Mittwoch, 28. September 2011

Die Herrschaft der Schatten


(O.: Vanishing on 7th Street, USA: 2010, R.: Brad Anderson, D.: Anthony Jaswinski, D.: Hayden Christensen, Thandie Newton, John Leguizamo)

Brad Anderson hat ein Faible für abseitige Storys, in denen Verdrängtes zwar psychoanalytisch durchdekliniert werden kann, letztlich aber in mythisch überhöhter Weise zurückkehrt und seinen Tribut fordert (El Maqquinista, D.: Der Maschinist, USA 2004) oder in denen die Geschichten ihr geheimnisvolles Rätsel nicht ganz auflösen wollen (Transsiberian, USA 2008).
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wurde der amerikanische Regisseur und Autor als neue große Hoffnung der Independents gefeiert, arbeitete in der Folge aber auch sehr häufig als Regisseur für das Fernsehen (u.a. in Vorzeigeserien wie The Wire und The Shield). Mit Vanishing on 7th Street versuchte Anderson nun einen Ausflug ins B-Picture-Geschäft, floppte aber mit dem für 10 Mio. US-Dollar produzierten Low-Budget-Gruselfilm an der Kasse – nur in einem Kino aufgeführt, spielte Die Herrschaft der Schatten (dts. Verleihtitel) lediglich 22.000 US-Dollar ein. Das Independent Movie hat einen schweren Stand.

Das Böse ist die Nicht-Existenz
Dabei fängt alles vielversprechend an. Anderson erzählt am Anfang so straight, wie es einem B-Movie gebührt: Paul (sehr routiniert: John Leguizamo, u.a. Die Hard 2, Land of the Dead, Assault on Precinct 13Remake, The Happening) ist Filmvorführer. Zwischen zwei Rollen macht er etwas Smalltalk mit einer Kollegin und nach einigen abschätzigen Bemerkungen über US-Blockbuster (!) mit Adam Sandler  geht die Welt bereits nach fünf Filmminuten unter. Das Licht geht aus  und dort, wo einmal Menschen saßen und gingen, liegt nur noch ihre Kleidung. Leere Hüllen ihrer Existenz. Telefone funktionieren nicht mehr, die Kommunikation ist mit dem Zusammenbruch der Energieversorgung weitgehend zum Erliegen gekommen, während sich mächtige Schatten an den Wänden aufwerfen und sich Paul bedrohlich nähern.
Der Gedanke, dass das Böse im eigentlichen Sinne die Nicht-Existenz des Menschen ist, habe ihn erschreckt, berichtete Drehbuchautor Anthony Jaswinski. Und es dauert einige Zeit, bis weniger als eine Handvoll Überlebender herausgefunden hat, dass lediglich funktionierende Lichtquellen sie davor bewahren, von den Schatten, die offensichtlich weltweit die Herrschaft übernommen haben, annihiliert zu werden. Das Böse gibt raunende, mal kreischende Töne von sich, es erzeugt verführerische Halluzinationen, erscheint mal als menschlicher Umriss an der Wand, dann wieder als amorphe Gestalt, aber immer steht am Ende die schnelle geräuschlose Auflösung, der Tod als kommentarloses Verschwinden.

Vier Menschen haben den leisen Tod überlebt: der Fernsehreporter Luke (Hayden Christensen, Jumper, 2008), die Physiotherapeutin Rosemary (Thandie Newton, British Academy Film Award als Beste Nebendarstellerin in L.A. Crash, 2005), der Elfjährige James (Jacob Latimore) und Paul (der erstaunlicherweise die erste Attacke der Schatten überlebt hat) sitzen in einer Bar fest und sinnieren, was geschehen ist und wie sich retten können.
Rationale Erklärungen scheinen in diesem post-apokalytischen Film nicht mehr zu greifen, nur Paul weiß zu berichten, dass Ende des 16. Jh. alle Einwohner von Roanoke Island, der ersten englischen Kolonie in Nordamerika, spurlos verschwunden sind (eine reale und bis heute weitgehend ungeklärte historische Episode) – das damals in einen Baumstamm geritzte Wort Croatoan (der Name einer Insel) wird auch in Andersons Film ganz am Ende als Inschrift auf einer Brücke auftauchen, ohne aber Licht in die Schatten zu bringen.

Schöne Bilder, wenig Logik, völlig deutungsoffen
Aber genau dies hätte diesem Genrefilm gut getan. Nämlich ein wenig mehr Logik statt eines Patchworks düsterer Anspielungen und esoterischer Vermutungen. Die Herrschaft der Schatten variiert zwar die bekannten Genretopoi narrativ auf routinierte  Weise (eine Gruppe von Menschen mit antagonistischen Interessen muss sich gemeinsam gegen eine übermächtige Bedrohung wehren), aber man wird nie das Gefühl los, dass man dies in den bekannten Vorbildern wie z.B. in den auch in ihrer räumlichen Sparsamkeit ähnlich gestrickten Night of the Living Dead, aber auch in Assault on Precinct 13 oder in jüngeren Vertretern des Postapokalyse-Genres wie I am Legend deutlich besser gesehen hat. Besonders deshalb, weil dort sowohl die dramatischen Konflikte als auch die Themen erkennbar waren und eine nachvollziehbare Plausibilität besaßen. Anthony Jaswinskis Drehbuch hingegen bringt keinen rechten Schwung in die Figurenentwicklung, was nicht nur in weitgehend spannungsarmen Dialogen und der Vorhersehbarkeit der Plotentwicklung seinen Ausdruck findet, sondern auch auf dem Irrtum basiert, dass das Unheimliche keiner Erklärung bedarf. Selbst Night M. Shyamalans esoterisch angehauchter Missgriff The Happening verweigerte sich nicht völlig den logischen Bedürfnissen, die man in einem Genrefilm durchaus zu Recht befriedigt sehen möchte.

Die Stärken des Films findet man in seiner Visualisierung. Brad Anderson gelingt es, aus wenig viel zu machen: die rationelle und zweifellos preiswerte Idee, konventionelle Monster durch ätherische Schatten zu ersetzen führt dann auch zu einer Reihe expressiver Bilder, die in den gelungensten Momenten ein wenig an Jacques Tourneurs Cat People (1942) erinnern, ohne aber die beängstigende Qualität dieses Klassikers zu erreichen.

Dass unentschlossene Filme wie Die Herrschaft der Schatten sich beliebig anmutenden Projektionen öffnen, ist ihr eigentliches Dilemma. So packte eine ehrenwerte Kritikerkollegin dann auch fast zwangsläufig ihren aus subtilen Kenntnissen der Freudschen Triebtheorie  zusammengesetzten Bildungsfundus aus und erklärte die Schatten als archetypische „Verkörperung der abgelehnten unterdrückten Persönlichkeitsanteile“.
Dass nun in Andersons Film möglicherweise das verdrängte Es seinen Siegeszug antritt, ist zwar eine nette Mutmaßung, aber ich habe im Laufe der Jahre mein Zutrauen in derartige Deutungskrücken fast restlos eingebüßt. Nicht etwa, weil man zu Recht vermuten darf, dass die überwiegende Zahl der Zuschauer nicht über die Bildung verfügt, um eine in diesem Sinne plausibel erscheinende filmische Decodierung vornehmen zu können (rezipieren sie den Film nun eigentlich falsch?), sondern weil ich einfach zu oft in den gelungenen Beiträgen dieses Genres gesehen haben, dass die Allegorien und Analogien des Genrefilms durchaus eine gewisse Schlüssigkeit besitzen können, die sich dadurch einem breiten Diskurs öffnet, ohne dass man das Gefühl hat, dass alles gewaltsam in den Film hineingelesen worden ist. Und so überrascht es nicht, dass die ehrenwerte Kollegin unterschlägt, dass am Ende (Achtung: Spoiler!) lediglich zwei Kinder überleben – und das nur, weil sie in einer Kirche unter einem riesigen Kreuz nächtigen, an dem Christus seine Arme schützend über sie ausbreitet. Vielleicht bedeutet dies ja, dass nur der Glaube uns vor den Zumutungen des Verdrängten bewahrt.

Noten: BigDoc = 4