Mittwoch, 3. Oktober 2012

Take Shelter - Ein Sturm zieht auf

USA 2011 - Originaltitel: Take Shelter - Regie: Jeff Nichols - Darsteller: Michael Shannon, Jessica Chastain,Tova Stewart, Shea Whigham, Katy Mixon, Kathy Baker, Ray McKinnon, Lisa Gay Hamilton, Robert Longstreet - FSK: ab 12 - Länge: 120 min.

Wenn Männer während der Arbeit oder danach zusammen in einem Auto sitzen und ein Bier trinken, nimmt der Smalltalk oft eine existenzielle Bedeutung an. Man soll daher nicht glauben, dass in solchen Situationen Banales abgesondert wird. In „Take Shelter“ sitzen gleich am Anfang Curtis LaForche und sein Freund und Kollege Dewart in einem Auto. Dewart kündigt an, dass er und seine Frau einen „Dreier“ mit einer 120-Kilo-Frau planen und bescheinigt seinem Freund gleichzeitig, dass dieser doch dagegen ein wunderbar normales Leben mit einer wunderbaren Frau führt.
So etwas ist nicht gut, ganz im Gegenteil: so kündigen sich im Kino richtig schlimme Katastrophen an. Man erinnert sich prompt daran, dass in „The Walking Dead“ Rick und Shane, beide auch beste Freunde, im Auto sitzen und über das Leben, die Familie und ihre Frauen sinnieren. Und dann kommen die Zombies.

Portrait eines psychischen Zerfalls

In „Take Shelter“ gibt es keine Untoten, aber eine Apokalypse biblischen Ausmaßes zieht herauf. Davon ahnt Curtis (Michael Shannon) zunächst nichts. Er lebt mit seiner Frau Samantha und seiner hörbehinderten Tochter Hannah in Ohio, weit draußen auf dem Land. Der Alptraum schleicht sich in sein Leben auf leisen Sohlen ein. Wolken ziehen auf, dunkel dräuend, von Blitzen durchzogen. Die Vögel gruppieren sich zu merkwürdigen Schwärmen und die Normalität schleicht sich mit leisen Schritten aus dem Leben des Vorarbeiters eines Sandgewinnungsunternehmens.
Dann kommen die Alpträume: Curtis wird von seinem Hund angefallen, später wird in auch seine Frau im Traum erscheinen, klatschnass steht sie in der Küche und schaut unverhohlen auf ein Küchenmesser, das auf dem Spülbecken liegt. Wahnhaft beginnt Curtis damit, die Bedrohungen beiseite zu schaffen: der Hund muss aus dem Haus, später will er seinen besten Freund nicht mehr in seinem Team haben und für Samatha befürchtet man schon das Schlimmste. Von innen heraus wird die Befindlichkeit der amerikanischen Mittelstandsfamilie langsam ausgehöhlt, und währenddessen beginnt Curtis damit, den Sturmschutzkeller im Vorgarten auszubauen. 
Ein großer Sturm wird kommen und nur er weiß, dass Unvermeidliches geschehen wird.

Was Jeff Nichols („Shotgun Stories“, 2007) in „Take Shelter“ inszeniert, ist zunächst das beklemmende Porträt eines psychischen Zerfalls. Als Zuschauer beeilt man sich, mit der gebotenen Rationalität die überdeutlichen Zeichen zu deuten: klar, hier wächst eine Psychose heran, die unweigerlich in die Katastrophe münden wird. 
Auch Curtis zieht das Naheliegende als Erklärung heran, ist seine Mutter doch in jungen Jahren an paranoider Schizophrenie erkrankt. Der Hausarzt rät zum Besuch eines Psychiaters, heraus kommen einige Sitzungen bei einer Psychologin, doch das, was von Curtis Besitz ergriffen hat, will sich nicht vertreiben lassen. Mit unerbittlicher Konsequenz illustriert Nichols in ruhigen Bildern den Niedergang eines Mannes, der nur für eine kurze Zeit Normalität und Wahnbilder ausbalancieren kann. Dann aber, man ahnt es als Zuschauer, wird er fast alles verlieren: seinen Job, seinen Freund, und beinahe auch das Vertrauen seiner Frau.

Take Shelter heißt übersetzt ‚Schutz suchen’. Bloß vor was? Da drängt es sich auf, den unterirdischen Bunker, an dem Curtis herumwerkelt, als Symbol zu deuten. Das gelingt durchaus, wenn man die Heimsuchungen der Familie LaForche als Krisensymptomatik des amerikanischen Mittelstands in unsicheren Zeiten der globalen Finanzkrise liest.
Die Spuren werden von Nichols allerdings unübersehbar gelegt: die verordnete Handvoll Tranquilizer, die Curtis verordnet bekommt, kosten ihn 50 Dollar und die anstehende Operation seiner behinderten Tochter ist nur möglich, weil Curtis einen ungewöhnlich großzügigen Krankenversicherungsschutz genießt. Wenn sich Curtis bei seiner Hausbank um einen Kredit bemüht, warnt ihn der Banker ganz offen und erwähnt unheilvoll ‚flexible Zinsen’, was sich ja auch in diesen Zeiten bereits wie ein Vollstreckungsurteil anhört.
Alles recht naheliegend, doch warum hat man bloß beim Zuschauen das Gefühl, dass dies eine faule und bequeme Deutungsausrede ist? Bei allem Verständnis für eine allegorische und soziologisch motivierte Deutung des Films sollte man (bei aller Begeisterung) nicht vergessen, das die Finanzkrise eben kein mystisches Naturereignis, kein metaphysischer Sturm ist, sondern das Ergebnis kalten Kalküls – eben man-made. Was sollen wir vom Kino erhoffen, wenn schon die Erklärungen der Ökonomen fadenscheinig sind?

Weltuntergang als Kammerspiel

Tatsächlich ist „Take Shelter“ eine Angstmaschine, ein prä-dystopischer Horrorfilm, wie man ihn lange nicht gesehen hat. Wie auch bei seiner Hauptfigur schleicht beim Zuschauen eine Beklemmung ein, die sich peu à peu in eine anhaltend tiefe Unruhe verwandelt.
„Take Shelter“ lebt dabei in erster Linie vom grandiosen Spiel Michael Shannons, der zu den Lieblingsschauspielern von Werner Herzog zählt und bereits in „Shotgun Stories“ für Jeff Nichols vor der Kamera stand. Einem breiteren Publikum ist Shannon als Agent Nelson van Alden aus „Boardwalk Empire“ bekannt : dort spielt er einen hochneurotischen und fast wahnhaft religiösen Bundespolizisten, der sich geißelt und auch nicht vor einem Mord zurückschreckt, um seine Überzeugungen durchzusetzen.

In „Take Shelter“ lässt Shannon seinen Obsessionen dagegen keinen freien Lauf. Seine Figur legt er als liebevollen Gatten und Vater an, frei von Aggressionen oder Wutausbrüchen. Selbst wenn Curtis bereits jenseits von Gut und Böse ist, erlebt man keinen Psychopathen, sondern einen Vater, der zärtlich mit seiner Tochter spielt, man spürt seinen Willen zum Widerstand und den Glauben an eine Rationalität, die er nur dann zurückbekommt, wenn er sich nur besonders heftig anstrengt. Und Shannon strengt sich an, man sieht seinem zerquälten Gesicht an, was ihn umtreibt. Doch wie in einer griechischen Tragödie zieht es seine Figur Curtis, und damit auch dessen Familie, unweigerlich nach unten. Die Aporie der Figur wirkt beklemmend und über weite Strecken ist es nicht leicht, den Film überhaupt auszuhalten.

Stilistisch befindet sich Jeff Nichols mit seiner Endzeitstudie dabei ganz in der Tradition von M. Night Shyamalan: auch Nichols setzt auf ruhige, lange Kameraeinstellungen, die sich auf die Protagonisten konzentrieren und sich Zeit für die physiognomische Widerspiegelung ihres Innenlebens nehmen. Und wie bei Shyamalan spielen auch Töne bei Nichols eine wichtige Rolle, etwa wenn sich bedrohlicher Donner als Lärm einer Baumaschine entpuppt oder dann, wenn Curtis bedrohliche Geräusche hört, die sonst keiner hören kann. Dazu passt dann der minimalistische und wirklich exzellente Score von David Wingo wie eine Faust aufs Auge.
Und auch ähnlich wie bei Shyamalan ist „Take Shelter“ tempoarm geschnitten und nicht nur das erinnert dann doch sehr an „The Happening“ und besonders an die stürmische Unruhe der Natur in Shyamalans „Signs“, der letztendlich auch eine familiäre Paranoiastudie gewesen ist. Für „Take Shelter“ gilt über weite Strecken das, was Roger Ebert über „Signs“ geschrieben hat:When it is over, we think not how little has been decided, but how much has been experienced“. Recht hat er, auch "Take Shelter" wirkt durch seine pure Präsenz und weniger durch die anschließende Analyse.

Kurz vor dem Ende kommt dann der erste Sturm. Die Familie begibt sich in den Bunker, der zum Erfüllungsort der Visionen wird. Erlösen kann dies Curtis nicht, auch nicht das wieder gewonnene Vertrauen seiner Frau: am nächsten Morgen wird es ihn viel Kraft kosten, die schwere Bunkertür aufzuschließen, denn noch hört er, dass  da draußen das Inferno tobt. Doch draußen ist alles ruhig und die Nachbarn räumen nur eine Handvoll abgebrochener Äste auf. Alles nur ein Protokoll einer mitleiderregenden Psychose?
Dass „Take Shelter“ dann doch etwas mehr sein will, das liegt am finalen Plot Twist. Nichols macht einen harten Schnitt, verlässt das Sozialdrama und wechselt das Genre. Vordergründig wird uns demonstriert, dass  Curtis ähnlich wie die Vögel am Himmel, die eine Bedrohung viel eher spüren als der Mensch, wohl der Einzige gewesen ist, der ein Sensorium für das besessen hat, was nach dem harmlosen Vorspiel wirklich heraufzieht. So suggeriert der fast schon paradoxe Schluss, dass ein Paranoiker am Ende eben doch Recht behalten kann und zudem weiß, dass auch seine Familie dies weiß: im Angesicht des Todes ist man wieder ganz bei sich und auch zusammen. Das ist fast schon eine Versöhnung, zumindest kann man das als Zuschauer so sehen. Oder man reagiert genervt. Entscheidend ist dies nicht, denn „Take Shelter“ ist Suspense-Kino, das bereits vorher Angst gemacht hat. Sehr viel sogar.

Noten: BigDoc = 1,5

Kritiken

„Jeff Nichols Film ist ein fintenreiches, geschickt inszeniertes und intelligentes Porträt einer krisenerschütterten Gesellschaft ... Insofern darf man den Film auch weniger direkt politisch, als universeller, nämlich wirtschaftlich und soziologisch interpretieren: In der Weltfinanzkrise löst sich gerade der amerikanische Traum in Luft auf: Hauskredite platzen, der finanzielle Sturm hat noch schlimmere Folgen, als der schlimmste Tornado. Take Shelter ist sehr glaubhaft in seiner Milieuzeichnung des kleinbürgerlichen Amerika, das alles richtig machen will, ans Gute glaubt, und doch auf keinen grünen Zweig kommt“ (Rüdiger Suchsland in: ARTACHOCK).

„Selten hat ein Film so beklemmend und atmosphärisch dicht den Weg eines Menschen in den psychischen Abgrund gezeigt. Langsam und bedächtig webt Regisseur Jeff Nichols das Netz des Wahnsinns um seinen Hauptdarsteller und den Zuschauer herum, bis man nicht mehr erkennen kann, was real ist und was Wahnvorstellung. Allerdings konnte Regisseur Jeff Nichols zu guter Letzt wohl der Versuchung nicht widerstehen und gibt mit der allerletzten Szene seinem Film eine Wendung, wie man sie sonst nur aus reißerischen Horrorfilmen kennt. Und damit macht er leider vieles kaputt, was „Ein Sturm zieht auf“ zuvor zwei Stunden lang mühevoll und gekonnt aufbaut“ (Tobias Martin, Bayern 3).

„Nichols bleibt immer sehr nahe an seinen Figuren. Und niemals ertränkt er seinen Film in Effekten. Man kann auf die scheinbare Naivität des Endes hereinfallen – auf den Sieg der Liebe über Wirklichkeit und Wahn gleichermaßen. Das tröstet höchstens für den Augenblick. Oder als Traum. Den Sturm hält es nicht auf“ (Georg Seeßlen in: DIE ZEIT).

„Take Shelter ist wie ein kohärenter Körper, der zugleich mit leise rasselnden Lungenflügeln die Folgen der Wirtschaftskrise atmet. Eine Parabel auf die Angst des weißen Kleinbürgers vor dem Kontrollverlust genauso, wie die Beschreibung eines im sterben liegenden Amerikas ohne Aussicht auf Heilung. Das wirklich Bemerkenswerte an Nichols’ Leistung ist allerdings, daß sich diese im Subtext mitschwingende Ebene nicht als Botschaft aufdrängt. Sie ist nicht das, worauf ein Regisseur hinaus will, der nur tut, viel eher ergibt sie sich wie nebenbei aus der organischen Konstruktion des Ganzen und aus der hochkonzentrierten Reduktion auf die psychische Verfassung der Hauptfigur – und auch hier setzt Nichols noch einen drauf: Nur selten bezog ein kommerzieller Horrorfilm seine Spannung aus dem Psychogramm seines Helden, und noch seltener verdankte er dies einem Hauptdarsteller, der, wie Michael Shannon, eine oscarwürdige Leistung in ein solches Sujet hineinträgt“ (Martin Thomson in: SCHNITT).