellschaft unschwer finden lassen. Dazu soll auch die Einschätzung gehören, ob Veit Harlans „Jud Süß“ Konnotationen bereithält, die im von den Nationalsozialisten gewünschten Sinne lesbar geblieben sind oder sich möglicherweise in Luft aufgelöst haben.

Jud Süß – Inhalt und Propaganda

Nachfolgend zitiere ich Schmids Inhaltsangabe (kursiv) , die von mir um einige Details ergänzt worden ist.

Vorspann: Die im Film geschilderten Ereignisse beruhen auf geschichtlichen Tatsachen.
Ganze Generationen von Kinogängern wurden mit diesem Zertifikat darauf eingestimmt, dass ‚geschichtliche Tatsachen’ ‚ehrlicher’ seien als durchgängig fiktionalisierte Sujets. Praktisch gesehen kann der Kinogänger diese Behauptung nicht prüfen. Allerdings hat sie auch ein nicht zu unterschätzende Funktion: obwohl filmische Narrationen artifizielle Produkte sind, erwartet der Zuschauer (aus meiner Sicht zu Recht), dass derartige Fiktionen trotz der viel zitierten künstlerischen Freiheit auch lebensweltlich relevante Informationen bereithalten. 
Erschreckend ist daher Folgendes: durchstöbert man das Internet nach Bekundungen ‚ganz normaler’ Filmfreunde zu Harlans Film, so stößt man auf mancherlei, was der akademische Filmkenner gar nicht hören möchte – nämlich, dass es genug Leute gibt, die dem o.a. Vorspann unbesehen glauben! Diese Entdeckung habe ich mehrfach in Kommentaren bei YouTube gefunden.
Deshalb ist es an dieser Stelle notwendig, daran zu erinnern, dass die Drehbuchautoren von „Jud Süß“, Veit Harlan und E.W. Möller, die historische Grundkonstellation zwar übernahmen, die historischen Fakten aber wie bereits ausgeführt im Sinne ihre Auftraggeber nachhaltig umgestrickt und gefälscht haben. So konnte man dem historischen Oppenheimer, der mit seiner umstrittenen merkantilistischen Finanz- und Steuerpolitik die Finanzen Baden Württemberg einigermaßen saniert hatte, in einem Schauprozess kein Vergehen nachweisen. Offenbar sollte der Jude für die Politik seines Dienstherrn Karl Alexander büßen.
Dies ist kein Detail am Rande. Propaganda besteht nicht nur aus ihren menschenverachtenden Botschaften, sondern sie ist ganz essentiell mit der Fälschung von Fakten verknüpft.

1733. Karl Alexander (Heinrich George), zum fetten Lebemann mutierter Kriegsheld, wird Herzog von Württemberg.
Harlan zeigt zu Beginn, dass Karl Alexander (Heinrich George) auf die Verfassung des Landes vereidigt wird. Die Verfassungstreue des neuen Regenten ist ein wichtiger Bestandteils des Eides, den der Landschaftskonsulent Sturm (Eugen Klöpfer) in Anwesenheit weiterer Vertreter der Landschaften abnimmt.
Es ist wichtig zu wissen, dass die württembergischen Landstände (was im weitesten Sinne mit einem Landtag gleichzusetzen ist) als Verbindung der evangelischen Geistlichkeit und des Bürgertums, aber ohne den Adel, Anfang des 18. Jh. ein starkes demokratisches Element bildeten. Allerdings hatte es bereits mit Karl Alexanders Vorgänger Herzog Eberhard Ludwig Probleme gegeben, da dieser absolutistische Ziele verfolgte und sich finanziell nur ungern von den Landständen bevormunden ließ. Interessant ist, dass Harlan i.F. in einem NS-Propagandafilm das Thema ‚Verfassungstreue / Demokratie’ überhaupt vermittelt – in einem totalitären System, das sieben Jahre zuvor die Verfassung der Weimarer Republik pulverisiert hatte.

Nach der Vereidigung fährt Karl Alexander in der Kutsche an einer jubelnden Menge vorbei, eine Frau reißt sich die Bluse auf, was der Herzog mit schallendem Gelächter quittiert. Harlan deutet hier den hedonistischen Lebemann an. Im krassen Gegensatz steht die folgende Szene, die Dorothea (Kristina Söderbaum), Sturms Tochter, und ihren Verlobten Karl Faber (Malte Jaeger) beim arglosen Musizieren zeigt. Sturm tritt hinzu, man isst gemeinsam und Sturms Trinkspruch gilt dem neuen Herrscher, nachdem er bedeutungsvoll gemahnt hat: „Wir sind alle nicht so wichtig“ – ein dezenter Hinweis auf die dem Gemeinwohl verpflichtete ethische Ausrichtung des Mannes. Im Kontext der 1940er Jahre mag man hier einen Einschuss ‚völkischen Gedankenguts’ hineinlesen. Ich behaupte dagegen, dass dieses Verständnis heute nicht mehr zugänglich ist, weil dem heutigen Publikum die kulturellen Codices nicht nur fehlen, sondern durch andere ersetzt worden sind. Der Trinkspruch wird also durch unterschiedliche Konnotationen überlagert.

Weil ihm die Landstände kein Geld bewilligen, lässt er den reichen Juden Süß Oppenheimer (Ferdinand Marian) in die Residenzstadt Stuttgart kommen.
 Als der Gesandte des Herzogs zum ersten Mal Joseph Süß Oppenheimer (Ferdinand Marian) aufsucht, begegnen wir zunächst seinem Sekretär Levy (Werner Krauß), der von Krauß misstrauisch und verschlagen dargestellt wird. Um das Ziel des Besuchers klarzustellen, unterhalten sich der ‚Alte am Fenster’ und der Schächter Isaak (beide erneut Krauß) über die sich abzeichnenden Geldgeschäfte: „Er wird ihm doch wohl nichts geben?“, fragt der Alte. Isaak erwidert: „Er soll ihm geben, damit wir können nehmen, nehmen, nehmen!“
Isaak entspricht in seinem Aussehen der rassistisch motivierten Darstellung des Juden in Fritz Hipplers „Der ewige Jude“, ein Film, der 1940 und damit später als Harlans Films in die Kinos kam. Bevor wir also den polyglott-weltmännischen Oppenheimer zu sehen bekommen, zeigt Harlan bereits dem Zuschauer ganz im Sinne seines Auftraggebers ideologisch korrekt das die rassistische Version des jüdischen Wesen und seiner Ziele. Es ist zunächst die Gier, später wird es die Beherrschung und die Manipulation derer sein, die sich Geld beim Juden leihen und am Ende steht die Unterwanderung des ‚gesunden Volkskörpers’.
Zurück an den Anfang: bevor es soweit ist, muss man sich Marians ersten Auftritt in dem Film genauer anschauen. Oppenheimer soll den Herzog mit Schmuck versorgen. Dem Gesandten stellt er eine Bedingung: er will Karl Alexander den Schmuck persönlich übergeben. Dies ist jedoch wegen der Judensperre nicht möglich und der Gesandte führt aus, dass selbst der Herzog diese Sperre nicht ohne Weiteres gegen den Willen der Landstände aufhaben kann.
Ferdinand Marian spielt in dieser Szene den Juden mimisch und gestisch keineswegs „als Menschen“, wie Roehler seinen Marian sagen lässt, sondern als Typus, mit Kinnbart und traditionell im Kaftan. Mimisch schließt sich das Ganze nahtlos an den o.a. Dialog in der Judengasse an, sodass der Zuschauer vermuten darf, dass sich Oppenheimers Ziele nicht wesentlich von denen Isaaks unterscheiden.
Ungeachtet der Typisierung ist Marians Spiel in gewisser Weise elegant, sogar charismatisch. Seine leise einschmeichelnde Stimme und die Art, wie er seinen immensen Reichtum präsentiert, erzeugen bei dem höfischen Gesandten kaum Misstrauen.
Nach dessen Abgang beklagt sich Oppenheimer Sekretär Levy über die Absicht, den Kaftan abzulegen und den Bart zu schneiden: „Habt Ihr keine Angst vor dem Rabbi?“ Oppenheimer erwidert: „Ich mache die Tür auf für euch alle. In Samt und Seide werdet ihr gehen. Kann sein morgen, kann sein übermorgen. Aber sein wird es!“ Diese Szene wird übrigens auch in Roehlers Film nachgespielt und Tobias Morettis Spiel ist aus meiner Sicht deutlich weicher, mithin sympathischer.

Beide Szenen, also die Krauß-Auftritte und die Figurenzeichnung des Oppenheimer durch Marian halten nach wie vor gefährliche Propagandaeffekte bereit, denen unkritische Zuschauer auch heute noch erliegen können. Gerade das Nebeneinandertreten der ‚eindeutigen’ (Krauß) und der ‚subtilen’ (Oppenheimer) Verortung des Juden dürfte seinerzeit aus Sicht des antisemitischen Ideologen gelungen gewesen sein, da gezeigt wird, dass die Gefahr sich nicht immer offen zeigt, sondern viel wirkungsvoller im Verborgenen lauert. Dass Filme gelegentlich vorgeben, Verborgenes zu enthüllen, kann rezeptionspsychologisch zu einer gefährlichen Generalisierung führen.
Gerade den Umstand, dass Harlan die Karten offen auf den Tisch zu legen scheint, könnten unkritische Gemüter als historische Aufklärung rezipieren, während weniger Naive hier den Kern der Denunziation herauslesen. Kurz gesagt: aufgrund dieser Dispositionen und den im Kino angeeigneten gelernten kulturellen Codes kann nicht ausgeschlossen werden, dass einige Zuschauer auch heute noch diese Harlan-Szene und in Folge auch den gesamten Film als ‚wahr’ decodieren und den Kern des ‚jüdischen Wesens’ erkennen.

Blende auf den nunmehr im Äußeren veränderten Oppenheimer, der nach Stuttgart reist und, so will es der Zufall bzw. das Drehbuch, Dorothea kennenlernt, die sich durchaus vom Charme des nun modern gekleideten Oppenheimer gefangen nehmen lässt. Weltmännisch erzählt er ihr, dass er alle Metropolen Europas kennengelernt habe. Dorotheas Frage, wo er sich denn zuhause fühle, beantwortet mit: „Die ganze Welt“.
Diese Figurenzeichnung ist unschwer als Kritik am ‚kosmopolitischen Juden’ zu erkennen, allerdings nur für den, der die NS-Weltanschauung kennt. Dies kann man von dem Zuschauer der 1940er Jahre vermuten. Es ist keineswegs spekulativ, wenn man dagegen annimmt, dass diese weltanschauliche Attacke am globalisierten Zuschauer abgleiten wird: polyglott zu sein, kann heute als Wettbewerbsvorteil betrachtet werden. Ebenso wenig wird ihn diese Dialogpassage ideologisch infiltrieren. An diesem Beispiel erkennt man: Ideologie ist keineswegs ein monolithischer Wesenskern eines Propagandafilms, sondern sie mäandert mehr oder weniger erkennbar durch die Rezeptionsgeschichte. Einfacher formuliert: einige propagandistische Botschaften sind nach wie vor virulent, andere haben sich möglicherweise dem Zeitgeist gebeugt und quasi vollständig aufgelöst.
Wie problematisch dies auch von anderen wahrgenommen wird ist, zeigt eine Stellungnahme aus der o.a. Tagung "Joseph Oppenheimer, genannt „Jud Süß: Zur Wirkungsmacht einer ‚ikonischen Figur'": „Anke-Marie Lohmeier (Saarbrücken) stellte basierend auf einer Analyse der semantischen Struktur des Filmes die These auf, dass der Film Ambivalenzen aufzeige und nicht durchgängig, "störungsfrei" als antisemitisch bezeichnet werden könne. Die nach dem Krieg einsetzende reduzierte Deutung des Filmes als dem antisemitischen Film des NS-Regimes, die vor allem durch den Prozess gegen Harlan vorangetrieben worden sei, bewertete Lohmeier als Selbstentlastungsversuch. Diese Thesen Lohmeiers waren in der sich anschließenden Diskussion stark umstritten. Kritisiert wurde dabei einerseits, dass eine Analyse der Textstruktur des Filmes kein ausreichender Beleg für ihre These sei, denn auf der bildlichen Ebene würden keine Ambivalenzen auftreten. Andererseits habe die Doppeldeutigkeit der Figur der nationalsozialistischen Propaganda keineswegs widersprochen, sei es doch auch darum gegangen, den 'ewigen Juden' im 'akkulturierten Juden' aufzudecken".

Nicht unwichtig ist in diesem Zusammenhang eine weitere Szene: Oppenheimers Ankunft in Stuttgart. Dorothea und Karl Faber sind zufällig zugegen und Faber stellt erstaunt fest: „Das ist doch ein Jude, der Herr Oppenheimer aus Frankfurt.“ Offenkundig hat auch die Veränderung der äußeren Erscheinungsbildes nicht verhindert, dass ‚der Jude’ sofort erkannt wird. Sturm attackiert Oppenheimer und fordert ihn auf, Stuttgart zu verlassen: „In Stuttgart gibt es keine Judenherbergen!“ Marian spielt die Replik glänzend, er hält die Augen gesenkt, schweigt lange, dann gratuliert er Sturm zu seiner Menschenkenntnis und bleibt „aus Dank“, und dabei richtet Oppenheimer seinen Blick auf Dorothea, und verzichtet, nun zu Sturm gewendet, auf die „entsprechende Antwort“. Auch diese Szene wird bei Roehler eine wichtige Rolle spielen.

Süß finanziert dem Herzog eine Oper, ein Ballett und eine Leibgarde und ist sehr erfinderisch beim Einführen von Brückenzöllen und Wegegeld.
Um die ‚jüdische’ Finanzpolitik zu erklären, zeigt Harlan eine Szene, in der Werner Krauß als Sekretär Levy einem Händler erklärt, wie er den Wegezoll durch eine Erhöhung der Preise kompensieren kann. Als Ergebnis werden die Verbraucherpreise höher, den Preis zahlt also die Bevölkerung. Weniger mathematisch ist dagegen Oppenheimers („ein treuer Diener seines Herrn“) Reaktion auf die Weigerung des Schmieds Hans Bogner (Emil Heß). Der standhafte Schwabe will dem neuen „Finanzgeneral“ (Oppenheimer) kein Entgelt für den Standort seines Hauses (das auf einer fiktiven Straße steht!) zahlen: Oppenheimer lässt daraufhin eine Hälfte des Hauses als Warnung niederreißen. Seine neue Geliebte wird während einer Kutschfahrt begeistert ausrufen: „Wie klug Du bist – aber grausam!“.

Während durch die Abgaben die Lebensmittelpreise steigen, wird der genusssüchtige Herzog immer abhängiger von seinem Hofjuden, den er durch einen Freibrief von jeglicher Verantwortung für sein Handeln entbindet. Schließlich hebt er auf Süß' Betreiben den Judenbann auf.
Heinrich George darstellerische Leistungen sind superb: er spielt den feisten Herzog nicht als zynischen Lebemann, sondern zunächst als ‚gemütlichen Dicken’, der sich mit den Landestöchtern verlustiert. Wenn er Oppenheimer begegnet, spürt man ein unterschwelliges Misstrauen, aber immer lässt sich der Herzog auf die Vorschläge seines Finanzministers ein. Ungemütlich wird der Landesherr allerdings auch, nämlich als er von einer Attacke Bogner auf Oppenheimer erfährt: er lässt den Schmied kurzerhand hängen. Georges facettenreiches Spiel dürfte nicht unerheblich zum damaligen Erfolg des Film beigetragen haben. „Jud Süß“ funktioniert als Historienfilm und Melodram sehr gut: Veit Harlan hat sein Handwerk gelernt.

Neue Juden kommen nach Stuttgart.
Der Einzug der Juden mit ihren vollgepackten Wagen wirkt angesichts der düster dräuenden Musik bedrohlich. Um so unmissverständlicher fällt der Widerstand der Landstände aus, die dem Herzog nunmehr offen ihren Antisemitismus vortragen, indem sie aus Martin Luthers „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) zitieren. Die unversöhnlichen Positionen sind bezogen: auf der einen Seite stehen der katholische Herzog und ‚sein’ Jude, auf der anderen Seite die ‚anständigen’ protestantischen Landstände, die (sicher ganz im Sinne der Goebbelschen Vorstellung von subtiler Propaganda) den ‚großen Deutschen’ Luther (besser gesagt: einen großen deutschen Antisemiten) zur Verteidigung ihrer judenfeindlichen Politik heranziehen können.

Oppenheimer rät zur Auflösung der Landstände und der Gründung eines neuen Ministeriums. Er verspricht dem Herzog, dass der Lauf des Schicksals auf dessen Seite steht. Dies soll der Astrologe Rabbi Loew (erneut Werner Krauß) dem Herzog einreden. Loew wirft der Oppenheimer Eitelkeit vor, sei es doch das Schicksal der Juden in Sack und Asche zu leben, dafür aber im Verborgenen über „die Völker der Erde zu herrschen“. Wieder einmal sorgt Werner Krauß in einer seiner Nebenrollen für die ‚Demaskierung’ der jüdischen Interessen – überhaupt sorgt Krauß aus meiner Sicht für den propagandistisch wirklich relevanten Teil in Harlans Film: er wirkt als gräßliches Klischee durchweg bedrohlicher als der bereits durch seine Assimilierungsversuche von seinen jüdisch-orthodoxen Traditionen entfernte Oppenheimer. Dieser jedoch zeigt sich dem Rabbi rhetorisch überlegen und bringt ihn dazu, dem Herzog die ‚richtige’ Zukunft vorherzusagen.

Um seine Tochter Dorothea vor Süß' Nachstellungen zu schützen, verheiratet der Landschaftskonsulent Sturm sie in aller Eile mit ihrem Verlobten, dem Aktuarius Faber. Sturm wird wegen Verschwörung verhaftet. Süß ermutigt den Herzog, die Verfassung außer Kraft zu setzen und sich zum absolutistischen Herrscher zu machen.
Oppenheimer ist auf dem Höhepunkt seiner Macht, allerdings wirkt Karl Alexander nach der Auflösung der Landstände zunehmend depressiv. Er teilt Oppenheimer offen sein Misstrauen mit. Dabei wirkt er wie ein Souverän, der langsam zu begreifen beginnt, dass ihn der Jude ‚seinen Schwaben’ entfremdet. Trotzdem wird er später der Versuchung erliegen und Oppenheimer in militärischer Hinsicht freie Hand gewähren, um absoluter Herrscher werden zu können.
Marians Spielweise wirkt dagegen in diesen Szenen zunehmend aalglatt, sogar schmierig. Dies ist nicht unwichtig, da die Marian-Figur in Oskar Roehlers Film behaupten wird, den Juden als Menschen darzustellen.

Oppenheimer gelingt es, den Herzog davon zu überzeugen mit dem Geld der jüdischen Gemeinde Würzburger Soldaten zu mieten, um einen zu erwartenden Aufstand niederzuschlagen. Der Obrist von Röder (Albert Florath) wird dies mit den Worten kommentieren: „Die Juden finanzieren den Krieg des Herzogs gegen sein eigenes Volk“.

Faber, einer der Anführer des geplanten Aufstands gegen den Herzog, wird verhaftet und gefoltert. Dorothea lässt sich von Süß vergewaltigen, um ihren Mann zu retten. Dann ertränkt sie sich im Neckar.
Dies ist eine der wenigen Szenen, die man in Ausschnitten immer wieder zu sehen bekommt. Auch Roehler zeigt sie in seinem Film. Die Verführung und Vergewaltigung Dorotheas durch Oppenheimer, der Karl foltern lässt und seine Schreie mit dem Wink seines Taschentuchs beenden kann, dürfte dem Publikum seinerzeit unter die Haut gegangen sein. In einer sehr emotional inszenierten Szene bringt Karl die tote Dorothea heim. Harlans Frau Kristina Söderbaum, die im Kino zweimal den Tod im Wasser fand, hatte nach „Jud Süß“ den Namen ‚Reichswasserleiche’ endgültig weg.
Propagandistisch ist die gesamte Sequenz sicher der Höhepunkt von Harlans Film. Die Oppenheimersche Steuer- und Finanzpolitik dürfte ein latent antisemitisches Publikum kaum so erregt haben wie die tief auf die Eingeweide zielende ‚Schändung’ einer arischen Frau durch einen Juden. Dass diese sexuell Dämonisierung des Juden keineswegs eine originelle Idee gewesen ist, werde ich später noch in einem kurzen Exkurs über die Darstellung der Schwarzen in D.W. Griffiths rassistischen „Birth of a Nation“ ausführen. Es ist anzunehmen, aber nicht zu beweisen, dass  die Macher von „Jud Süß“ die durchschlagende Wirkung von Griffiths Film gekannt haben (der Film hat später zu einer Renaissance des Ku-Klux-Klan in den USA geführt).
Am Ende wird man Oppenheimer nicht wegen seiner Geldpolitik aufhängen, sondern wegen des Verstoßes gegen das von Sturm zitierte alte Reichskriminalgesetz: "So aber ein Jude mit einer Christin sich fleischlich vermenget, soll er mit dem Strang vom Leben zum Tode gebracht werden." Karl Alexanders Nachfolger Carl Eugen soll später gesagt haben: „Das ist ein seltenes Ereignis, dass ein Jud für Christenschelmen die Zeche zahlt“ (ein historisch verbürgter Ausspruch).

Der Aufstand bricht los, der Herzog stirbt an einem Schlaganfall. Süß wird zum Tode verurteilt und in einem eisernen Käfig gehängt. Alle Juden müssen innerhalb von drei Tagen das Land verlassen.
Letzter Auftritt von Sturm, der öffentlich den erneuten Judenbann für Württemberg verkündet. In seinem Schlusswort schließt Sturm seine letzte Warnung leicht durchschaubar mit der Nazi-Ideologie kurz: Oppenheimers Taten müssen nachkommenden Generationen eine Lehre sein. Was den Nazis dabei vorschwebte, muss nicht erwähnt werden. Zu den wirklich guten Szenen in Oskar Roehlers Film gehört daher Joseph Goebbels (Moritz Bleitreus) Auftritt vor der Berliner Presse, bei dem er die Karten auf den Tisch legt und deutlich macht, für welche Ziele „Jud Süß“ instrumentalisiert werden soll.

Exkurs: „Birth of the Nation“ – Propaganda im amerikanischen Kino
Die Begründung des Urteils in Harlans Film zeigt uns deutlich die Beziehung zur erwähnten Funktionalität der Propagandafilme auf: als Teil einer umfassenden Medienstrategie hilft sie bei der Unterdrückung eines rationalen Diskurses zugunsten einer rein emotionalen Wahrnehmung bis hin zur Empörung.
Dies ist allerdings keine Erfindung der Nazis. Ich möchte die filmhistorischen Traditionen daher näher beleuchten, und zwar am Beispiel von D.W. Griffiths legendären Film „The Birth of a Nation“ (USA 1915). Griffiths Film gilt heute als Meilenstein der Filmgeschichte – und zwar wegen des Einfallsreichtums seines Regisseurs, der gleich ein Dutzend innovativer Gestaltungsmittel entwickelte, die eine enorme Weiterentwicklung der Filmsprache mit sich brachten (z.B. die bis heute dramaturgisch bewährte Parallelmontage).

Unumstritten ist „The Birth of a Nation“ aber auch ein extrem rassistischer Film.

Ob Griffith ein Rassist war oder lediglich naiv auf die Vorlage des schwarzenfeindlichen Autors Thomas F. Dixon hereinfiel, ist mir dabei egal. Ich vielmehr auf eine besondere Strategie des Films eingehen: Griffith/Dixon zeigen wesentlich plakativer und drastischer als Veit Harlan die Farbigen als abstoßende Untermenschen, die nach ihrer Befreiung nichts Eiligeres zu tun haben als weiße Frauen zu vergewaltigen. Und sie zeigen, wie der den Norden repräsentierende Kongressabgeordnete Austin Stoneman sexuell von einer Mulattin abhängig ist und von dieser manipuliert (!) wird.
Ähnlich wie in Veit Harlans Film entzieht sich „The Birth of a Nation“ der faktengetreuen Darstellung historischer Konflikte (Griffith hat allerdings behauptet, dass eben dies doch geschehen sei) und zielt auf die Vorurteile und Emotionen des Kinogängers – in diesem Fall auf seine Achillesferse: die dumpfe Angst vor der ungezügelten Triebhaftigkeit. Die Projektion der vermuteten heimlichen Natur des Sexus auf den rassisch Anderen scheint also tatsächlich eines der wichtigsten Instrumente verhetzender Propaganda zu sein. Dass die heftige Sexualisierung des Sujets bei Oskar Roehler mitsamt seiner Sex-Trashszene vor diesem Hintergrund beinahe einen superben Witz besitzt, wenn man ihn denn als ‚Rückprojektion’ deutet, wird später noch zu diskutieren sein.

Zurück zu „The Birth of a Nation“. Vor fast hundert Jahren löste dieser Film Proteste und Unruhen aus – und er wurde in den USA von einigen Städten in insgesamt acht Bundesstaaten verboten. Dies aber nur vorübergehend. Immerhin soll „The Birth of a Nation“ auch heute noch vom Ku-Klux-Klan als Rekrutierungsinstrument genutzt werden.
In Deutschland lief der Film 1966 im NDR-Fernsehen, ohne dass mir bekannt ist, in welchem Rahmen dies geschah. Heute kann man sich in Deutschland „The Birth of a Nation“ als DVD kaufen – ohne pädagogische Aufklärung.
Das ist doch interessant: „Jud Süß“ gehört in den Giftschrank, aber ein Film, der Schwarze quasi ‚von Natur aus’ als Frauenschänder darstellt, darf in der Bundesrepublik im TV laufen, ohne dass sich jemand Gedanken darüber macht, ob der deutsche Michel nicht anschließend zum Rassisten mutiert.
Dies zeigt, dass unsere Tabus und Verbote offenbar auf mehr beruhen als einer sachlich und rational geführten Diskussion.

Jud Süß – ein Fazit
Natürlich ist Veit Harlans Film ein Botschafter der NS-Propaganda. Einige Wirkungsaspekte des Films können sich vermutlich nur im historischen Kontext der damaligen Zeit beim damaligen Zuschauer entfalten, andere sind geeignet, auch heute noch antisemitische Reflexe auszulösen. Und zwar ganz einfach aus den bereits dargelegten Gründen: Antisemitismus existiert immer noch. Deshalb stellt sich die Frage nicht, ob diese Reflexe dort ausgelöst werden, wo fruchtbarer Boden auf sie wartet. Es gibt ihn. Oder wie mein Freund Klawer bei der Durchsicht dieses Artikels über Propaganda und Antisemitismus feststellte: „Es gibt keinen Bruch in der Nachkriegsgeschichte, keinen neuen "guten" Deutschen ohne die Vergangenheit, es mäandert weiter auch in entfernteren Generationen.“

Filmwissenschaftler und Kritiker reden ungern darüber, dass es Menschen gibt, die nicht so intelligent, gebildet und profund informiert sind wie sie oder sie verpacken das Problem im Begriff ‚bildungsferne Schichten’. Ob Bildung Kritiker generell resistent gegen Propaganda macht, sei dahingestellt. Ich vermute aber, dass die, über die man nicht gerne spricht, es graduell noch weniger sind. Und dies löst durchaus einen begründeten Zweifel aus: Verbieten oder nicht?

Es gibt aber noch weitere Überlegungen, die unsere Diskussion nicht gerade vereinfachen. Als ich während der Verfassung dieses Textes mit einem Lehrer aus dem Ruhrgebiet über dieses Problem diskutierte, rief er spontan: „Wegschließen! So etwas darf nicht gezeigt werden!“
Warum dies? Seine Argumente haben mich nachhaltig erschüttert: seine 14- bis 16-jährigen Schüler stigmatisieren in einer latent gewalttätigen Schul- und Mobbingkultur die von ihnen ‚erwählten’ Außenseiter sprachlich als ‚Opfer’ . Dies bedeutet nichts anderes, als dass dem Begriff des Opfers sein Empathiewert entzogen und auf sadistisch-lustvolle Weise neu besetzt wird. Und die von meinem Bekannten in den Blick genommene Klientel würden nach seiner Einschätzung vermutlich lustvoll Nazi-Filme konsumieren, wenn sie es könnten. Nicht, weil sie von deren ideologischer Aussage begeistert wären, sondern weil sie die Technik bewundern würden, mit der die deutsche Faschisten aus Menschen entwertete Opfer gemacht haben. Vielleicht ist das nur eine Momentaufnahme, aber sie zeigt doch, wie bizarr und verhängnisvoll die moralische Sozialisation in unserer Gesellschaft in bestimmten Milieus verlaufen ist.

Medienpädagogisch könnte man, so wird der eine oder andere einwenden, doch alle Zweifel mit einer geschichtsdidaktisch hochwertigen „Jud Süß“-Edition ausräumen, oder?
Diese Hoffnung teile ich auch. Zweifel kommen auf, wenn man weiß, dass die meisten Menschen die ‚Verschulung’ eines Kinoabends genauso fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Am Bonusmaterial sind halt nur die Buffs und Nerds und Kritiker interessiert – meistens jedenfalls. Auch die Küpper/Zick-Studie deutet an (was auch zahlreiche Medienpädagogen fürchten), dass die jahrzehntelange Aufklärung in den Schulen zum Teil gescheitert ist. Muss man sie deshalb einstellen? Nein.

Kommen wir zu den eingangs gestellten Fragen: Ist „Jud Süß“ nach wie vor ein gefährlicher anti-semitischer NS-Propagandafilm?
Vermutlich ja. „Jud Süß“ ist einer der erfolgreichsten NS-Propagandafilme gewesen, der auch heute aus erwarteten, aber auch aus unerwarteten und sehr hässlichen Gründen gefährlich sein kann, obwohl die Gründe sehr komplex sind und sich zum Teil, aber nicht zur Gänze, einer empirischen Überprüfung entziehen.

Ist ein Verbot von „Jud Süß“ weiterhin sinnvoll?
Filmkritiker sind an sich liberale Naturen und verabscheuen Zensur. Trotz der auch während der Verfassung dieses Textes erheblich gesteigerten Zweifel würde ich gänzlich illusionsfrei für eine medienpädagogisch aufbereitete Form der Verbreitung einiger Filme auf DVD und Bluray plädieren. Einer generelle Freigabe für die kommerzielle Auswertung würde ich nicht zustimmen. Entscheidend ist für mich, dass Antisemitismus und Rassismus unabhängig von seiner medialen Verarbeitung existieren und durch Medienzensur nicht beseitigt werden. Wenn weder die Sinnhaftigkeit des Verbotes schlüssig bewiesen werden kann noch das Plädoyer für eine vollständige Liberalisierung, so sollte man die Möglichkeit einer offensiven Auseinandersetzung mit Propagandafilmen suchen, um zu lernen, wie sie funktionieren: „Auch angesichts des Terrors von Norwegen: nur die demokratische Auseinandersetzung mit allen Richtungen und Meinungen und das als permanenter, nie abgeschlossener Prozess ist die Chance“ (Klawer).

Muss man „Jud Süß“ gesehen haben, um sich ein Bild von Oskars Roehler „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ machen zu können?
Ja, man muss Veit Harlans Film gesehen haben, um erfassen zu können, was uns Oskar Roehler erzählen will. Wie immer lässt sich aber zu den genannten Fragen aber keine Gewissheit gewinnen und so bleibt auch bei mir die Erkenntnis haften, dass alles, was man tut und tun kann, mit einem Restrisiko behaftet ist. Eine aus tiefer Überzeugung gewonnene Antwort kann ich nicht geben.


Teil 3: Jud Süß – Film ohne Gewissen (Deutschland, Österreich, 2010)

Die bislang gemachten Ausführungen haben einen erheblichen Einfluss auf die kritische Auseinandersetzung mit Oskars Roehlers Film, wobei ich die für mich überraschende Erfahrung machen musste, dass die vertiefende Analyse beider Filme dazu geführt hat, dass ich Roehlers Film weniger kritisch gegenüberstehe wie am Anfang meiner Arbeit. Dies wird noch zu begründen sein.

Inhalt
Minuten 0-30
Ferdinand Marian/Jago (Tobias Moretti) und sein jüdischer Kollege Adolf Wilhelm Deutscher/Othello (Heribert Sasse) bei den Proben zu Shakespeares „Othello“. Goebbels (Moritz Bleibtreu) und Reichsfilmintendant Fritz Hippler (Ralf Bauer) nehmen zunächst unbemerkt auf der Empore Platz. Hippler regt sich über das „Entartete“ auf, Goebbels beschwichtigt. Er ist begeistert davon, dass Marian den Intriganten Jago wie einen Juden gibt. Außerdem käme, so Goebbels, das Stück ohnehin nicht zur Aufführung.
Deutscher erfährt, dass das Stück nicht aufgeführt wird: Keine Juden mehr auf deutschen Bühnen. Im Foyer trifft Marian Goebbels und Hippler. Goebbels ist charmant und lobt den Mimen: „Das Böse ist doch immer interessanter als das Gute!“.

Heilig Abend 1938: Die Familie ist bereits versammelt, aber Marian verspätet sich, rückt die Situation aber charmant zurecht. Zwischenschnitte auf das Dienstmädchen Britta (Anna Unterberger) sind andeutungsvoll: der Zuschauer soll begreifen, dass die Familie offenbar nicht intakt ist. Anna Marian (Martina Gedeck) fragt ihren Mann, ob sie Deutscher herüberholen soll. Marian stimmt zu.
Deutscher lebt offenbar bei den Marians im Gartenhaus. Während Anna zu ihm geht, küsst Marian das Dienstmädchen in der Küche und schiebt ihren Rock widerstandslos hoch. Die Zwischenschnitte sind erklärt: der Mime hat ein Verhältnis mit der jungen Frau. Beide werden von Marians kleiner Tochter überrascht. Später bringen Marian und sein Frau das Kind zu Bett. Die Kleine wendet sich von der Mutter ab: „Du sollst den Papa mehr lieb haben!“

Schnitt auf Goebbels verkrüppelte Füße. Er nähert sich mit einem Skript in der Hand Veit Harlan (Justus von Dohnányi): „(zitiert Textstelle) Dieser schmierige Jude wird sich nicht an meine Tochter ranmachen. (Wieder normal) Das ist doch viel zu platt!“ Goebbels spielt auf die Szene zwischen Oppenheimer und Sturm an, in der Oppenheimer um dessen Hand anhält. Goebbels weiß es besser: „Meine Tochter wird keine Judenkinder in die Welt setzen!“ So wird es später auch im Originalfilm von Sturm zu hören sein. Harlan: „Sehr gut, Herr Minister. So ähnlich hätte ich es auch geschrieben.“ Mit einem knappen Pinselstrich ist Harlan als unterwürfige Ja-Sager skizziert. Goebbels wettert weiter: er wolle einen künstlerischen Film, keine billige Propaganda. Von welchem Film die Rede ist, erfährt der Zuschauer noch nicht.

Goebbels hält eine aggressive Neujahrsansprache. Schnitt auf die Familie Marian, die zusammen mit Freunden vor dem Volksempfänger den Worten des Propagandaministers lauschen. Unter den Gästen befindet sich auch Deutscher. Schnitt auf die Familie Goebbels, die mit Gästen ebenfalls feiert. Unter ihnen Harlan, der voller Inbrunst das Deutschlandlied mitsingt.
Goebbels ruft Marian an und übermittelt Neujahrsgrüße – und eine neue Rolle. Marian reagiert sehr reserviert und unsicher, im Kreise der Freund gibt er jedoch zu erkennen, dass das Angebot, mit Harlan zusammenzuarbeiten, ihm durchaus schmeichelt. Britta tritt auf und verabschiedet sich. An ihrer Seite ihr Freund Lutz (Robert Stadlober), ein SA-Mann. Beim Abschied karikiert Marian den Hitler-Gruß.

Die Exposition ist Roehler durchaus gelungen. Dieses Setup führt die Hauptfiguren schnell und präzise ein und bereitet sie auf den Kernkonflikt vor. Handwerklich ist dies gut gemacht: Marian wird als sympathischer liberaler Hallodri ohne ideologische Interessen vorgestellt – dies soll die Figur des frei erfundenen jüdischen Freundes Deutscher zeigen. Seine Frau Anna ist das nachdenkliche Korrektiv an seiner Seite. Aus Veit Harlan hat das Drehbuch einen schmierigen opportunistischen Wendehals gemacht, der Goebbels zu Willen ist, aber privat ‚natürlich’ kein Antisemit sein will. Goebbels wird von Bleitreu brillant gespielt und irgendwo zwischen rheinischer Frohnatur und brutalem Mafioso angesiedelt.
Bedeutsam ist die bereits in den ersten Minuten erkennbare Bereitschaft Roehlers, die historischen Fakten seinen dramaturgischen Zielen anzupassen. Den jüdischen Freund Deutscher hat es nicht gegeben, allerdings erlaubt die erfundene Figur eine Reihe dramaturgisch wichtiger Dialoge, die Marians Motive und Widersprüche verdeutlichen sollen.
Die Darstellung Harlans ist noch am ehesten zu akzeptieren. In den Harlan-Prozessen nach Kriegsende verteidigte sich der Regisseur mit der Aussage, dass Goebbels entscheidende Passagen des Drehbuches verfasst hat. Roehler legt die Rolle also sehr eindeutig an. Diese Darstellung kann aber auch dadurch gerechtfertigt werden, dass sie den Notizen in Goebbels Tagebüchern entspricht : „Mit Harlan und Müller den Jud-Süßfilm besprochen. Harlan, der die Regie führen soll, hat da eine Menge neuer Ideen. Er überarbeitet das Drehbuch noch mal... Besonders der Jud-Süßfilm ist nun von Harlan großartig umgearbeitet worden...“ (Joseph Goebbels: Die Tagebücher von Joseph Goebbels (Einträge v. 5. und 15.12.1939).

Ich habe bereits diskutiert, dass anstelle des Schauspielers Ferdinand Marian die wesentlich interessantere Figur des Veit Harlan besser als Hauptfigur gepasst hätte. Abgesehen davon, dass Roehler möglicherweise mit der Verführung Marians durch Goebbels eine Neuauflage des Faust-Sujets vorgeschwebt hat, ist der auf Marian gerichtete Fokus nicht völlig unlogisch: Marian bietet einen kinogerechten Abgang, nämlich seinen dramatischen Tode kurz nach dem Krieg. Die Geschichte Veit Harlans hätte dagegen weitererzählt werden müssen – bis zu den berüchtigten Harlan-Prozess in den 50er Jahren. Dies wäre ein anderer, sehr komplexer Film geworden. Und möglicherweise auch der interessantere!

Veit Harlan, Werner Krauß (Milan Peschel) und Marian in einem Hotelfoyer. Marian sträubt sich gegen die ihm zugedachte Rolle, die ihn wohl eher berüchtigt als berühmt machen würde. Harlan wehrt ab und verweist auf Wilhelm Hauff, der auch den Stoff bearbeitet habe, und auf den Roman Feuchtwangers – immerhin ein Jude! Harlan skizziert kurz den Lebenslauf Oppenheimers, der wegen „Bereicherung“ zum Tode verurteilt wurde. Marian gibt zu bedenken, dass der Film eigentlich nur reine Propaganda werden könne. Harlan lenkt ab: nicht mit ihm, er habe schließlich viel jüdische Freunde. Krauß wirft ein, dass auch ihm die Sache nicht ganz koscher vorkommt. Danach spielt er einen Dialog zwischen Goebbels und ihm, wobei er Goebbels imitiert und für seinen Part  die Tonlage annimmt, mit der er später den Rabbi Loew spielen wird. In die Szene platzt Goebbels mit Gefolge ganz im Stil eines Mafia-Bosses. Roehler schneidet auf Frauen an der Bar, die schmachtend die Augen verdrehen. Goebbels gibt sich jovial, aber entschlossen und drängt Marian, die Rolle des Oppenheimer in diesem „kriegswichtigen Film“ zu übernehmen. Marian ziert sich. Goebbels lobt Krauß` Idee, alle jüdischen Rollen zu übernehmen. Das würde zeigen, dass „alle jüdischen Temperamente und Charaktere aus ein und derselben Soße stammen.“ Beim Abschied weist er Marian daraufhin, dass seine Spitzenhonorare natürlich steuerfrei sind. Abgang. Harlan erwähnt, dass andere Schauspieler für die Marian zugedachte Rolle nicht in Frage kämen: die Probeaufnahmen seien ein Katastrophe gewesen. Marian verlangt ironisch ebenfalls eine Probeaufnahme und begibt sich ans Klavier, nachdem er von einer Frau an der Bar eine unmissverständliche Offerte erhalten hat.

Deutscher unterhält sich mit Anna Marian im Gartenhaus: er ist einsam und isoliert und fühlt sich verzweifelt. Er zitiert bedrohlich den Monolog Mephistos aus der Pudelszene und spricht von „jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Sarkastisch fragt er, warum er dies nicht mehr spielen dürfe: dies sei doch eine ideale Rolle für einen Juden! Anna verabschiedet sich vor dem Häuschen herzlich von Deutscher und wird dabei von Britta beobachtet.

Anna und das Dienstmädchen räumen Wäsche ein. Britta beginnt nach Deutscher zu fragen: was dieser wohl den ganzen Tage tun würde. Anna weist sie brüsk zurecht und verlässt kurz darauf den Raum. Britta, die zuvor schon Briefe in einer Schublade entdeckt hat, zieht diese nun heraus und sieht, dass sie in Hebräisch verfasst worden sind.

Ein Hotelzimmer: Marian hat sich indes mit der Frau aus der Bar vergnügt. Sie liegt anzüglich auf dem Bett. Beide versichern sich, dass sie ihre jeweiligen Ehepartner lieben.

Wieder zuhause fragt Marian seine Frau nach der Qualität des Drehbuches. Man sieht den Titel: „Jud Süß“. „Ist es schlecht?“, fragt Marian. „Nein, schlecht ist es nicht – aber furchtbar!“ Ihre Tochter kehrt aus der Schule zurück und sagt ein antisemistisches Hetzgedicht auf. Marian: „Ist ja schrecklich!“ Das Kind rennt verletzt aus dem Zimmer. Marian spricht mit Anna über den Film und fürchtet um sein Reputation: wenn er den Juden spielt, glaube man am Ende, er sei selber einer. Anna: „Wenn das Deine einzige Sorge ist!“

Probeaufnahmen: anwesend sind Harlan und Hippler. Marian muss nur ein Satz sagen und regt sich darüber auf, dass er nicht „ausspielen“ dürfe. Er wird entlassen, die Stimmung ist kühl.
Deutscher wird verhaftet und u.a. von Lutz fortgeführt. Britta und ihr Verlobter haben den Juden denunziert. Nach einem Streit mit Anna Marian verlässt das Dienstmädchen empört das Haus.

Marian kehrt nach Haus zurück. Seine Frau hat sich im Gartenhaus eingeschlossen, öffnet dann aber doch die Tür. Marian sieht keine Chance, seinem Freund Deutscher zu helfen und beklagt sich stattdessen darüber, dass Britta gegangen ist und offenbar zu Unrecht verdächtigt worden ist. Anna ist kühl und abweisend. Als Marian das Häuschen verlässt, hört er aus Marias Zimmer die Klänge ihrer Geige und kindlichen Gesang: seine Tochter intoniert das Horst Wessel-Lied. Auf Marians Gesicht liegt blankes Entsetzen.

Das eheliche Schlafzimmer: Anna bietet Marian an, ihn zu verlassen und zu ihre Mutter nach Österreich zu gehen. Marian ist erschüttert und fleht seine Frau an, ihn nicht zu verlassen.

Minuten 30 - 60
Goebbels und Harlan im Gespräch: Harlan berichtet von Marians Angst, für einen Juden gehalten zu werden. Goebbels verweist auf die exzellente ‚jüdische’ Interpretation des Jago. Marian kommt hinzu und Goebbels überschüttet ihn mit Komplimenten. Marian lehnt die Rolle des Jud Süß jedoch ab, da er sich überfordert fühlt. Goebbels erinnert ihn an seinen letzten Film und fragt Marian scheinheilig nach dem Titel. „Morgen werde ich verhaftet“, antwortet der Schauspieler (tatsächlich ist dies Marians vorletzter Film gewesen). Goebbels wiederholt den Satz anzüglich und schaut Marian vielsagend an. Harlan verlässt den Raum. Als sich Marian weiterhin weigert, bekommt Goebbels einen Tobsuchtanfall und setzt Marian brutal unter Druck. Marian versucht diplomatisch zu argumentieren, dies steigert aber Goebbels Zorn. Die Auseinsetzung endet damit, dass Marian einen Aschenbecher nimmt und ihn vor Zorn bebend zerschmettert: „Nein, ich mach’s nicht!“ Er marschiert aus dem Raum.
Goebbels betritt das Schreibzimmer vor seinem Büro, wo Harlan wartet. Goebbels ist überraschend erheitert und schildert Harlan genüsslich, wie Marian ihm den Aschenbecher vor die Füße geworfen hat: „Großartig! Er ist genau richtig für die Rolle!“

Marian betrinkt sich zu Hause. Anna betritt den Raum. Marian erklärt ihr, dass er die Rolle abgelehnt hat: „Ich kriege nie wieder eine Rolle, ich bin erledigt!“

Goebbels am Schreibtisch. Er studiert Briefe und entnimmt ihnen, dass eine nicht genannte Person Jüdin ist. Spätestens an dieser Stelle darf das Publikum annehmen, dass Marians Frau Jüdin ist. Der Gegenschuss zeigt Britta. Goebbels öffnet seinen Hosenschlitz und fordert Britta auf, zu ihm zu kommen.

Marian und seine Frau folgen einer Einladung Goebbels zu einer Abendgesellschaft. Magda Goebbels (Lena Reichmuth) erfährt im Gespräch mit Anna, dass diese Schauspielerin gewesen ist und fragt, warum sie nicht mehr spiele. Anna ringt noch mit der Antwort, als Marian die Situation entschärft: er wäre keine gute Hausfrau. Goebbels wirft sichtbar boshaft ein, dass Marian guter Freund Deutscher ja auch nicht mehr spielen würde, was er ‚persönlich’ sehr bedauere. Magda will Anna die Schauspielerin Kristina Söderbaum vorstellen, auch Goebbels entfernt sich. Dann treten Werner Krauß und Heinrich George (Armin Rohde) zu Marian. George erzählt den Witz vom Teufel und dem Schauspieler, dem der Teufel alle Wünsche erfüllen will, wenn er ihm seine Seele vermachen würde. Der Schauspieler erwidert: ja, ja, aber wo ist der Haken? George fügt noch einen Himmler-Witz hinzu: dieser liegt auf dem Sterbebett und will zum Judentum übertreten. Auf die Frage, warum er dies wolle, antwortet Himmler: Wieder einer weniger!
Goebbels hat den Witz gehört und schlägt George jovial auf die Schulter. Er wiederholt die Pointe mit einem boshaften Unterton. George bleibt das Lachen im Halse stecken. Dann stellt Goebbels der Gesellschaft Ferdinand Marian als Hauptdarsteller des neuen Films vor und lobt ihn überschwänglich. Marian lächelt verlegen, widerspricht aber nicht. Goebbels in Rage: „Denn dieser Film, meine Freunde, wird unser ‚Panzerkreuzer Potemkin’ sein!“
Goebbels wendet sich zu Hans Moser, der ihn unterwürfig bittet, die Rückkehr seiner jüdischen Frau zu gestatten, die doch so ein feiner Mensch sei. Goebbels erklärt dem ganzen Saal, dass es sicher 80 Millionen gute Juden in Deutschland gäbe, da doch jeder Deutsche mindestens einen kennt. Zu Moser: er sei der Lieblingskomiker des Führers, daher solle er warten, bis der Krieg gewonnen sei, dann könne man darüber reden.
Es wird getanzt. Harlan erklärt dem nun etwas geschmeichelten Marian, dass dieser unter seiner Leitung einen Juden abliefern werde, der in die Geschichte eingeht.
Goebbels näher sich Anna und fragt, ob sie nicht wieder eine kleine Rolle spielen wolle. Anna gibt sich reserviert und verweist auf ihre mütterlichen Pflichten. Zwischenschnitt auf Magda Goebbels. Goebbels flüstert Anna nun ins Ohr, dass er die Leidenschaft spürt, die in ihr brennt.
Marian im Gespräch mit Britta und Lutz. Britta erwähnt, dass sie im 7. Monat schwanger ist. Wenig später verlassen Marian und Anna die Gesellschaft, Anna hält das Treiben nicht mehr aus. Goebbels verabschiedet beide jovial.

Zuhause verteidigt Marian sein Mitwirken an „Jud Süß“. Goebbels wolle schließlich keinen plumpen antisemitischen Film, dazu sei er zu klug. Marian rechtfertigt sich: er werde einen Juden spielen, mit dem alle Mitleid hätten, einen Menschen, alle würden seinem Charme verfallen.

Erste Proben: Marian und Malte Jaeger / Karl Faber (Malte Butzke) lesen die Szene, in der sich Oppenheimer und Faber zum ersten Mal begegnen. Marian / Oppenheimer spielt die Szene so eindrucksvoll, wie sie später im Film zu sehen wird. Harlan bemängelt das fehlende Selbstbewusstsein und fragt Marian, warum er die Augen senkt. Marian erklärt, das Oppenheimer gedemütigt worden sei. Harlan weist den Schauspieler zurecht und verlangt von ihm, so zu spielen, wie er es anordnet. Überhaupt: Morgen sei der Minister Goebbels bei den Dreharbeiten. Marian: Gut, dann solle man diesem das Urteil überlassen.
Schnitt auf die Dreharbeiten am folgenden Tag. Marian spielt die Szene wie gehabt, im Hintergrund sieht man Goebbels, der stumm den Dialog mitspricht. Harlan ist erneut erbost, doch Goebbels verteidigt den Mimen. Harlan weist daraufhin, dass Marian die Szene mit zu viel Würde spielt. Goebbels: nein, dies sei glänzend, der Jude sei doch ein Mensch und kein Monster, sonst würde doch jeder denken ‚Was für eine billige Propaganda!’. Goebbels spielt sogar eine kurze Szene. Harlans Gesichtszüge werden nachdenklich, dann lächelt er gequält: „Sie wären ein guter Schauspieler, Herr Minister!“ Goebbels: „Was heißt: ich wäre? Ich bin’s, mein lieber Harlan, ich bin’s!“
Dann verkündet er den erfolgreichen Einmarsch der deutsche Wehrmacht in Paris und weist Marian an, Harlan zur Rekrutierung von jüdischen Statisten ins polnische Ghetto zu begleiten. So hätte Marian die Gelegenheit, ‚richtige’ Juden zu studieren.

Im Ghetto: ausgerechnet Deutscher wird als Dolmetscher aus der wartenden Menge der Juden herausbefohlen und zunächst aufgrund seines Namens vom SS-Offizier Frowein gedemütigt. Harlan weist ihn an, geeignete Statisten zusammenzustellen. Marian besteht darauf, dass Deutscher ebenfalls zu den Dreharbeiten fährt. Zu Harlan: „Sehen Sie sich sein Gesicht an.“

Wochen später: die Dreharbeiten wurden kurzfristig unterbrochen. Marians Frau tanzt im Negligé betrunken durchs Wohnzimmer. Marian tritt hinzu, Anna macht ihm eine Szene: sie wollen ausgehen und so verrückt sein „wie ihr alle“. Sie spielt auf Marians Affären an und will mit ihm schlafen. Marian nimmt sie an Ort und Stelle.

Am Set: die jüdischen Statisten musizieren ausgelassen. Marian unterhält sich mit Deutscher. Der Regisseur Erich Engel (Ralf Zacher) stellt Marian die Tschechin Vlasta vor. Weiter: Marian und Deutscher im Gespräch. Hippler betritt den Raum und Marian fragt (obwohl er Hippler kennen muss): „Wer ist denn der?“. Deutscher erklärt ihm, dass Hippler gerade „Der ewige Jude“ gedreht hat und Juden vor der Kamera zum Geschlechtsverkehr gezwungen hat. Kurze Episode mit Dr. Knauf (Martin Feifel) von der Presseabteilung der Terrafilm, der Deutscher anbietet, weitere Komparsenrollen zu übernehmen. Deutscher: „Als was? Als Jude vom Dienst?“. Alle sind betrunken und wenig später sitzt Vlasta bereits auf Marians Schoß,

Die „Aschenbecher“-Szene ist historisch umstritten, besitzt aber eine dramaturgische Funktion. Die Sex-Szene zwischen Goebbels und Britta ist lächerlich und überflüssig.
Die Szene, in der sich Marian nach dem Eklat bei Goebbels betrinkt, wurde von Marian nach Kriegsende in einem Bericht auf die gleiche Weise beschrieben. Hier übernimmt Roehler eindeutig Marians Perspektive, während der Eintrag in Goebbels Tagebuch mitnichten auf einen Eklat hinweist.

Wichtiger und der erste Plot Point des Films ist die Abendgesellschaft, auf der Goebbels seinen neuen Star Marian präsentiert. Zwischen der „Aschenbecherszene“ und der völligen Willenlosigkeit Marians tut sich hier eine gewaltige Leerstelle auf.
Diesen aus der Rezeptionsästhetik Wolfgang Isers übernommenen Begriff bei einer Filmanalyse zu verwenden, ist nicht unproblematisch. in der Literaturwissenschaft bezeichnen die Vertreter der Rezeptionsästhetik die Leerstelle als das ‚Fehlen von etwas’ im Sinne einer unausgefüllten Reibungsstelle zwischen den Beschreibungen eines Vorgangs oder eines bedeutsamen Moments in der Handlung. Sowohl in der Interpretation als auch in der Rezeption eines Textes müssen Leerstellen ausgefüllt oder gedeutet werden. Nur so kann ein Textsinn entstehen.
Wenn ich diesen Begriff in der Filminterpretation verwende, so bedeutet dies etwas graduelle anderes. Leerstellen sind Stellen in der filmischen Narration, die gewollt und ungewollt vom Zuschauer kurzfristig Deutungen verlangen, um den weiteren Fortgang des Geschehens überhaupt sinnvoll verstehen zu können. Diese Deutungen können hypothetisch sein. Dies wird erkennbar, wenn man in der aktuellen Rezeption bereits erfolgte ad hoc-Deutungen mit anderen überlagert, weil man neues Wissen über die Figuren und ihre Motive erlangt hat. Der hypothetische Charakter wird ebenfalls erkennbar, wenn man einen Film erneut sieht und plötzlich neue Deutungshypothesen wahrnimmt oder erprobt. So etwas hat wohl jeder bereits irgendwann erlebt.
Störend erscheint vielen Rezipienten, dass das Deutungsgeschehen eine unübersehbare Dynamik besitzt. Häufig scheint man sich sicherer zu fühlen, wenn man einem literarischen Text oder einem Film einen konstanten Sinn zuweisen kann. Einem dynamischen Deutungsgeschehen wird indes eine gewisse Willkür und Beliebigkeit unterstellt. Dies ist allerdings nicht richtig, da die Deutung von Leerstellen nur im Rahmen der narrativen Informationen stattfinden kann, die der Rezipient erfahren hat. Wenn man sich also fragen muss, warum Marian seinen Widerstand aufgegeben hat, so wäre die Vermutung, dass er über Nacht zum glühenden Nationalsozialisten geworden ist, nicht besonders plausibel. Nahe liegender sind Deutungen wie Angst, Unsicherheit, Geschmeichelt-Sein. Leerstellen können in der Regel nicht willkürlich gefüllt werden, sondern nur mehr oder weniger plausibel.
Das Bedeutsame an der Leerstelle ist vielmehr das Aufeinandertreffen von allgemeinem Weltwissen des Rezipienten und der Dramatisierung eines Themas im Text oder im Film. Da sich das allgemeine Wissen nie auf einem konstanten Level bewegt, werden wir immer wieder die Erfahrung machen, dass sich der Text oder Film von einer neuen Seite zeigen. Somit ist die Leerstelle auch jene Schnittstelle, an der sich der kaum endgültig zu beendende Diskurs über ein Kunstwerk festmachen kann.
Worauf läuft dies hinaus? Wenn wir wenig von der Welt und den Tatsachen wissen, wird es uns schwerfallen, das Problem der künstlerischen Freiheit zu bewerten. Ist eine Modifizierung der Tatsachen (wenn sie denn bekannt sind!) eine Fälschung oder führt sie uns zu einem produktiven Diskurs? Wissen wir jedoch ausreichend genug, so werden wir uns eher eine Meinung darüber bilden können, ob die Fiktionalisierung von historischen Tatsachen in einem erträglichen Rahmen stattfindet oder ob wir sie ablehnen müssen.
Im vorliegenden Fall wird uns Marians unerklärliche Wetterwendigkeit noch weiter beschäftigen. Die Leerstelle zwischen der „Aschenbecherszene“ und Marians Kapitulation wird die Rezeption des Films bis zum Ende begleiten, vor diesem Hintergrund ist sie ein spannungssteigerndes Element und ein (noch) uneingelöstes Versprechen.

Minuten 60 -90
Vor der Produktionshalle: Deutscher wirft Marian vor, dass dieser ihn nach Berlin an den Set geholt habe, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Schließlich habe er doch für seine Verhaftung gesorgt. Marian weist dies brüsk zurück, nimmt aber Deutschers etwas ironische Entschuldigung an und verspricht ihm, dass „Jud Süß“ ein künstlerischer Film wird. Deutscher lässt sich dies per Handschlag versprechen.
Rohschnittsichtung durch Goebbels und Hippler. Man sieht in nachgestellter Version die Szene, in der der Gesandte des Kurfürsten Oppenheimer um Schmuck bittet.  Es folgen die Szenen: erster Auftritt Oppenheimers beim Kurfürsten, die Ballet-Szene (Oppenheimer gibt dem Kurfürsten einen Ring zwecks Verführung einer Balletteuse). Goebbels kommentiert die Ausschnitte: „Sehen Sie Hippler, das ist das, was ich meine: subtile Manipulation!“

1940, Filmfestspiele Venedig: die Kamera fährt an Harlan und den geladenen Stars vorbei und erfasst zuletzt Marian und seine Frau. Marian sieht gequält aus. Auf der Leinwand läuft zunächst die Verhaftung Fabers, dann folgt direkt die Vergewaltigung Dorotheas. Der Ausschnitt endet damit, dass Oppenheimer die junge Frau aufs Bett wirft.
Schnitt: Goebbels lässt sich nach der Premiere feiern. Gefeierter Star ist jedoch Ferdinand Marian, der von Autogrammjägern umringt wird. Hippler fragt Anna, ob sie auf ihren Mann stolz sei. Anna, sehr glaubwürdig: „Natürlich!“.
Anna und Marian. Anna: „Du warst wirklich wunderbar in der Rolle.“ Marian: „Dabei habe ich keine einzige Regieanweisung befolgt!“. Knauf und Donadoni (Alexander Strobele), ein Produzent, treten an den Tisch. Der Italiener stellt Marian ein internationales Projekt in Aussicht. Hippler gesellt sich zu ihnen und zitiert aus einer Zeitung das begeisterte Resümee des italienischen Filmkritikers Michelangelo Antonioni
Anna versucht ihren Mann davon zu überzeugen, Deutschland zu verlassen und nach New York zu gehen. Marian will jedoch erst noch zur Premiere nach Berlin. Man sieht an den Closeups, dass Anna ihrem Mann nicht mehr traut, auch Marians Mimik lässt Zweifel an seiner Aussage zu.
Premiere in Berlin: auf der Leinwand ist die Szene zu sehen, in der Herzog Karl Alexander Oppenheimer eine Affäre mit seiner Frau vorwirft und sein Misstrauen bekundet. Es folgt die Szene mit dem Massenauflauf vor der Residenz und Oppenheimers verführerischer Vorschlag, dem Herzog Truppen zu verschaffen, die ihn zum absoluten Souverän machen. Schneller Schnitt auf die Hinrichtungsszene, in der zu hören ist (der Urteilsspruch ist das bereits erwähnte Zitat aus dem Reichskriminalgesetz), dass Oppenheimer wegen seiner sexuellen ‚Vergehen’ hingerichtet wird.  Der Film endet mit der erneuten Verhängung des Judenbanns. Während der letzten Worte wird bereits ein nervöser und nachdenklicher Goebbels gezeigt, aber kurz danach tobt der Saal vor Begeisterung.
Goebbels stellt sich der Presse, auch er ist begeistert: „Ausdrücklich zu loben sind Leistungen von Krauß, von Marian.“ Goebbels weist nachdrücklich daraufhin, dass die Genannten natürliche keine Juden sind. Dann diktiert er den Journalisten Grundsätzliches zur Berichterstattung: die Judenfrage dürfe in den Filmkritiken nicht erwähnt werden, dies gehöre in den politischen Teil. Dort aber böte sich nun der Anlass, die Juden als das zu betrachten, was sie sind: Feinde des Dritten Reichs – und Feinde werden interniert. Und Schlimmeres, Goebbels zitiert Hitler: „Wenn die Juden noch einmal einen Krieg anzetteln, dann wird er mit ihrer Vernichtung enden!“ Marians angeekeltes Gesicht lässt erkennen, dass er den Mythos vom ‚künstlerischen Film’ durchschaut hat.
Goebbels gesellt sich auf dem Empfang zu Harlan und den Marians. Nach einer scherzhaften Bemerkung Marians über seine jüdische Rolle entschuldigt sich Goebbels mit einem Handkuss bei Anna und gibt zu erkennen, dass er längst weiß, dass sie Jüdin ist. Anschließend macht er Marian mit Frau Frowein (Gudrun Landgrebe) bekannt, die eine „glühende Verehrerin“ sei. Frau Frowein fragt nach Marians Gefühlen während der Hinrichtungsszene und spekuliert darüber, ob in dieser Szene nicht auch Lust eine Rolle gespielt hat und macht sich diesbezügliche Gedanken über die männliche Erektion. Marian wirkt genervt, erst recht, als auch Britta und Lutz gratulieren. Der Empfang wird plötzlich durch einen Luftschutzalarm unterbrochen. Goebbels findet dennoch die Zeit, der Frowein eine Zimmernummer zuzuflüstern. Während alle in den Luftschutzkeller eilen, hält Hans Moser Marian auf und bittet ihm um Intervention zugunsten seiner Frau: er sei doch auch ein Jude und bei hätte man eine Ausnahme gemacht. Marian weist Moser ab und erklärt ihm, dass er kein Jude sei. Moser bleibt entsetzt zurück. Marian entscheidet sich, der auf der Treppe wartenden Frowein zu folgen. Goebbels verfolgt die Szene mit kaltem Blick und zündet sich eine Zigarette an.
Die Skandalszene: auf dem Dachboden erklärt die Frowein Marian, dass sie glaube, dass Dorothea während der Folterszene schon längt nicht mehr an ihren Mann denkt, sondern bereits an den ‚Juden’. „Jude, los sag’ deinen Text!“ Marian zitiert die entsprechende Dialogpassage, reißt ihr das Kleid auf und nimmt sie mit den Worten „Auge um Auge, Zahn und Zahn“ von hinten, während die Bomben auf Berlin fallen.
Marians Talfahrt setzt sich fort, als er nach dem Alarm betrunken und mit derangierter Kleidung auf dem Empfang auftaucht und zu Goebbels geht, der in einer Gruppe von Gästen steht. Marian zitiert die „Aber sein wird es“-Stelle aus dem ersten Dialog zwischen Rabbi Loew und Oppenheimer und fragt: „Na, sehnt sich Ihre Frau auch nach einem Juden?“. Goebbels weist ihn aus dem Raum. Im Hintergrund sieht man die Frowein, die sich notdürftig mit einem Pelz bedeckt hat.

Posen, besetztes Polen. Marian lässt sich in der Etappe feiern. Schnitt auf Goebbels in Uniform, der wie ein böser Dämon in der Eingangstür des Kinos steht, dann auf dem Absatz kehrt macht und mit dem Auto verschwindet. Marian, der ihm nachläuft, erreicht ihn nicht mehr. Marian begegnet dem SS-Mann Frowein, der vom Film begeistert ist: er müsse ihn nur den Zweiflern unter seinen Leuten zeigen, dann sei alles wieder klar. Demnächst würde er ein KZ übernehmen und den Dolmetscher Deutscher mitnehmen. Marian ist entsetzt und so bittet er Frowein, dafür zu sorgen, dass Deutscher nichts passiert. Dem abrupten Wutanfall des SS-Mannes hat er nichts mehr entgegenzusetzen.
Anschließend betrinkt sich Marian mit Knauf, während Harlan und seine Frau ungehalten zuschauen. Als Marian einen Witz über Harlans Frau macht, schreit ihn Harlan empört an und verlässt den Raum. Marian erhält ein Telefongespräch aus Berlin und wird bleich. Er stürzt aus dem Raum, auf der Suche nach Goebbels. Der sitzt in einer Privatvorführung und sieht sich zusammen mit den Harlans und einigen Offizieren einen Geburtstagsfilm an, den Heinz Rühmann (sic!) zusammen mit den Kindern Goebbels gedreht hat. Marian platzt in die Vorführung und fragt verzweifelt nach seiner Frau. Goebbels serviert ihn eiskalt ab und erklärt anschließend Harlan, dass dies die fällige Schocktherapie für Marian sei.
Berlin: Marian sucht in seiner Wohnung verzweifelt nach Anna, auch im Gartenhäuschen ist sie nicht. Ein plötzlich auftauchender SS-Mann erklärt Marian, dass seine Frau abgeholt worden sei. Er selber müsse auch mitkommen.
Marian wird Hippler vorgeführt, der ihm Desertion vorwirft und ihm befiehlt, sofort an die Front zurückzukehren. Überhaupt könne er froh sein, dass seine Tochter noch auf freiem Fuß sei. Dann jovial: „Mein lieber Marian, was haben Sie sich nur dabei gedacht? Urkundenfälschung, Rassenschande!“

Die erste von Roehler nachgestellte Szene (Abgesandter / Oppenheimer) wird von Moretti etwas weicher gespielt als dies im Original der Fall ist.
Die Zitate aus „Jud Süß“ sind bis auf die Folterszene von Roehler vollständig neu produziert worden.
Der später als Regisseur berühmt gewordene Michelangelo Antonioni hat nach der Aufführung in Venedig tatsächlich eine zustimmende Kritik geschrieben.
In der Hinrichtungsszene fehlt der Zoom-In auf Faber, ansonsten ist die Szene erneut ein Mix aus neuproduzierten und digital eingefügten Originalszenen.
Während die letzten Bilder des Films auf der Berliner Premiere laufen, sieht man nicht nur den nervösen Goebbels, sonders neben ihm Marian uns dessen Frau. Wenn das Licht im Saal angeht und frenetischer Beifall ausbricht, schwenkt die Kamera erneut zur Empore ab, nun ist Anna Marian aber nicht mehr zu sehen. Der Platz neben Marian ist leer. Wenn Goebbels wenig später die Journaille belehrt, steht Anna Marian wieder neben ihrem Mann.

Der zweite Plot Point wird in beim Empfang nach der Berliner Premiere erreicht: hier wird Marian endgültig desillusioniert. Alle Erklärungen und Rechtfertigungen waren Selbstbetrug. „Jud Süß“ ist ein Propagandafilm, der in letzter Konsequenz das ideologische Rüstzeug für die Vernichtung der Juden liefern soll. Goebbels Reaktionen zeigen Marian auf, dass der Minister die Identität Anna Marians kennt. Die Begegnung mit Britta und Lutz und auch die anschließende mit der sadistisch erregten Frowein gleichen einer Tour de Force in die Abgründe. Röhler kann die selbstzerstörerische Reaktion Marians nur über die sexuelle Metaphorik ausdrücken, die Marian als Mann zeigt, der unrettbar an die Rolle gekettet ist und in der Realität zu der sexuellen Perversion genötigt wird, die von der filmischen Fiktion in „Jud Süß“ herausbeschworen wurde. Als Metapher des ‚Rise and Fall’-Motiv und vor dem Hintergrund des Roehlerschen Konzepts einer faustischen Tragödie ist diese von der deutschen Presse weitgehend hart angegriffene Szene zumindest dramaturgisch konsequent: Marian hat einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und muss nun ins Höllenfeuer.
Was ist diese Szene aber wirklich? Großes Kino oder ekelhafte Kolportage? Angesichts des Sujets muss man sich fragen, ob beides überhaupt noch voneinander zu trennen ist, wenn die Geschichte erst einmal diesen Punkt erreicht hat. Der Reichspropagandaminister als schmieriger Zuhälter, eine nuttige Sadistin und ein besoffener Hauptdarsteller, der seinen Untergang einleitet – hier begegnet sich alles: Klamotte, Groteske und Melodram. So etwas hat ein Fassbinder auch gewagt – mit ähnlichen extremen Reaktionen der Fachpresse.

Minuten 90 – Ende
Die Beziehung zwischen Marian und Knauf, der mittlerweile Sturmbannführer (in Zivil) ist, wird immer enger. Beide werden Zeugen einer Judenverschleppung, man sieht, dass beide die gemeinsame Abscheu verbindet.
Nahe Oswiecim: die Wachmannschaft eines Konzentrationslagers sieht in einem Zelt „Jud Süß“. Die Kamera schwenkt über erregte glänzende Gesichter und erfasst dann Marian und Knauf, die beide zu Boden blicken. Dann studiert Marian die Gesichter der Soldaten. Als Faber Dorotheas Leiche vor dem Palast ablegt und der Mob sich aufmacht, rufen auch die Soldaten: „Jude, Jude!“. Marian verlässt das Zelt und nähert sich einer Gruppe von Zwangsarbeitern, die lange Gräben ausheben. Eine Frau erkennt Marian und verflucht ihn. Dann stimmt sie ein jiddisches Lied an, ungeachtet der Tatsache, dass ein Wehrmachtssoldat die Waffe auf sie richtet. Auch Marian gerät in Bedrängnis, Knauf befreit ihn der Situation.
Prag 1944: Marian ist mittlerweile zur Randfigur einer Travestieshow geworden. Knauf ist nach wie vor an seiner Seite, ebenso Vlasta. Nach einem lächerlichen Kurzauftritt Marians nähert sich ihm ein Soldat, der ihn anpöbelt: „Da ist er, der Jude, und bald wird er hängen. Jud Süß!“ Marian schlägt ihn nieder. Er fragt nach Vlasta. Diese vergnügt sich mit einem Offizier auf der Empore. Marian reißt sie aus dessen Armen und stößt den Offizier nieder, der den beiden hinterherschießt. Im Hotel wird Marian nach einem kurzen Streit handgreiflich und versucht Vlasta aus dem Fenster zu werfen. Abblende.

München, Sommer 1946: Marian ist immer noch mit Vlasta zusammen und freut sich, dass die Amerikaner ihn wieder Theater spielen lassen wollen. Allerdings scheint er mittlerweile ständig betrunken zu sein. Beide beschließen ein Fest zu besuchen, bei dem US-Soldaten und Deutsche gemeinsam tanzen und feiern.
Schnitt auf Harlan und seine Frau. Harlan verbrennt in einem Hinterhof mehrere Filmkopien vor Vertretern der Presse: „Schreiben Sie, dass wir nichts mehr damit zu tun haben wollen. Wir sind dazu gezwungen worden!“ Ein Fotograf erwidert: „Sie haben doch sicher noch eine Kopie."
Zurück auf dem Fest: Vlasta beginnt sich einen US-Soldaten zu interessieren, während Marian eine Gruppe von Männern bemerkt, die sich nicht am Fest beteiligt. Ein Ehepaar erklärt ihm mit hämischen Worten, dass es sich um KZler handelt, „die auf ihre Entschädigung warten, während das deutsche Volk hungert!“. Marian nähert sich der Gruppe, ein Mann dreht sich um: es ist Deutscher. Er weicht vor Marians Umarmungsversuch zurück und erinnert ihn an sein Versprechen, dass „Jud Süß“ ein künstlerischer Film werden sollte. Er berichtet davon, dass Frowein nach einer Vorführung des Films die Hunde auf ihn und andere Juden gehetzt habe. Deutscher zeigt Marian seine verstümmelte Hand: „Andere hatten weniger Glück. Auch Anna nicht. Sie ist vergast worden.“ Dann rezitiert er ein Gedicht von Heine: „Nicht gedacht soll seiner werden, nicht im Liede, nicht im Buche. Im dunklen Grabe, Du verfaulst mit meinem Fluche.“ Er gibt Marian ein Kettchen Annas und wendet sich ab. Die anderen Männer schlagen Marian zusammen. Vlasta bemerkt die Szene und bitte ihren neuen Freund, Marian zu retten. Der Soldat trennt die Gruppe. Deutscher: „What are you doing here? To help a Nazi?“ Der Soldat lässt sich Deutschers Papiere zeigen: auf dem Reisepass prangt ein Hakenkreuz und darunter ein großes „J“. Vlasta hilft Marian auf. Marian: „Lass mich in Ruhe, ich bin verflucht.“
Als Marian am nächsten Morgen nach Hause zurückkehrt, sieht er Vlasta und den Soldaten, die sich auf dem Boden des Hausflures lieben.
Marian fährt sturzbetrunken mit dem Wagen davon. Während der Fahrt starrt er auf ein altes Familienfoto, das ihn mit Frau und Kind zeigt. Dann reißt er die Augen weit auf und lenkt den Wagen gegen einen Baum. Der Wagen geht in Flammen auf.

Einblendung: „Bis 1945 sahen den Film „Jud Süß“ über 20 Millionen Menschen in Europa. Nach dem Krieg wurde der Vertrieb des Filmes „Jud Süß“ verboten – und ist es bis heute.
Der Regisseur Veit Harlan wurde der „Beihilfe zur Verfolgung“ angeklagt und freigesprochen. Er drehte in der Bundesrepublik noch einige Filme und starb 1964 während eines Urlaubs auf Capri.
Heinrich George, der Darsteller des ‚Herzogs’ kam als ‚Repräsentant nationalsozialistischer Kulturpolitik’ in Gefangenschaft des sowjetischen Geheimdienstes und starb 1946 in einem NKWD-Lager an den Folgen der Haftbedingungen.
Werner Krauß, der Darsteller der jüdischen Nebenrollen, setzte seine Karriere nach dem Krieg fort. Sein Ehrengrab befindet sich auf dem Wiener Zentralfriedhof.
Ferdinand Marian erhielt nach dem Krieg Schauspielverbot und kam am 9. August ums Leben.“

Faustisches Drama statt kritischer Reflexion?
Oskar Roehler wurden gravierende Regelbrüche und stilistische Geschmacklosigkeiten vorgeworfen und die Aufregung, mit der dies geschah, verdankt sich nicht nur der deutschen Sensibilität angesichts des historischen Tatbestands der millionenfachen Vernichtung der europäischen Juden, die bis heute offenbar nach besonders strenger Einhaltung der Political Correctness verlangt. Ich erinnere daran, dass Rainer Werner Fassbinders „Lili Marleen“ ebenfalls die Geschichte einer Episode der nationalsozialistischen Kulturpolitik erzählte. Allerdings ging es um ein an sich harmloses Lied und nicht um einen folgenreichen Propagandafilm. Das Heyne Filmlexikon erkannte eine „meisterliche Verschmelzung von Melodram und Zeitgeschichte“, das Lexikon des Internationalen Films kritisierte eine „frei gestaltete kolportagehafte Geschichte“ und „geballte Manieriertheit“. Heute, dreißig Jahre später, wird der Film zu den herausragenden Werken des deutschen Nachkriegskinos gezählt.

Möglicherweise hat Roehler nicht erkannt oder nicht gewürdigt, dass sein Film ähnliche Reizpunkte setzen würde – oder er hat das Ausmaß der Kritik nicht erwartet. Ich gehe sogar noch weiter: ein anderes Sujet oder ein rein fiktionaler Stoff ohne historisches Vorbild und Roehlers Qualitäten beim Script und bei der Inszenierung hätten zu einem nachhaltigen Erfolg geführt. Als (Melo-)Drama funktioniert der Film mitsamt seiner grellen Übertreibungen ausgezeichnet.
Immerhin teilt Roehler mit, was er wollte. So stellt er fest, dass sein Film das "Drama eines Menschen" zeigen soll und "und dem Zuschauer auch nahe bringen (soll), was für eine Wirkung, welchen Effekt der Originalfilm hatte und wie der aufgebaut war."
Letzteres ist, wie bereits ausgeführt, unmöglich.

Bleibt also nur das Drama. Marian, so will uns Roehlers Film zeigen, war deshalb eine tragische Figur, weil er nach anfänglichem Widerstand gegen seine Besetzung die Rolle des bösen Juden akzeptierte. Weil er erpresst wurde, weil er eitel dem dämonischen Werben Goebbels verfiel, nur um am Ende entsetzt zu erkennen, welche furchtbare Wirkung „Jud Süß“ bei den Zuschauern auslöste?  Tatsächlich aber bleibt die von mir erwähnte Leerstelle weiterhin leer – man versteht seine Gründe nie in vollem Umfang

Nun gehört der Mythos der Verführung durch den Faschismus mit Sicherheit zu den größten deutschen Geschichtslügen. Und so hat Roehlers Film bei mir mit zunehmender Dauer ein Gefühl des Unbehagens ausgelöst, wie es jene kennen, die noch zu ihrer Schulzeit mit revisionistischen Umdeutungen der deutschen Geschichte konfrontiert wurden.
So wird in „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ mit den Mitteln des Kino eben nicht Medien- und Kinogeschichte kritisch rekonstruiert und nacherzählt, sondern es wird wieder einmal das im Kino so beliebte Einzelschicksal dramatisiert, das die Verführungsthese illustrieren soll und damit nicht nur das Schema pars pro toto erfüllt, sondern überdies ein Nazi-Sujet als faustischen Konflikt aufbereitet.
Das ist keineswegs schlecht erzählt, aber eben auch unterhaltungskonform: mit saftigen Sex-Einlangen, derben Kalauern und einem Moritz Bleibtreu, dessen Spiel irgendwie und irgendwo zwischen genialer Figurenzeichnung und burlesker Mafioso-Klamotte liegt. An seiner Leine Tobias Moretti, darstellerisch ebenfalls beachtlich, als vom Sog des Bösen verführter Mime, eine letztlich fiktive, weil umgemodelte Figur, die uns über sechs Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch zeigen soll, was pars pro toto bedeutet: sich erst ein wenig zieren, dann naiv den Versprechungen glauben und schließlich das böse Erwachen, als alles zu spät ist.
Kenne ich das nicht, hat meine Generation, die der über 50-jährigen, nicht ähnliche Geschichten von ihren Vätern, Müttern und gelegentlich auch Lehrern gehört?
Der Verführte und sein Verführer – das melodramatische Casting-Drama als Reflexion deutscher (Kino-)Geschichte?

Ärgerlich ist, und das auch wegen der besonderen Bedeutung des 'Films im Film', den der Zuschauer nur in Ausschnitten zu Gesicht bekommt, dass Roehler und seine Co-Autoren glaubten, die historischen Fakten den Ansprüchen des Dramas unterwerfen zu müssen – jedenfalls, so wie sie es im Kopf hatten. Den jüdischen Freund Deutscher kann ich noch akzeptieren, dass Marian eine jüdische Frau hinzuerfunden wird, ist ärgerlich. Aber den peinlichen Höhepunkt erreicht der Film mit der Erfindung eines alkoholgeschwängerten Niedergangs Marians, der nicht nur frei erfunden ist, sondern das Gegenteil von dem schildert, was tatsächlich geschehen ist. Das ist respektlos gegenüber der Geschichte.
Dem Aufstieg des bewunderten Frauenschwarms Marian folgte in Wirklichkeit eben kein Sturz in die Ungnade und auch das schreckliche, alkoholgeschwängerte Zusichkommen in der Truppenbetreuung gab es vermutlich nicht. Nein, Marian drehte fleißig weiter und nicht ohne Erfolg. 1944 landete er noch auf der von Goebbels zusammengestellten Gottbegnadeten-Liste, die eine große Anzahl Künstler und Kulturschaffende vom Kriegsdienst befreite, wenngleich sie durchaus für Propagandaeinsätze herangezogen werden konnten.
Auf dieser Liste findet man Namen wie O.W. Fischer, Johannes Heesters, Heinz Rühmann und natürlich auch Ferdinand Marian. Dass ihre Unentbehrlichkeit ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben gerettet hat, sollte man ihnen nicht pauschal anlasten, aber auch dieses Detail zeigt, in welchem Umfang die Drehbuchautoren von „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ bekannte Fakten ihrem dramatischen Thema geopfert haben.

Verzerrte Rezeption
Dass es nicht gut gehen kann, wenn man es mit den Fakten nicht allzu genau nimmt, war auch die Meinung des Medienwissenschaftler Friedrich Knilli, der die Marian-Biografie Ich war Jud Süß geschrieben hat und Roehler frontal angriff: "Er hat sich die Geschichte leicht gemacht und dachte sich, mit dem Stichwort 'Künstlerische Freiheit' darf er natürlich alles machen, aber beim historischen Stoff ist das nicht so toll". Was Oskar Roehler wenig charmant mit „Who the fuck is Knilli?“ konterte.
Stellen wir eine grundsätzliche Frage: Ist ein deutscher Filmemacher bei der Dramatisierung eines Nazi-Themas zu faktischer Akribie verpflichtet oder besitzt er künstlerische Freiheiten, ohne dass dies bedeuten muss, so rücksichtslos tabusprengend vorzugehen wie Quentin Tarantino? Der hat allerdings von Anfang an eine rein fiktionale Groteske erzählt. Das ist der Unterschied.

„Jud Süß – Film ohne Gewissen“ ist über weite Strecken ein mutiger und gelungener Film. Um so schwerer wiegt der bittere Beigeschmack, den er zurücklässt. Bestimmte Kinofilme sind auch als artifizielle Produkte der Wirklichkeit mehr verpflichtet als andere. Sie sollten auch ehrlich mit den Erwartungen des Publikums umgehen, dass – ohne dass man ihm Naivität vorwerfen sollte – den Filmen vielleicht zu häufig Glauben schenkt. Ich möchte daher mit einem Zitat schließen, dass meine Kritik an diesem großartig-schrecklichen Film weitgehend auf den Punkt bringt:
„Filmverstehen meint, anhand eines Filmes zu untersuchen, wie er sich als bedeutungsvoller Medientext, der in den kulturellen Kreislauf von Produktion und Rezeption eingebunden ist, konstituiert - und dies ist nicht ohne die Einbeziehung der lebensweltlichen Verweisungszusammenhänge möglich, in denen die Produktion und Rezeption von Filmen stattfindet...Dabei wird davon ausgegangen, dass ein Film gesellschaftliche Wirklichkeit spiegelt. Wir wissen jedoch längst, dass es sich bei einem Film um eine narrative Inszenierung handelt, die möglicherweise unter bestimmten Bedingungen und dank bestimmter Gestaltungsmittel den Eindruck von Wirklichkeit erweckt. Dieser Eindruck ist aber nur möglich, wenn das Wissen der Zuschauer zum Film hinzutritt, denn nur auf der Basis dieses Wissens kann einem Film Authentizität bzw. ein Wirklichkeitseindruck bescheinigt werden.
(Lothar Mikos: Die klassische Filmanalyse und das Filmverstehen; in: in: medien praktisch Texte Nr. 1, S. 3-8, Sonderheft I/1998, Quelle: http://www.teachsam.de/deutsch/film/film_txt_3.htm

Kleine Einschränkung: man sollte den Rezipienten nicht abverlangen, durch ‚richtige Rezeption’ vorangegangene Fehler auszubügeln. Dass Filme jenseits des Gemachten, dem Handmade, Wissen – und damit auch korrekte Informationen - zum Teil ihrer Narrationen machen sollten, ist meine feste Überzeugung.

Postscriptum: Ich bedanke mich bei meinem Freund Klawer, der diesen Aufsatz kritisch begleitet hat und als Korrektor wichtige Hinweise gab.