Mittwoch, 31. Oktober 2012

Die Vermessung der Welt

Deutschland / Österreich 2012 - Regie: Detlev Buck - Darsteller: Albrecht Abraham Schuch, Florian David Fitz, Jérémy Kapone, Sunnyi Melles, Karl Markovics, Vicky Krieps, Katharina Thalbach - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 123 min.

Ganz am Anfang sehen wir Alexander von Humboldt in Tibet, im Lager eines Lamas. Der Weitgereiste will in Detlev Bucks und Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ von seinen Erkenntnissen berichten, der Lama hört zu und lässt ihm dann von Bediensteten eines toten Hund auf einem Tablett servieren. Ob er den Hund beleben könne? Gegen den Tod sei er machtlos, erwidert der Naturforscher. Und der Lama weiß nun Bescheid.

Was wissen schon die Wissenschaftler?

Was soll das eigentlich alles?
Wer kennt nicht das Gefühl, diese Frage fast täglich stellen zu müssen. Draußen tobt die Finanzkrise und im heimischen Blätterwald versuchen uns die Journalisten und Ökonomen zu erklären, wie die Welt funktioniert. Natürlich sind sie alle unterschiedlicher Meinung, während sich daheim die Menschen von den Ereignissen überrollt fühlen. Den Wissenschaftlern trauen sie ohnehin nicht mehr – den Mist versteht sowieso keiner: Begriffe, die man nicht kennt, Modelle, die man nur kapieren kann, wenn man andere Modelle studiert. Und so weiter. Ein nicht enden wollender Kreislauf des Nicht-mehr-verstehen-Könnens.
Den Wissenschaften tut dieses Misstrauen nicht gut, weder den exakten noch den spekulativen, worunter gelegentlich auch die Geisteswissenschaften fallen. Das war schon mal anders. Ungefähr vor 150 Jahren. Da war der Optimismus noch groß und die Vertreter der post-aufklärerischen Naturwissenschaften glaubten frohgemut, dass man alles wissen und alles erklären kann. Man muss halt nur die Welt genau vermessen. Und die meisten haben es ihnen geglaubt.
Als das 19. Jahrhundert sich dem Ende zuneigte, war es mit dem Optimismus vorbei und eine Sinnkrise erschütterte besonders die erfolgsverwöhnten deutschen Akademien. Ein kluger Kopf wie Heinrich Rickert klagte über die schreckliche „Mannigfaltigkeit“ und dass man bestenfalls noch kleine Ausschnitte der Wirklichkeit erkennen könne. So weit war es also gekommen.

Das Buch: Steilpass für eine Verfilmung

Vor diesem Hintergrund war Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ vor sechs Jahren nicht nur ein spannendes, sondern auch ein listiges Buch. Kehlmann schilderte die Erfolgsbiografien des genialen Mathematikers Carl Friedrich Gauß und des berühmten Naturforschern Alexander von Humboldt nicht als systematischen Wettstreit der beiden, sondern eher als satirische Studie zweier Männer mit Ecken und Kanten: Gauß als Hochbegabten und zunehmend misanthropisch veranlagten Grantler hart an der Grenze des sozialen Autismus; von Humboldt als weltoffenen und leicht narzisstischen Überflieger, ein Mann im Gefühlsgewitter preußischer Prüderie und unterdrückter Homosexualität. Und wenn sie sich im Buch dann endlich treffen, weiß man nicht so recht, ob sie sich etwas mitzuteilen haben, was der Nachwelt überliefert werden sollte.
Ja, ein wenig Wissenschaftstheorie wird ausgetauscht, Gauß ist Anti-Kantianer und ein Visionär der nicht-euklidischen Geometrie, der bereits ahnt, und das ziemlich genau, was Einstein 100 Jahre später beweisen wird, Humboldt wandelt dagegen auf den Spuren des Königsberger Philosophen und feiert dessen Vernunftkritik wohl auch als Triumph der eigenen.
Kehlmann selbst hat dies eine „satirische Auseinandersetzung mit dem, was es heißt, deutsch zu sein“ beschrieben, aber auch bedauert, dass das Buch als Beschreibung zweier schrulliger Leute missverstanden wurde, stecke doch in dieser Schrulligkeit eine gehörige Portion Ideologiekritik.
Kehlmann hat für dieses Unterfangen einen leicht distanzierten Stil gefunden: seine Helden und überhaupt alle Figuren des Buchs lässt er in indirekter Rede parlieren und mit dem Psychologisieren hielt der Autor Kehlmann sich auch zurück. Dafür erzählt er in einer bestechend visualisierenden Erzählsprache, sehr handlungsorientiert, sodass der Leser immer Bilder im Kopf hat. Das ist natürlich ein Steilpass für eine Romanverfilmung.

Merkwürdiger Revisionismus

Erstaunlicherweise hat sich Detlev Buck der Sache angenommen. Und was ungewöhnlich ist: der Autor hat mitgemacht. Daniel Kehlmann hat nicht nur am Drehbuch mitgearbeitet, er zitiert auch als Off-Erzähler seine eigene Vorlage. Das fängt immerhin ab und zu den Geist des Buches ein.
Nun ist das mit Adaptionen für’s Kino so eine Sache. Häufig reagiert die deutsche Kritik genervt, das war schon bei Hans W. Geißendörfers „Zauberberg“ so (1982, sehr frei nach Thomas Mann) und in jüngster Vergangenheit gab es mit der Verfilmung von Bernhard Schlinks „Der Vorleser“ reichlich Ärger, wobei die Verfilmung von Stephen Daldry (2008) sogar die Frage auslöste, ob es nicht sogar die Kinofassung sei, die rückwirkend die wirklichen Schwächen des Buches aufdeckte. Das war schon literaturkritischer Revisionismus.

Ähnlich widerfährt es jetzt Daniel Kehlmann. Die WELT konstatierte hämisch, nachdem die Schwächen des Films zunächst Regisseur Detlev Buck zugeschrieben worden waren: „Nur: Leider fragt man sich jetzt doch, ob das vielleicht auch das Niveau von Daniel Kehlmann ist. Jetzt erstmals nimmt man nämlich wahr, wie er sich die Geschichte zurechtbiegt.“
Gemeint ist nicht die Geschichte, die das Buch und der Film erzählen, gemeint ist die deutsche Geschichte, die vom Autor als rückständig-autoritäre denunziert wird. Das ist schäbig und eine Umdeutung der jüngeren Literaturgeschichte. Und es wirft die Frage auf, ob denn alle Rezensenten, die Daniel Kehlmann über den grünen Klee gelobt haben, möglicherweise tumbe Toren gewesen sind, die der Autor am Nasenring durch den literarischen Zoo geschleift hat.

Nein, so schlimm ist denn doch nicht. Kehlmanns Buch ist, und davon bin ich überzeugt, ein großer Wurf.
Der Film ist es nicht. Buck/Kehlmann erzählen natürlich viele Szenen des Buchs nach und es ist keineswegs durchgehend schlecht gemacht, was man da in 3 D zu sehen bekommt. Buck hat ein sicheres Gespür für das Arrangieren der Szenen, und das gilt auch für den Benefit, den man als Zuschauer durch die Räumlichkeit der dritten Dimension erhält. Und unterhaltsam ist der Film auf gewisse Weise auch, aber mit zunehmender Spieldauer legt sich dann doch eine lähmende Gleichgültigkeit und eine ermüdende Langeweile über das Leinwandspektakel.

Alles muss lustig sein

Ich weiß nicht, ob dies auf das Konto von Detlev Buck geht oder ob Daniel Kehlmann ebenfalls von allen guten Geistern verlassen wurde, aber die „Die Vermessung der Welt“ präsentiert sich wie ein Film unter Zwang. Dem Zwang, alles unterhaltsam präsentieren zu müssen und nahezu alles, was intellektuell spannend sein könnte, gnadenlos abzuschleifen.
Drastisches Beispiel ist Gauß‘ Besuch bei Kant. Der junge Mathematiker hat gerade sein Werk Disquisitiones Arithmeticae beendet und will dem großen Vorreiter der Vernunftkritik seine Erkenntnisse vortragen. Kants Diener Lampe lässt ihn nur zögerlich eintreten. Gauß erzählt Kant allerlei und Kehlmann fasst alles elegant auf etwas mehr als einer Seite zusammen: Gauß’ Kritik an Kants Anschauungsformen, die Kritik der euklidischen Geometrie und dass der Raum „faltig, gekrümmt und sehr seltsam“ sei. Und endlich jemand, der ihn versteht, wo doch alle anderen so langsam denken. Doch es kommt anders: „Der Lampe soll Wurst kaufen, sagte Kant. Wurst und Sterne. Soll er auch kaufen.“ Kant ist zu dement, um die Gaußschen Ausführungen über nicht-euklidische Geometrie zu verstehen.
Buck rafft die Ausführung von Gauß im Off zusammen, lässt Kehlmann ein wenig erzählen und arbeitet sich zielstrebig zur Pointe vor. Und die führt Kant als lachhaftes Würstchen vor. Das Buch setzt hingegen auf Distanz: Kehlmann lässt alles unkommentiert stehen, er schaut auch nicht allwissend in den Kopf von Gauß und berichtet deshalb auch nicht von dessen Gefühlen und Gedanken.
So, und das macht eben den Unterschied aus, entsteht auch anderen Stellen des Buches eine melancholische Stimmung: Gauß und Humboldt sind zwar irgendwie Besessene, aber das im Bewusstsein einer Deplatziertheit in ihrer Zeit – sie sind allen weit voraus, nur können sie das mit keinem kommunizieren. In Bucks und Kehlmanns Version ist für diese Textur plötzlich kein Platz. Die Pointe muss sitzen, alles muss lustig sein. Was sich Kehlmann dabei als zweifacher Autor gedacht hat, bleibt offen gestanden ein Rätsel

Vom Erfinden und Weglassen

Nun muss man sich bei Literaturverfilmungen nicht immer auf einen akribischen Abgleich zwischen Buch und Film einlassen. Gute Verfilmungen lassen die Vorlage hinter sich und finden eine eigene Sprache. Schlechte Verfilmungen können nicht so einfach ausweichen – ihr Misslingen führt fast zwangsläufig zum Gelungenen zurück, das man schon kennen sollte, wenn man ins Kino geht.
Andererseits geht es dann auch ungerührt so weiter. Wenn Gauß als Knabe beim Herzog von Braunschweig als Rechengenie eingeführt wird, um ein Stipendium zu erbitten, gerät die Szene (natürlich anders als im Buch) zur Groteske: der Herzog ist ein Kretin, am Tisch sitzen mongoloide Kinder. Tolle Pointe, irgendwie wohl als Schenkelklopfer gedacht.
Dann erfindet der Film einen preußischer Offizier hinzu, der pausenlos brüllt und ordentlich die Klischees bedient, die man so im Kopf hat. Im Buch lernt der etwas ältere Gauß auch einen Offizier kennen, aber als der über Bonaparte ablästert, fragt Gauß nur: Bitte wer? So kann man mit zwei Worten eine Figur auf den Punkt bringen.

Natürlich springt auch der Film in einer Parallelmontage zwischen Gauß und Humboldt hin und her. Das übersetzt streckenweise gelungen die beiden Geistesgröße in plakative Bilder: Gauß ist der Schreibtischtäter, der nur ein Blatt Papier benötigt oder zumindest im eigenen Land bleibt, wenn er misst, was es dort zu messen gibt. Humboldt ist dagegen der kühne Forscher, den es in den Amazonas zieht und der mit seinem Kameraden, dem französischen Arzt Bonpland, Proben, Tiere und notfalls auch ohne Mitgefühl Mumien einsammelt, der Menschenfresser besucht und höchste Berge besteigt.
Buck zeigt uns schöne Bilder und das sieht auch nicht so aus, als seien zwei wissenschaftlich Touristen am Werke. Man bekommt schon mit, was von Humboldt antreibt. Aber auch hier wird hinzuerfunden und, was schlimmer wiegt, weggelassen, was die Stimmung trübt. Während Kehlmann sehr diskret die sexuelle Ausrichtung seines Helden skizziert und das Ganze in einer atemberaubenden Szene kulminieren lässt, in der Humboldt nachts einen Indianerjungen mit seinen Stiefeln bewusstlos tritt, nachdem dieser sich in möglicherweise auffordernder Absicht neben ihn gelegt hat, verschwindet diese Szene –honi soit qui mal y pense – natürlich aus dem Film. So etwas ist keine Pointe, das ist auch nicht lustig.

„Es ist einer der radikalen Grundirrtümer der Medienwelt unserer Tage, dass es für Dinge mit Niveau und Anspruch kein Publikum gäbe. Das ist ein Aberglauben der Medien- und Verlagsleute (Daniel Kehlmann)

Und was ist der Film nun? Eine Militär- und Kostümklamotte?
Leider ja, nicht immer, aber dann doch mit zunehmender Dauer. „Die Vermessung der Welt“ ist ein weiteres lästiges Vehikel der deutschen Komödienklamotte, die sich besonders bei der Darstellung Alexander von Humboldts die Lieschen Müller-Perspektive vom weltfremden Wissenschaftler zu eigen macht. Als Humboldt moralisch entrüstet auf einem südamerikanischen Sklavenmarkt die armen Farbigen freikauft, muss er erleben, dass diese nicht wissen, was sie anfangen sollen mit ihrer Freiheit.
So stellt man sich wohl ein Genie vor: lebensuntauglich, spleenig und obskur. Dass dies eine unglaublich traurige Szene ist, das lässt Buck von seinen Darstellern nicht ausspielen. Das satirische Potential, das Kehlmann besonders bei der Figur des Humboldt vermutete, bleibt liegen, denn dazu würde auch der eine oder andere ernste Moment benötigt.

Es wirkt beinahe gehässig, wie der Film die Figuren aufs Groteske herunterbricht. Florian David Fitz („Vincent will Meer“) kommt als Gauß dabei noch ganz passabel weg, der etwas unbekanntere Albrecht Schuch muss den Humboldt als Witzfigur geben, die – natürlich – auch Darwins Theorien für abwegig hält. Das ist sogar historisch verbürgt, aber in der Erzählung kommt es halt aufs Timing an.
Und während in Kehlmanns Buch nicht nur gelegentlich eine melancholische und leicht depressive Stimmung durchschimmert, tilgt die Verfilmung alles Ernste aus der Geschichte.
Alles ist so angelegt, und das gilt halt für die Lieschen Müller-Perspektive, dass es wie ein Witz ist, den man sich lachend erzählt, wenn es um die Wissenschaft geht: irgendwie nicht von dieser Welt und wem nütze sie schon. Wo alle Narren zu sein scheinen, müssen’s halt auch die sein, die garantiert keine sind.
Inwieweit diese Perspektive dem Publikum anti-intellektuelle Ignoranz unterstellt und womöglich auch auf diese setzt und ob dies von spießigen Vorurteilen und muffigen Vorstellungen über deutschen Humor begleitet wird, soll der Zuschauer entscheiden. Dass er in „Die Vermessung der Welt“ von den Machern am Nasenring herumgeführt wird, das wird er hoffentlich spüren.

Noten: Klawer = 3, BigDoc = 3,5

Kritiken:

„Ohne Ausrichtung, Ziel, Sinngehalt, im Wesentlichen ohne alles, stampfen Gauß und Humboldt in Parallelhandlungen durch steife Kulissen und hergerichtete Locations von einem Fragezeichenmoment zum nächsten...Buck-typische Titten und Ärsche sowie ein nerviger auktorialer Erzähler vervollständigen den Albtraum...Der Rest ist eine Totgeburt von Film, ein unerklärliches, sprach- und fassungslos machendes Film-Etwas, Zelluloid-Ding, Fördergelder-Trash-Gebräu, das einen hinter der 3-D-Brille vor Schamesröte die Augen aushöhlt“ (Rajko Burchardt, gamona.de).

„Überwiegend ... sieht "Die Vermessung der Welt" aus, als hätte man die einst irgendwie offene, unvermessene Welt durch rinderwahnsinnige Gelatine hindurch gefilmt. Wer das für Ironie hält, dem sollten eigentlich die Augenbrauen festfrieren“ (Bert Rebhandl, taz)

„Die Grobschlächtigkeit ist das Verblüffendste an dieser Verfilmung, immerhin stammt das Drehbuch von Kehlmann selbst. Der hat die süffisante Ironie der indirekten Rede bruchlos in Buck’sche Brachialkomik überführt. Humboldt und Gauß sind bei Buck, jeder auf seine Weise, Deppen im Namen der Wissenschaft“ (Andreas Busche, in: Der Freitag).

„Die Leistungen, die Gauß und Humboldt allerdings tatsächlich zu großen Menschen gemacht haben - ihre Messungen und Berechnungen, und mehr noch die Formeln und Beweise - haben allerdings das Problem, dass sie sich leider kaum als Anekdoten kolportieren lassen, auch wenn das manchmal kurz versucht wird“ (Jan Füchtjohann, in: Süddeutsche Zeitung).

„Kehlmann hat am Drehbuch mitgearbeitet. Aber herausgekommen ist dann doch mehr Buck als Kehlmann.
Die Vermessung der Welt wirkt vom Witz her wie eine Rückkehr zu Bucks Anfangstagen – nur grobhumoriger. Understatement ist nicht die Sache dieses Filmes, sondern die, um es vorsichtig zu formulieren, Überspitzung. ... Witzig ist anderswo. Die Ironie regiert dann in den aus dem Off von Kehlmann vorgelesenen Passagen aus seinem Roman“ (Rudolf Worschech, in: epd-Film).

„Zwei Kostümgreise schlurfen durch die Untiefe des Raums. Statt eines Showdowns serviert der Film einen toten Hund. Und Daniel Kehlmann gibt aus dem Off seine Erzählerstimme dazu ... “Die Vermessung der Welt“ zeigt in ernüchternder Deutlichkeit, wo der deutsche Film im Augenblick steht: zwischen der ererbten Sehnsucht, aus großen Büchern große Filme zu machen, und der neuen Lust am hochgezüchteten Spektakel“ (Andreas Kilb, Frankfurter Allgemeine).

Sonntag, 21. Oktober 2012

Bluray-Review: Der Seewolf (1971)


Deutschland, Frankreich Rumänien 1971 - Regie: Wolfgang Staudte, Sergiu Nicolaescu – Drehbuch, Produktion: Walter Ulbrich - Darsteller: Raimund Harmstorf, Edward Meeks, Emmerich Schäffer, Dieter Schidor - FSK: ab 12 - Länge: 370 min.

Renaissance eines großen TV-Klassikers

Das Wichtigste gleich vorweg: Die Bildqualität dieser Bluray ist ein Schock – ein positiver allerdings. Concorde hatte 2004 eine DVD-Box (Laufzeit: 362 Minuten) auf den Markt geworfen, die man guten Gewissens skandalös nennen durfte. Es war schmerzlich, einen der legendären Adventsvierteiler des ZDF in einer Verfassung zu sehen, die noch weit unter der Auflösung einer VHS lag. Offenbar hatte man die alte ZDF-MAZ abgetastet…
Die 2006 nachgeschobene Remastered-Version des gleichen Anbieters (Laufzeit: 363 Minuten) habe ich mir dann erspart. Angeblich soll sie etwas besser gewesen sein, dafür gab es aber Probleme mit einem asynchronen Ton.
Nun hat Concorde zum dritten Mal einen Anlauf gewagt und eine Bluray vorgelegt, die den „Seewolf“ zum ersten Mal in einer würdigen Qualität präsentiert (Bildformat 1920x1080p (1.33:1) @24 Hz, Video-Codec: VC-1, ein Kompressionsverfahren, dem H.264/MPEG-4 mittlerweile verbreitungstechnisch den Rang abgelaufen hat).
Diesmal hat man offenbar das alte 35mm-Material abgetastet (endlich!) und eine über weite Strecken angemessene, referenzverdächtige Qualität erreicht.
 
Schärfe und Durchzeichnung überzeugen bereits beim Intro, dem Schiffsunglück in der San Francisco Bay. Obwohl dickster Nebel herrscht, sieht man ein detailfreudiges Bild. Wenn dann die erste gut ausgeleuchtete Innenaufnahme folgt, haut es einen um: perfekte Schärfe, prächtige, nicht zu satte Farben und ein guter Kontrast sorgen für ein HD-Feeling, das sogar den Vergleich mit modernen HiDef-Kinoproduktionen nicht scheuen muss. Ich habe in der ersten Episode „Ein seltsames Schiff“ nur mit Mühen 2-3 grieselige Einstellungen gefunden, die auf ein digital leicht überschärftes Bild hinweisen.
Die exzellente Qualität wird aber nicht ganz durchgehalten. In der zweiten Episode („Kurs auf Uma“) sieht man zum Beispiel etwas häufiger ein Bildrauschen, das mich weniger an Filmkorn als vielmehr um zu geringe digitale Kompensation erinnert hat. Man kann Bildrauschen immer ganz gut an der Qualität flächiger Motive erkennen, in der Regel ist dies bei Filmen der blaue Himmel (das sog. Helligkeitsrauschen). Geringe Abstriche gibt es daher besonders bei den Frisco-Kid-Episoden, an die sich van Weyden erinnert.
Insgesamt ist dies aber Jammern auf hohem Niveau, denn der „Seewolf“ ist nicht nur relativ zu den DVD-Veröffentlichungen, sondern auch objektiv eine Augenweide.
Über den Mono-Ton der Bluray ist nur so viel zu sagen: volumig, präsent und mit ordentlichen Tiefen. Dass hier kein 5.1.-Sourround zu erwarten war, versteht sich von selbst.

Zum Film

In einschlägigen Foren herrscht leider überwiegend der Trend „Kenn‘ ich nicht – nix für mich“. Ältere Semester, die 1971 wie gebannt vor dem Röhrenfernseher saßen, werden allerdings elektrisiert reagieren. Wie viele Mitglieder der Generation 50+ schwelgen sie zu Recht in nostalgischen Gefühlen, denn „Der Seewolf“ repräsentiert ein Stück TV-Geschichte. Jüngeren Filmfreunden ist es schwer zu vermitteln, wie vor vier Dekaden die bundesdeutsche Fernsehlandschaft ausgesehen hat, in der das ZDF von 1964 bis 1983 kurz vor Weihnachten die Verfilmung eines Klassikers der Weltliteratur über die Mattscheibe flimmern ließ. In Erinnerung geblieben sind besonders „Die Schatzinsel“ (1966) mit dem noch blutjungen Michael Ande, „Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer“ (1968), die „Lederstrumpf Erzählungen“ (1969) und natürlich der Film, der Raimund Harmstorf berühmt machte: „Der Seewolf“. Später ließ die Qualität mitunter nach und man hielt sich auch nicht mehr an das Vier-Teile-Schema.
Der Erfolg der Advents-Vierteiler war der keineswegs der Ausdruck fehlender Programm-Alternativen, sondern verdankte sich der hohen Qualität der Drehbücher und der Regisseure. Aber besonders sollte man sich an Walter Ulbrich erinnern, der als Produzent die Idee hatte, Weltliteratur auf den TV-Bildschirm zu bringen. Ulbrich verfasste für viele Mehrteiler die Drehbücher selbst und heuerte dazu noch exzellente Regisseure wie Wolfgang Liebeneiner und Wolfgang Staudte („Seewolf“) an. Hinzu kam ein guter, einprägsamer Score und ich bin mir sicher, dass beim „Seewolf“ gut ein Viertel der nostalgischen Befriedigung durch die Filmmusik von Hans Posegga entsteht, die einfach nicht wegzudenken ist. Und dazu gehört auch die häufig als unfilmisch verschriene Erzählerstimme, die sehr gelungen die Übergänge verklammert.

Über den „Seewolf“ könnte man noch einiges erzählen, und das nicht nur in Erinnerung an die berühmte Kartoffelszene, in der Harmstorf als Wolf Larsen eine rohe Kartoffel mit bloßer Hand zerquetscht. Noch heute kann man trotz der durchaus manierlichen Neuauflagen mit Thomas Kretschmann als Wolf Larsen (2008) und der etwas schwächeren Version von Sebastian Koch in der Rolle des Kapitäns (2009) die ZDF-Verfilmung von 1971 (die übrigens die vierte Adaption seit 1920 war) als konkurrenzfähig bezeichnen.
Ein Alleinstellungsmerkmal erhält „Der Seewolf“ dadurch, dass Walter Ulbrich in sein Drehbuch Motive aus verschiedenen Jack-London-Romanen verarbeitete, was besonders der Figur des Wolf Larsen zusätzliche spannende Facetten verlieh.
Besonders gelungen ist der Versuch, die philosophischen und weltanschaulichen Hintergründe der Auseinandersetzung zwischen dem nihilistischen und gewalttätigen Kapitän Wolf Larsen und dem idealistischen Literaturkritiker Humphrey van Weyden zu verdeutlichen. Das Meiste wird zwar nur angedeutet (Larsens Affinität zu einem plumpen Darwinismus, sein aus eigener Sicht tragischer Bildungshunger), aber Ulbrich hat zumindest im Ansatz Jack Londons Nietzsche-Kritik gelungen in ein Unterhaltungsformat überführt. Dass es dabei nicht um eine klischeehafte Schwarz-Weiß-Arithmetik geht, macht den „Seewolf“ bis heute so sehenswert, denn am Ende hat der garantiert empathiefreie Wolf Larsen doch einen Teilsieg errungen: sein literarisch gebildeter Widersacher steht für den Rest seines Lebens „auf eigenen Beinen“.

Wer mehr ZDF-Klassiker sehen möchte, kann auch zur Bluray-Box „Die legendären TV-Vierteiler greifen, in der neben dem „Seewolf“ auch die „Lederstrumpf Erzählungen“ und „Lockruf des Goldes“ angeboten werden.

Mittwoch, 17. Oktober 2012

Mad Circus - Eine Ballade von Liebe und Tod


Spanien / Frankreich 2010 - Originaltitel: Balada triste de trompeta - Regie: Álex de la Iglesia - Darsteller: Carlos Areces, Antonio de la Torre, Carolina Bang - FSK: keine Jugendfreigabe - Länge: 108 min.

Die Lächerlichkeit des Bösen

„Mad Circus“ ist die filmische Orgie eines Besessenen, der den schrecklichsten Abschnitt der spanischen Geschichte, den Bürgerkrieg zwischen Republikanern und Falangisten, in einem grellen und brutalen Exzess auf den Punkt bringt – gewalttätiger Wahnsinn.
1937: eine Zirkusvorstellung irgendwo in Spanien. Draußen hört man Schlachtenlärm, drinnen schaffen es die Clowns gerade so eben, den verängstigten Kinder ein Lachen zu entlocken. Dann stürmen Regierungssoldaten das Zirkuszelt und zwingen die Artisten, am Kampf gegen die faschistischen Milizen teilzunehmen. Verzweifelt laufen die Artisten in ihren lächerlich wirkenden Kostümen mit den Republikanern in den Kampf. Als deren Hauptmann im Kugelhagel fällt, richtet der „lustige Clown“ wutentbrannt mit einer Machete ein Blutbad unter den faschistischen Milizen an. Er wird gefangen genommen, aber nicht füsiliert, sondern zu jahrelanger Zwangsarbeit verurteilt.
Jahre später versucht sein Sohn Javier den Vater zu befreien. Aber mit seiner Aktion verursacht er lediglich dessen Tod. Das Einzige, was ihm von seinem Vater bleibt, ist dessen Rat, dass man Erniedrigung nur überwinden kann, indem man Rache übt. Damit ist Javiers Schicksal vorgezeichnet.

Realismus oder gar Subtilität gehören gewiss nicht zu den prägenden Fähigkeit von Álex de la Iglesia. Der spanische Regisseur setzt auf Splatter, Body-Horror und absurde Komik. Das gegenseitige Abschlachten von Regierungssoldaten und faschistischen Milizen ist eine dieser grellen Absurditäten, die in erdrückend physisch präsenten Bildern und dabei fast genüsslich die Bestialität aller Beteiligten frei legt.
Die Szene funktioniert wie Metaphysik aus dem Comicbuch: Hier kämpfen nicht die Guten gegen die Bösen, sondern das Böse entlädt sich in einer Art von kollektiver Besessenheit. Jeder Anflug botmäßiger Betroffenheit wird durch den Irrwitz konterkariert, mit der sich der mordende „lustige Clown“ in Frauenkleidern durch die Reihen der Gegner metzelt: Blutfontänen spritzen, eine Comic-Ästhetik, bei der nur noch die Sprechblasen fehlen. Àlex la Iglesia zeigt, wovor andere zurückschrecken: das Bestialische, das Böse im Menschen ist (auch) lächerlich.

Dekonstruktion der Conditio Humana

Wie de la Iglesias „El dia de la bestia“ (Aktion Mutante, 1995) ist „Mad Circus“ eine Horror-Komödie, Freak-Show inklusive. Es überrascht nun wirklich nicht, dass der spanische Regisseur den großen Stummfilm-Horrormeister Tod Browning (sein „Freaks“, 1932, war bereits ein Tonfilm und wer ihn auf YouTube sehen möchte, muss eine Alterserklärung abgegeben) zu seinen Vorbildern zählt.
In seinen Kommentaren zu „Mad Circus“ hat de la Iglesia nun wirklich alles getan, um seinen Film vom Verdacht des Tiefgründigen zu befreien. Ein Bild von einem mordenden Clown habe er vor Augen gehabt und daraus habe er dann eine Geschichte machen wollen. Eigentlich sollte der Clown kleine Kinder massakrieren, aber dann dachte er sich, dass er für so einen Film keinen Produzenten finden würde. Also habe er nach einem Grund für den Zorn des Clowns gesucht und da sei ihm halt der Spanische Bürgerkrieg in den Sinn gekommen.
Irgendwie befindet sich de la Iglesia, der Meister des Morbiden und des post-modernen Splatterfilms in erlesener Gesellschaft: die Coen Brothers sondern ja auch nicht gerade intellektuell Bahnbrechendes zu ihren Filmen ab.
Alles nur Spaß?
Doch wie geht es weiter?

Einige Jahre später, es ist 1973 und das Franco-Regime steht kurz vor seinem Ende, heuert der nun erwachsene Javier (Carlos Areces) bei einem Zirkus an. Als „trauriger Clown“. Denn sein Vater hatte ihm prophezeit, dass jemand wie er, der all das Schreckliche gesehen hat, Kinder keineswegs zum Lachen bringen könne. Also bleibt nur der „traurige Clown“.
De la Iglesia spült in der Folge alles Politische und Historische aus dem Film und reduziert das Thema auf die Dekonstruktion des Allzumenschlichen. Heraus kommt eine teuflische Ménage à trois, in der sich der sich der fette, hässliche Javier unsterblich in die schöne Artistin Natalia (Carolina Bang) verliebt, die ihrerseits mit Sergio (Antonio de la Torre mit einer denkwürdigen Leistung), dem „lustigen Clown“ liiert ist.
Hier hat sich ein Trio Infernal zusammengefunden, das seinesgleichen sucht, und de la Iglesia braucht nur wenige Szenen, um fast holzschnittartig ein allegorisches Bestiarium zu skizzieren, in dem allerdings nicht Tiere, sondern Menschen die Hauptrolle spielen: Sergio, der das kindliche Publikum professionell liebt, ist privat ein sadistischer Psychopath, der seine Geliebte immer wieder brutal zusammenschlägt, Natalia ist eine pathologische Masochistin, die den brutalen Sex genießt, der nach der Tracht Prügel fällig ist, und Javier ist so fett und hässlich, dass sein Begehren für Natalia von da la Iglesia wie eine offenkundige Absurdität inszeniert wird.
Auch Javier kann den Folter-Clown nicht von seinen Missetaten abhalten und landet übel malträtiert im Krankenhaus. Dort hat er eine Vision und als er in den Zirkus zurückkehrt, überrascht er Natalia und Sergio beim Sex. Javier fällt über seinen Nebenbuhler her und zertrümmert ihm mit einer Trompete das Gesicht. Javier muss fliehen, der Zirkus hat seinen Star Sergio verloren, das Trio Infernal ist gesprengt.

Alex de la Iglesia hat eine ganz eigene Vorstellung von der Conditio Humana, und diese ist nicht analytisch, schon gar nicht psychoanalytisch. Es sind Lächerlichkeit und Hässlichkeit, die das Pendant von Brutalität und Gewalt sind. Während Browning mit seinen verkrüppelten Hauptdarstellern Ekel und Ablehnung provozierte und damit auch zeigte, wie sehr der Mythos des erstrebenswert körperlich Schönen unsere Wahrnehmung relativiert, scheint es de la Iglesia zu genießen, seine „Artisten“ wie in einem Gemälde von Hieronymus Bosch vorzuführen, fast dämonisch, als Fratzen: als Javier Sergio und Natalia beim Sex überrascht, sieht er die beiden hinter einem Vorhang wie die Silhouetten eines Scherenschnitts, Natalia schiebt lüstern die Zunge nach vorne, während sie heftig von hinten genommen wird. The Beauty and the Beast wird in de la Iglesias Ästhetik in das (weibliche/männliche) Biest und den Hässlichen verwandelt.
Später wird Javier nackt vor seinen Häschern durch den Wald fliehen und sich wochenlang von Aas ernähren. De la Iglesia zeigt den romantisch Verliebten in seiner ganzen Hässlichkeit, lässt auch nicht zu, dass sich die Kamera vom stummelkurzen Penis des Darstellers abwendet. So etwas zu spielen und überhaupt mit sich geschehen zu lassen, erfordert Mut. Carlos Areces scheint ihn zu haben.
Das löst Ekelgefühle aus, womöglich auch männliche Ängste. Und so darf sich der Zuschauer entscheiden, ob de la Iglesia hier lustvoll das Bild des iberischen Machos dekonstruiert oder und eine infantile Version mittelalterlicher Weltsicht à la Bosch liefert: der Mensch ist schlichtweg böse. So einfach ist es aber nicht.

Bizarre Gewaltexzesse

Dann beginnt der Body Horror. Javier wird von einem Colonel der spanischen Armee, seinem alten Widersacher aus Kindertagen, im Wald aufgelesen. Der rächt sich, indem er Javier bei der Jagd als menschlichen Hund für’s Apportieren einsetzt. Dabei beißt Javier während einer Jagd dem Diktator Franco in die Hand, flieht erneut und hat eine religiöse Vision, in der ihm Natalia als Gottesmutter erscheint. Nun brechen alle Dämme: der „traurige Clown“ deformiert sein Gesicht mit ätzender Lauge und einem Bügeleisen (alles lustvoll naturalistisch von de la Iglesia ins Bild gesetzt) und zieht in einem Bischofsgewand und etlichen  Maschinenpistolen los, um seine geliebte Natalia für sich zu gewinnen. Diese aber entscheidet sich erneut für Sergio, dessen Gesicht auch so grotesk entstellt ist wie das seines Widersachers. Der „lustige“ und der traurige“ Clown sind nur noch Zerrbilder, Cronenbergs Body-Horror lässt grüßen.

Der große Showdown findet dann in den schwindligen Höhen eines Turm in Kreuzform statt, der natürlich das Monumento Nacional de Santa Cruz del Valle de los Caídos (Nationalmonument des Heiligen Kreuzes im Tal der Gefallenen) sein soll. Hier allerdings folgt der Zusammenschluss von Geschichte und Unterdrückung, Geschichtsdeutung und Schmuddelkino. Das Monumento ist nämlich nicht nur ein bauliches Symbol des spanischen Faschismus, dort befindet sich auch die Grabstätte Francos und in einem angrenzenden Schrein ruhen die Gebeine von über 30.000 Toten des spanischen Bürgerkriegs – Falangisten und Republikaner.
Natalia, Sergio und Javier klettern im großen Finale auf dieses Monument: ein wenig „King-Kong, ein wenig „North by Northwest“, alles mit einem Schuss Gothic Horror. Am Ende stirbt die Frau einen wunderschönen Kinotod und Sergio und Javier werden im Polizeiwagen fortgebracht: Sergio schüttet sich aus vor Lachen und Javier weint. Abspann.

Buñuel meets Tarantino

„Mad Circus“ ist ein beeindruckender Film. Eigentlich so ziemlich das Beste in Sachen Trash, was ich in den letzten Jahren gesehen habe. Im Filmclub gab es dafür eine Eins, eine Zwei und eine Fünf. Das liebe ich, denn wo sich die Geister so extrem scheiden, steckt meistens etwas Spannendes dahinter.
Und die Kritik? Abscheulich und ekelerregend sei der Film, widerwärtig und verlorene Zeit obendrein, die Schauspieler seien miserabel, die Dialoge ein Elend, die Anschlüsse passten nicht, jedes scheußliche C-Movie aus der Schmuddelecke der Videothek am Bahnhof sei um Klassen besser als dieser erbärmliche Film.
Himmel, das erinnert mich doch an etwas.
Was war es denn noch?
Richtig: da gab es doch einen anderen spanischen Regisseur, der ebenfalls abscheuliche und blasphemische Filme gemacht hat: Luis Buñuel. Der hat uns bis in die späten 1970er Jahre mit schlimmen Filmen traktiert, die surreal, obskur und subversiv waren, Kirche und Bürgertum aufs Korn nahmen, allerdings mit weniger Blut. L’âge d’or“ (1930), den man heute in der Schule als Filmkunstkunstwerk vorführt, wurde in Frankreich verboten, „Viridiana“ (Goldene Palme in Cannes 1961) war wegen seiner vermeintlichen Blasphemien der größte Kino-Skandal im faschistischen Spanien. Keine Sorge, Álex de la Iglesia ist kein zweiter Buñuel, aber mit Preisen hat man ihn für „Mad Circus“ auch zugeschüttet: er erhielt in Venedig 2011 die Preise für die Beste Regie und das Beste Drehbuch. Jury-Präsident Quentin Tarantino soll entzückt gewesen sein.

Die Ballade der traurigen Trompete

„Mad Circus“ ist alles andere als eine lineare politische Parabel, auch wenn man den Zirkus und seine Artisten, den eifersüchtigen Elefanten und den fliegenden Motorrad-Künstler, der wie ein ein Running Gag immer wieder gegen eine Wand fliegt, durchaus als Bild der zerrissenen spanischen Gesellschaft der 1980er und 1990er Jahre lesen kann.
Álex de la Iglesia hat sich einiges zu „Mad Circus“ entlocken lassen, er hat an seine Kindheitserinnerungen im Franco-Regime erinnert, an die Terroranschläge des Widerstands, die er als Kind als beängstigenden und absurden Spuk erlebte, aber auch irgendwie neugierig wahrnahm. Und „Mad Circus“ beginnt schließlich auch mit den Frankisten und endet dort, wo sie sich ein verkitschtes Bauwerk für die Ewigkeit hingesetzt haben. Für dieses morbide Denkmal der Bewegung ließ Franco über 20 000 Menschen schuften, Tausende starben an den mörderischen Arbeitsbedingungen. Das alles, und dazu noch der Autobombenanschlag des ETA auf Carrero Blanco, den designierten Nachfolger Francos, hat de la Iglesia in seinen Film eingebaut.
Man kann also durchaus etwas Politisch-Allegorisches in den Film hineinlegen, darf aber nicht übersehen, dass der Regisseur die eigenen Schreckensbilder und das historisch Verbriefte wie ein schlecht erzogenes Kind abarbeitet, als ein leicht infantiler Hieronymus Bosch sozusagen. Àlex de la Iglesia hat erklärt, dass Antagonismen zerstörend sind: Schwarz und Weiß genauso wie die Besessenheiten der Liebe und des Hasses, der Ideologie und der Gewalt. Aber er hat auch wie ein ungezogener Schuljunge angedeutet, dass er seine Verstümmelungsphantasien bei einem frühen Stummfilm Tod Brownings geklaut hat. Von jedem etwas. Anything goes.

Das Ganze ist also nicht nur inhaltlich ein postmodernes Patchwork, sondern auch ästhetisch. „Mad Circus“ entpuppt sich folgerichtig als Melange verschiedener Stile. In der Titelsequenz ist schon das ganze Programm des Films enthalten: de la Iglesias Ikonographie des 20. Jahrhunderts ist eine Mixtur aus Pop- und Kino-Ikonen, Bildern von Hitler, Franco und passenderweise solche Filmmonstern, dazu Ansichten des Krieges und der Zerstörung, aber auch Gemälde von Hieronymus Bosch und Matthias Grünewald. Und so geht es auch weiter: es gibt grandiose Massenszenen wie bei Sergio Leone, dann folgt surreal und Buñuel-like ein Aufeinandertreffen von religiösen Symbolen und Tierkadavern, Dreck und Scheiße. Dazu absurde Dialoge und stilisierte Gewaltdarstellung wie bei Tarantino, Body-Horror wie in Cronenbergs „eXistenz“ und ein schauerlich-schöner Look wie in den alten Universal-Horrorfilmen. Und kurz vor dem Ende steht Javier mitten in einem Kinosaal und auf der Leinwand sieht er tränenüberstömt das große Melodram «Sín un adiós» von Vicente Escrivá. Dort singt Raphael, der große spanische Popstar der 1960er und 1970er Jahre als Clown die todtraurige „Ballade von der traurigen Trompete, die um eine Vergangenheit weint, die gestorben ist“. Dort erscheint Javier der tote Vater und gibt seinem wahnsinnig gewordenen Sohn sein Motto mit auf den Weg: „Humor ist etwas für die Schwachen. Wenn dein Publikum nicht lacht, dann erschreck es zu Tode.“
Das hat schon etwas, die Bilder sind schön und durchgeknallt und „Mad Circus“ wirkt beim ersten und auch beim zweiten Mal wie eine filmische Dampframme, die vor Erzähllust überquillt.
Ein wenig problematisch ist das schon, denn alles hat seinen Preis. Wer nicht die Konnotationen und den Eklektizismus des postmodernen spanischen Kinos kennt, wird an der blutigen Fassade von „Mad Circus“ kleben bleiben. Die anderen laufen in die Falle der Beliebigkeit und kleistern den Film mit Bedeutungen zu, die er ja auch herausrückt. Man kann allerdings auch immer etwas ganz Anderes in „Mad Circus“ entdecken. Anything goes.

Einen besseren Zugang zu dem Film erhält man, wenn man den Spaß am Regelbruch als kulturelles Phänomen kennt, wie es nach Francos Tod in der Movida Madrileña aufkam, und die Lust am El Kitsch Español, von der die Generation spanischer Filmemacher in den 1990er Jahren beeinflusst war. Und es kann auch nicht schaden, ein Gefühl für die Filme Pedro Almodóvars zu besitzen, der von diesen Einflüsse ebenfalls geprägt wurde. Doch während sich Almodóvars Melodramen ziemlich kompatibel für das internationale Kino erwiesen, sitzt Álex de la Iglesia weiterhin in seiner Schmuddelecke, macht seine hässlich-schönen Filme und wird dafür ostentativ mit spanischen Filmpreisen geadelt.

Persönlich erinnert mich „Mad Circus“ an das Schmuddelkino, in das man sich früher geschlichen hat, um in Mitternachtsvorstellungen mit weit aufgerissenen Augen George A. Romeros „Dawn of the Dead“ zu sehen.
Der ist ja bis heute verboten, aber je älter man wird, desto besser versteht man, warum die Zombies so gerne in die Shopping Malls zurückkehren. Denn irgendeinen Nerv trifft das Schmuddelkino immer ziemlich treffsicher, vielleicht werden jene, die sich heute vor „Mad Circus“ ekeln, das in 20 Jahren auch so sehen.

Noten: BigDoc = 1, Klawer = 2, Melonie = 5

Kritiken

 „Es ist diese Art makabren Humors, gepaart mit oftmals schockierend brutalen Gewaltszenen, die aus «Balada triste de trompeta» einen beunruhigend ambivalenten Film macht, der sich in seinem barock ausufernden Metaphernreichtum jeder einfachen Interpretation entzieht. Am letztjährigen Festival Venedig, wo der Film Premiere hatte und unter Jurypräsident Quentin Tarantino den Preis für die beste Regie und das beste Drehbuch gewann, lag der Vergleich mit dessen «Inglourious Basterds» nahe, weil hier ebenfalls eine gegen den Strich gebürstete Geschichtsbetrachtung das Gerüst einer vor Fabulierlust überquellenden Story bildete. Man kann «Balada triste» aber auch mit einigen spanischen Klassikern vergleichen, die in den letzten vierzig Jahren mit Francos mörderischem Regime abrechneten. Dabei wirken aber Filme wie etwa jene von Fernando Arabal, Carlos Saura, Vicente Aranda oder Guillermo del Toro neben der verstörenden Wucht von «Balada triste de trompeta» wie harmlose Gutenachtgeschichten“ (Neue Zürcher Zeitung).

„Eine Überwältigungsfantasie, die in ihrem Bilderbombast und ihrer Rotzfrechheit nur vergleichbar ist mit Tarantinos Hitler-Exekution "Inglourious Basterds". Er habe diesen Film drehen müssen, gesteht de la Iglesia, "um einen Schmerz in meiner Seele zu exorzieren, der einfach nicht gehen will...Gegen diese Amok laufenden Clowns wirkt Almodovars Neurosenpersonal geradezu harmlos. De la Iglesia bedient sich wüst und schamlos am Pulp-, Splatter- und Exploitationkino. Kein Wunder, dass Tarantino diesen Film geliebt hat“ (Peter Zander, in: DIE WELT).

„Für den ... rasanten, stilistisch lebendigen, aber substanzlosen bis konfusen Sprint durch eine visuell imposante Filmwelt, die wie eine Collage aus denen Fellinis, Buñuels und Jeunets anmutet, erhielt Iglesia letztes Jahr unerklärlicherweise den Silbernen Löwen für die beste Regie bei den Filmfestspielen von Venedig. Die durchaus erfinderische, manchmal überfrachtete Ästhetik der hysterischen Ausstattungs- und Kostümorgie lenkt aber nur bedingt davon ab, dass die durchaus interessanten Ansätze des Films zunehmend in einem beliebigen Chaos aus extremen Bildern, grellen Tönen und plumpen Provokationen versanden“ (Asokan Nirmalarajah, in: SCHNITT).

Mittwoch, 10. Oktober 2012

King of Devil's Island

Norwegen / Frankreich / Schweden / Polen 2010 - Originaltitel: Kongen av Bastøy - Regie: Marius Holst - Darsteller: Stellan Skarsgård, Benjamin Helstad, Kristoffer Joner, Trond Nilssen, Magnus Langlete, Morten Løvstad - FSK: ab 12 - Länge: 115 min.

Wie man ein besserer Mensch wird

Norwegen, 1915. Auf Bastøy, einer rauen Insel vor Oslo, werden männliche Kinder und Jugendliche, die auffällig oder kriminell geworden sind, einem rigorosen Regime unterworfen. Angeführt von Heimleiter Bestyreren (Stellan Skarsgård) organisieren die ruppigen Heimpädagogen und Aufseher das Leben der Insassen: harte körperliche Arbeit, eiserne Disziplin und Frömmigkeit werden durch das Fehlen einer angemessenen Ernährung folgerichtig abgerundet.
Als der beinahe erwachsene Erling (Benjamin Helstad) zusammen mit dem schmächtigen Ivar (Magnus Langlete) auf die Insel geschickt wird, erhalten beide zunächst eine Nummer, dann werden ihnen die Haare geschoren
Der Verlust der Individualität und das Brechen des freien Willens sind auf Bastøy Programm, Schläge und Isolationshaft gehören zum pädagogischen Standard.

Regisseur Marius Holst nutzt den Antagonismus zwischen dem physisch robusten und rebellischen Erling und dem schwächlichen Ivar, um exemplarisch die sozialen Strukturen auf Bastøy abzuarbeiten. Erling kann auch nach einem vergeblichen Fluchtversuch nicht gebrochen werden, Ivar wird schon bald nach der Ankunft vom sadistischen Hausvater Bråthen (Kristoffer Joner) sexuell missbraucht. Als er die Chance erhält, dem Heimleiter davon zu berichten, wird er schweigen und jene verraten, die sich für ihn eingesetzt haben. Der Dritte im Bunde (und die eigentliche Hauptfigur) ist der angepasste, aber intelligente und feinfühlige Olav (Trond Nilssen), der kurz vor seiner Entlassung steht und eigentlich keine Konfrontation mit der Obrigkeit sucht. Als sich schließlich Ivar umbringt, schlägt Olav am Tag seiner Entlassung Bråthen nieder. Es kommt es auf der Insel zur offenen Rebellion, die vom Militär niedergeschlagen werden muss. Olav ist der Einzige, dem am Ende die Flucht übers Eis gelingt.

Authentischer Publikumserfolg

Es ist gut, dass kurz nach dem Kinostart in Deutschland „King auf Devil’s Island“ nun auch auf DVD und Bluray vorliegt. In Norwegen gehörte der Film 2010 nicht nur zu den teuersten Produktionen der norwegischen Filmgeschichte, sondern schlug auch beim Publikum wie eine Bombe ein. Der bewegende Film wurde nicht nur ein großer Kassenerfolg, sondern deckte auch ein weitgehend in Vergessenheit geratenes Kapitel der norwegischen Geschichte auf.
Dabei geht Holst in seiner Inszenierung durchgehend auf Nummer Sicher: der trist fotografierte, weitgehend farblos geratene Film erinnert mit seinem Plotkern (drei Jugendliche, Gewalt, Vergewaltigung, Selbstmord, Aufstand) an einige möglicherweise weniger bekannte Jugendknast-Filme. Zum Beispiel an Alan Clarkes „Scum“ (GB 1977) und Kim Chapirons überaus beeindruckendes Remake „Dog Pound“ (FR, CAN, GB 2010), besitzt aber weder die nihilistische Trostlosigkeit Clarkes noch die nuancierte Erzählkraft Chapirons.
Holst setzt vielmehr auf historische Genauigkeit und einen aufklärerischen Impetus. Das Ergebnis ist ein gradlinig erzählter, schnörkelloser und weitgehend vorhersehbarer Film, der seine drei Hauptfiguren nutzt, um die dialektische Beziehung zwischen dem fatalen reformpädagogischen Ansatz (strenger Verhaltenskodex, unbedingter Gehorsam, militärischer Drill etc.) und unvermeidlicher Gewalt fast lehrbuchhaft vorzuführen.

Dabei erinnert sein Erzählstil sehr stark an den spätbürgerlichen Naturalismus des 19. Jh., der von einer analytischen Durchdringung des Sujets zugunsten einer gewollten Oberflächenhaftung weitgehend absah.
Der Vorteil: das Thema wird in seiner Unmittelbarkeit für ein breites Publikum kompatibel.

Die Hintergründe bleiben zum Teil im Dunklen

Trotz aller Sympathie für „King of Devils‘ Island“ möchte ich zumindest dezent darauf hinweisen, dass dieser Erzählstil auch seine Ecken und Kanten hat. Holst und seine Drehbuchautoren haben zwar sehr genau recherchiert und mit fast minimalistischem Stil eine große Authentizität erreicht. Auch das Zusammenspiel der jugendlichen Laiendarsteller und der professionellen Schauspieler ist über jeden Zweifel erhaben. Dabei konnten die Macher weiterführende psychologische und besonders soziologische Aspekte aber nur in dem Maße andeuten, wie es für den Transport der Geschichte erforderlich ist.
Gut: am Rande wir angedeutet, dass Heimleiter Bestyreren hinter der Fassade des strengen Frömmlers korrupt ist. Er wirtschaftet in die eigene Tasche und wegen der finanziellen Abhängigkeit von kirchlichen Zuwendungen ist sein Interesse an einer öffentlichen Untersuchung der Missbrauchsfälle denkbar gering. Aber das überrascht nicht wirklich und die eigentlichen Gründe, warum für überwiegend nicht-kriminelle Kinder eine brutale Knastatmosphäre erforderlich sein soll, werden dadurch nicht klarer.
Dadurch entsteht eine Rezeptionslücke: man erfährt weder etwas über die historischen noch über die soziologischen und religiösen Hintergründe derartiger Einrichtungen. Lücken müssen aber geschlossen werden und der Zuschauer kann entweder dicke Bücher wälzen oder er projiziert seine (modernen) Moralvorstellungen und seine emotionale Empörung auf die bösen Sadisten, die auf einer abgelegenen Insel ihre Zöglinge quälen. Das aber enthistorisiert das Sujet und führt zu einer vordergründigen „Empört euch!“-Haltung.

Zweifellos dürfte die 1896 auf Bastøy gegründete Besserungsanstalt für Jungen fragwürdige und gestörte Persönlichkeiten angezogen haben, aber das, was auf Bastøy und bis in die jüngere Gegenwart auch in anderen Heimen geschah, ist nicht nur das Ergebnis von individuellem Sadismus und pädophilen Neigungen, sondern auch Teil einer christlichen Tradition in der Pädagogik, die nicht erst seit Luther („..der Kinder Eigenwille soll gebrochen, und sie demüthig und sanftmüthig werden“) Kinder als Feinde betrachtete und sie wie bei Johann Arndt bereits vor der Geburt als Sitz des Bösen betrachtete. Erziehung - ein Exzorzismus?
Nun hat christliche Pädagogik zum Glück auch deutlich humanere Vertreter, aber wer sich mit der konfessionell geprägten (sowohl protestantisch als auch katholischen) Schwarzen Pädagogik (http://bigdocsfilmclub.blogspot.de/2009/11/schwarze-padagogik.html) beschäftigt hat, wird wissen, dass es auch eine gnadenlose Traditionsgeschichte gegeben hat. Und diese Quälerei hatte System.

Tolles Bonusmaterial

Dass die Anstalt auf Bastøy eben keine Jugendstrafanstalt gewesen ist, erfährt man erst in der sehr sehenswerten Dokumentation „Bastøy – geordnete Erziehung“, die zum Bonusmaterial der DVD gehört. Hier wird deutlich, dass im Norwegen des beginnenden 20. Jh. bereits der einmalige Griff in einen Klingelbeutel ausreichte, um für Jahre auf der Gefängnisinsel geschliffen zu werden. Aber auch von ihren Eltern vernachlässigte Kinder oder sogar Jugendliche, die keine Lehrstelle gefunden hatten, landeten in den Händen der sogenannten Reformpädagogen. Mit anderen Worten: Bastøy war ein Heim für Kinder (zum Teil Zehnjährige!) und Jugendliche, die in der Regel kaum mehr verbrochen hatten als das Ungeschick, in problematische Familien hineingeboren zu werden. Das schlägt auf den Magen, aber es bleibt der Eindruck, dass Michael Haneke mit „Das weiße Band“ tiefer in die Eingeweide der bösen Pädagogik eingedrungen ist.

Trotz einiger Einwände: man kann froh sein, dass es diesen Film gibt. Nicht nur vor dem Hintergrund der nicht enden wollenden Skandale um die Heimerziehung. Sondern auch und besonders, weil die langjährige Ignoranz der Institutionen, aber auch der Politik und der Öffentlichkeit, die Opfer repressiver Erziehungsmethoden als Personen marginalisiert haben. Davon hat auch einer der noch lebenden ehemaligen Zöglinge in „Bastøy – geordnete Erziehung“ berichtet, nämlich dass niemand ihnen glaubte – weder während ihres Aufenthalts noch später. Wer einmal in Bastøy war, blieb stigmatisiert.
Marius Holst hat einen Film gegen das Vergessen gedreht. Zusammen mit dem exzellenten Bonusmaterial ist die DVD ein bemerkenswertes Medienpaket, das uneingeschränkt empfohlen werden muss.

Noten: Klawer, Melonie = 2; BigDoc, Mr. Mendez = 2,5

Kritik

„Nicht in den primären Übergriffen gegen die Jugendlichen, sondern in den Versuchen des Leugnens und Vertuschens ist der wahre Schrecken dieses Films zu finden, der einen dann doch ohne alle spekulativen Elemente an die Missbrauchs-Enthüllungen in Deutschland erinnert. Wie sich der Zorn der Opfer entlädt, das ist mit großer Wucht, aber ohne falsche Zuversicht inszeniert. Auch ihr mutiger Aufstand wird den Gequälten nichts nützen“ (Thomas Klingenmaier, in: Stuttgarter Zeitung)

„Holst hat eine bewährte Geschichte auf bewährte Weise fürs breite Publikum inszeniert. Nimmt man diese nicht besonders hohen Ansprüche, die der Regisseur damit an sich selbst stellt, ist ihm durchaus ein schöner, in sich stimmiger Film gelungen: ein Coming-of-Age-Melodram vor historischem Setting, mit großen Emotionen und einem kämpferischen Aufruf zur Zivilcourage“ (Michael Kienzl, critic.de).

„King Of Devil’s Island gehört zu den Filmen, die ihr Publikum in den Bann ziehen und auch dann noch beschäftigen, wenn der Abspann vorüber ist. Die subtile Zeichnung der Figuren hat daran großen Anteil. Stellan Skarsgard ist ein Direktor, der stets seine Nähe zu Gott behauptet und doch das Böse zumindest toleriert. In Skarsgards Augen kann man eine Geschichte unauflösbarer Widersprüche lesen…King Of Devil’s Island gilt als einer der erfolgreichsten norwegischen Filme der vergangenen Jahre. Das Land kennt jetzt die Geschichte von Bastoy. Erst 1970 wurde das Heim geschlossen. Heute befindet sich auf der Insel eines der liberalsten Gefängnisse der Welt“ (Dietmar Kanthak, in: epd-film).

Mittwoch, 3. Oktober 2012

Take Shelter - Ein Sturm zieht auf

USA 2011 - Originaltitel: Take Shelter - Regie: Jeff Nichols - Darsteller: Michael Shannon, Jessica Chastain,Tova Stewart, Shea Whigham, Katy Mixon, Kathy Baker, Ray McKinnon, Lisa Gay Hamilton, Robert Longstreet - FSK: ab 12 - Länge: 120 min.

Wenn Männer während der Arbeit oder danach zusammen in einem Auto sitzen und ein Bier trinken, nimmt der Smalltalk oft eine existenzielle Bedeutung an. Man soll daher nicht glauben, dass in solchen Situationen Banales abgesondert wird. In „Take Shelter“ sitzen gleich am Anfang Curtis LaForche und sein Freund und Kollege Dewart in einem Auto. Dewart kündigt an, dass er und seine Frau einen „Dreier“ mit einer 120-Kilo-Frau planen und bescheinigt seinem Freund gleichzeitig, dass dieser doch dagegen ein wunderbar normales Leben mit einer wunderbaren Frau führt.
So etwas ist nicht gut, ganz im Gegenteil: so kündigen sich im Kino richtig schlimme Katastrophen an. Man erinnert sich prompt daran, dass in „The Walking Dead“ Rick und Shane, beide auch beste Freunde, im Auto sitzen und über das Leben, die Familie und ihre Frauen sinnieren. Und dann kommen die Zombies.

Portrait eines psychischen Zerfalls

In „Take Shelter“ gibt es keine Untoten, aber eine Apokalypse biblischen Ausmaßes zieht herauf. Davon ahnt Curtis (Michael Shannon) zunächst nichts. Er lebt mit seiner Frau Samantha und seiner hörbehinderten Tochter Hannah in Ohio, weit draußen auf dem Land. Der Alptraum schleicht sich in sein Leben auf leisen Sohlen ein. Wolken ziehen auf, dunkel dräuend, von Blitzen durchzogen. Die Vögel gruppieren sich zu merkwürdigen Schwärmen und die Normalität schleicht sich mit leisen Schritten aus dem Leben des Vorarbeiters eines Sandgewinnungsunternehmens.
Dann kommen die Alpträume: Curtis wird von seinem Hund angefallen, später wird in auch seine Frau im Traum erscheinen, klatschnass steht sie in der Küche und schaut unverhohlen auf ein Küchenmesser, das auf dem Spülbecken liegt. Wahnhaft beginnt Curtis damit, die Bedrohungen beiseite zu schaffen: der Hund muss aus dem Haus, später will er seinen besten Freund nicht mehr in seinem Team haben und für Samatha befürchtet man schon das Schlimmste. Von innen heraus wird die Befindlichkeit der amerikanischen Mittelstandsfamilie langsam ausgehöhlt, und währenddessen beginnt Curtis damit, den Sturmschutzkeller im Vorgarten auszubauen. 
Ein großer Sturm wird kommen und nur er weiß, dass Unvermeidliches geschehen wird.

Was Jeff Nichols („Shotgun Stories“, 2007) in „Take Shelter“ inszeniert, ist zunächst das beklemmende Porträt eines psychischen Zerfalls. Als Zuschauer beeilt man sich, mit der gebotenen Rationalität die überdeutlichen Zeichen zu deuten: klar, hier wächst eine Psychose heran, die unweigerlich in die Katastrophe münden wird. 
Auch Curtis zieht das Naheliegende als Erklärung heran, ist seine Mutter doch in jungen Jahren an paranoider Schizophrenie erkrankt. Der Hausarzt rät zum Besuch eines Psychiaters, heraus kommen einige Sitzungen bei einer Psychologin, doch das, was von Curtis Besitz ergriffen hat, will sich nicht vertreiben lassen. Mit unerbittlicher Konsequenz illustriert Nichols in ruhigen Bildern den Niedergang eines Mannes, der nur für eine kurze Zeit Normalität und Wahnbilder ausbalancieren kann. Dann aber, man ahnt es als Zuschauer, wird er fast alles verlieren: seinen Job, seinen Freund, und beinahe auch das Vertrauen seiner Frau.

Take Shelter heißt übersetzt ‚Schutz suchen’. Bloß vor was? Da drängt es sich auf, den unterirdischen Bunker, an dem Curtis herumwerkelt, als Symbol zu deuten. Das gelingt durchaus, wenn man die Heimsuchungen der Familie LaForche als Krisensymptomatik des amerikanischen Mittelstands in unsicheren Zeiten der globalen Finanzkrise liest.
Die Spuren werden von Nichols allerdings unübersehbar gelegt: die verordnete Handvoll Tranquilizer, die Curtis verordnet bekommt, kosten ihn 50 Dollar und die anstehende Operation seiner behinderten Tochter ist nur möglich, weil Curtis einen ungewöhnlich großzügigen Krankenversicherungsschutz genießt. Wenn sich Curtis bei seiner Hausbank um einen Kredit bemüht, warnt ihn der Banker ganz offen und erwähnt unheilvoll ‚flexible Zinsen’, was sich ja auch in diesen Zeiten bereits wie ein Vollstreckungsurteil anhört.
Alles recht naheliegend, doch warum hat man bloß beim Zuschauen das Gefühl, dass dies eine faule und bequeme Deutungsausrede ist? Bei allem Verständnis für eine allegorische und soziologisch motivierte Deutung des Films sollte man (bei aller Begeisterung) nicht vergessen, das die Finanzkrise eben kein mystisches Naturereignis, kein metaphysischer Sturm ist, sondern das Ergebnis kalten Kalküls – eben man-made. Was sollen wir vom Kino erhoffen, wenn schon die Erklärungen der Ökonomen fadenscheinig sind?

Weltuntergang als Kammerspiel

Tatsächlich ist „Take Shelter“ eine Angstmaschine, ein prä-dystopischer Horrorfilm, wie man ihn lange nicht gesehen hat. Wie auch bei seiner Hauptfigur schleicht beim Zuschauen eine Beklemmung ein, die sich peu à peu in eine anhaltend tiefe Unruhe verwandelt.
„Take Shelter“ lebt dabei in erster Linie vom grandiosen Spiel Michael Shannons, der zu den Lieblingsschauspielern von Werner Herzog zählt und bereits in „Shotgun Stories“ für Jeff Nichols vor der Kamera stand. Einem breiteren Publikum ist Shannon als Agent Nelson van Alden aus „Boardwalk Empire“ bekannt : dort spielt er einen hochneurotischen und fast wahnhaft religiösen Bundespolizisten, der sich geißelt und auch nicht vor einem Mord zurückschreckt, um seine Überzeugungen durchzusetzen.

In „Take Shelter“ lässt Shannon seinen Obsessionen dagegen keinen freien Lauf. Seine Figur legt er als liebevollen Gatten und Vater an, frei von Aggressionen oder Wutausbrüchen. Selbst wenn Curtis bereits jenseits von Gut und Böse ist, erlebt man keinen Psychopathen, sondern einen Vater, der zärtlich mit seiner Tochter spielt, man spürt seinen Willen zum Widerstand und den Glauben an eine Rationalität, die er nur dann zurückbekommt, wenn er sich nur besonders heftig anstrengt. Und Shannon strengt sich an, man sieht seinem zerquälten Gesicht an, was ihn umtreibt. Doch wie in einer griechischen Tragödie zieht es seine Figur Curtis, und damit auch dessen Familie, unweigerlich nach unten. Die Aporie der Figur wirkt beklemmend und über weite Strecken ist es nicht leicht, den Film überhaupt auszuhalten.

Stilistisch befindet sich Jeff Nichols mit seiner Endzeitstudie dabei ganz in der Tradition von M. Night Shyamalan: auch Nichols setzt auf ruhige, lange Kameraeinstellungen, die sich auf die Protagonisten konzentrieren und sich Zeit für die physiognomische Widerspiegelung ihres Innenlebens nehmen. Und wie bei Shyamalan spielen auch Töne bei Nichols eine wichtige Rolle, etwa wenn sich bedrohlicher Donner als Lärm einer Baumaschine entpuppt oder dann, wenn Curtis bedrohliche Geräusche hört, die sonst keiner hören kann. Dazu passt dann der minimalistische und wirklich exzellente Score von David Wingo wie eine Faust aufs Auge.
Und auch ähnlich wie bei Shyamalan ist „Take Shelter“ tempoarm geschnitten und nicht nur das erinnert dann doch sehr an „The Happening“ und besonders an die stürmische Unruhe der Natur in Shyamalans „Signs“, der letztendlich auch eine familiäre Paranoiastudie gewesen ist. Für „Take Shelter“ gilt über weite Strecken das, was Roger Ebert über „Signs“ geschrieben hat:When it is over, we think not how little has been decided, but how much has been experienced“. Recht hat er, auch "Take Shelter" wirkt durch seine pure Präsenz und weniger durch die anschließende Analyse.

Kurz vor dem Ende kommt dann der erste Sturm. Die Familie begibt sich in den Bunker, der zum Erfüllungsort der Visionen wird. Erlösen kann dies Curtis nicht, auch nicht das wieder gewonnene Vertrauen seiner Frau: am nächsten Morgen wird es ihn viel Kraft kosten, die schwere Bunkertür aufzuschließen, denn noch hört er, dass  da draußen das Inferno tobt. Doch draußen ist alles ruhig und die Nachbarn räumen nur eine Handvoll abgebrochener Äste auf. Alles nur ein Protokoll einer mitleiderregenden Psychose?
Dass „Take Shelter“ dann doch etwas mehr sein will, das liegt am finalen Plot Twist. Nichols macht einen harten Schnitt, verlässt das Sozialdrama und wechselt das Genre. Vordergründig wird uns demonstriert, dass  Curtis ähnlich wie die Vögel am Himmel, die eine Bedrohung viel eher spüren als der Mensch, wohl der Einzige gewesen ist, der ein Sensorium für das besessen hat, was nach dem harmlosen Vorspiel wirklich heraufzieht. So suggeriert der fast schon paradoxe Schluss, dass ein Paranoiker am Ende eben doch Recht behalten kann und zudem weiß, dass auch seine Familie dies weiß: im Angesicht des Todes ist man wieder ganz bei sich und auch zusammen. Das ist fast schon eine Versöhnung, zumindest kann man das als Zuschauer so sehen. Oder man reagiert genervt. Entscheidend ist dies nicht, denn „Take Shelter“ ist Suspense-Kino, das bereits vorher Angst gemacht hat. Sehr viel sogar.

Noten: BigDoc = 1,5

Kritiken

„Jeff Nichols Film ist ein fintenreiches, geschickt inszeniertes und intelligentes Porträt einer krisenerschütterten Gesellschaft ... Insofern darf man den Film auch weniger direkt politisch, als universeller, nämlich wirtschaftlich und soziologisch interpretieren: In der Weltfinanzkrise löst sich gerade der amerikanische Traum in Luft auf: Hauskredite platzen, der finanzielle Sturm hat noch schlimmere Folgen, als der schlimmste Tornado. Take Shelter ist sehr glaubhaft in seiner Milieuzeichnung des kleinbürgerlichen Amerika, das alles richtig machen will, ans Gute glaubt, und doch auf keinen grünen Zweig kommt“ (Rüdiger Suchsland in: ARTACHOCK).

„Selten hat ein Film so beklemmend und atmosphärisch dicht den Weg eines Menschen in den psychischen Abgrund gezeigt. Langsam und bedächtig webt Regisseur Jeff Nichols das Netz des Wahnsinns um seinen Hauptdarsteller und den Zuschauer herum, bis man nicht mehr erkennen kann, was real ist und was Wahnvorstellung. Allerdings konnte Regisseur Jeff Nichols zu guter Letzt wohl der Versuchung nicht widerstehen und gibt mit der allerletzten Szene seinem Film eine Wendung, wie man sie sonst nur aus reißerischen Horrorfilmen kennt. Und damit macht er leider vieles kaputt, was „Ein Sturm zieht auf“ zuvor zwei Stunden lang mühevoll und gekonnt aufbaut“ (Tobias Martin, Bayern 3).

„Nichols bleibt immer sehr nahe an seinen Figuren. Und niemals ertränkt er seinen Film in Effekten. Man kann auf die scheinbare Naivität des Endes hereinfallen – auf den Sieg der Liebe über Wirklichkeit und Wahn gleichermaßen. Das tröstet höchstens für den Augenblick. Oder als Traum. Den Sturm hält es nicht auf“ (Georg Seeßlen in: DIE ZEIT).

„Take Shelter ist wie ein kohärenter Körper, der zugleich mit leise rasselnden Lungenflügeln die Folgen der Wirtschaftskrise atmet. Eine Parabel auf die Angst des weißen Kleinbürgers vor dem Kontrollverlust genauso, wie die Beschreibung eines im sterben liegenden Amerikas ohne Aussicht auf Heilung. Das wirklich Bemerkenswerte an Nichols’ Leistung ist allerdings, daß sich diese im Subtext mitschwingende Ebene nicht als Botschaft aufdrängt. Sie ist nicht das, worauf ein Regisseur hinaus will, der nur tut, viel eher ergibt sie sich wie nebenbei aus der organischen Konstruktion des Ganzen und aus der hochkonzentrierten Reduktion auf die psychische Verfassung der Hauptfigur – und auch hier setzt Nichols noch einen drauf: Nur selten bezog ein kommerzieller Horrorfilm seine Spannung aus dem Psychogramm seines Helden, und noch seltener verdankte er dies einem Hauptdarsteller, der, wie Michael Shannon, eine oscarwürdige Leistung in ein solches Sujet hineinträgt“ (Martin Thomson in: SCHNITT).