Mittwoch, 27. November 2019

The Hate U Give

Amandla Stenberg (u.a. The Hunger Games, 2012) ist als Starr Carter einfach umwerfend. Wenn man wissen will, wie es sich anfühlt, einer rassistisch ausgegrenzten Minderheit anzugehören, muss man sich die 21-jährige Schauspielerin in „The Hate U Give“ anschauen.
 

Sozialisiert in einem Ghetto, besucht sie eine teure private High-School und hat einen weißen Freund. Starr ist cool. Ihre Assimilationsleistungen sind allerdings gewaltig, denn sie muss zwei Sprachen beherrschen: den elaborierten Talk der zum Teil stinkreichen Klassenkameraden und den Slang ihres Milieus, einem Viertel, in dem Gewalt zum Alltag gehört.


Zwischen allen Stühlen

Als Starr auf einer Party ihren Jugendfreund Khalil (sehr charismatisch: Algee Smith, der wie der junge Will Smith aussieht) wiedertrifft und nach einer wüsten Schießerei von Partygästen mit ihm flüchtet, wird Khalil auf der Heimfahrt von einem weißen Cop angehalten. Khalil reagiert zornig, der Grund für die Fahrzeugkontrolle scheint trivial zu sein, er muss aber das Fahrzeug verlassen und die Hände auf das Wagendach legen. Die Situation eskaliert, als Khalil im Wageninneren nach einer Haarbürste greift (im Falle des 2018 erschossenen Stephon Clark hatte ein Smartphone ausgereicht, um 20 Schüsse auf ihn abzugeben). Der Cop streckt ihn mit mehreren Schüssen nieder.

Es ist der Anfang einer Tragödie, in der die 16-jährige Starr nicht nur zu einer wichtigen Zeugin wird, sondern auch Angst davor hat, in ihrer Schule geoutet wird. Und da ist auch noch die „Black Lives Matter“-Bewegung. Die wird durch die Anwältin April Ofrah (Issa Rae) repräsentiert, die für die Organisation „Just Us for Justice“ arbeitet und daran interessiert ist, dass Starr mit ihrer Aussage an die Öffentlichkeit geht. Eine teuflische Zwickmühle.

Gleich zu Beginn wird Starrs Trauma in einem Flashback deutlich: Starrs Vater Maverick (Russell Hornsby) erklärt ihr, ihrem Halbbruder Seven und dem kleinen Sekani, wie man sich richtig bei einer Fahrzeugkontrolle verhält. Das ist keine Rechtsberatung, es geht um Leben und Tod. Es ist das „Ten Point Program“ der Black Panther, das verhindern soll, dass Farbige von weißen Cops nach Belieben liquidiert werden können. Man ahnt düster, dass genau dies gesehen wird. Tut es auch.

Regisseur und Produzent George Tillman Jr. erzählt „The Hate U Give“ also von einem Thema, das nicht-amerikanische Zuschauer nur aus den Nachrichten kennen: Der Gewalt von weißen Cops gegen ethnische Minderheiten. Hierzulande dürfte wohl niemand während einer Fahrzeugkontrolle befürchten müssen, im nächsten Moment erschossen zu werden. In der USA ist der Tode junger farbiger Männer für die afroamerikanische Bevölkerung ein unerträglicher Pfahl im Fleische. Allein um dieses Feeling hautnah zu erleben, muss man sich „The Hate U Give“ anschauen.

Starrs Situation ist nämlich geradezu schizophren. Nach dem Tod Khalils wird sie zwischen alle Stühle gezerrt. Sie wird in Tillmans Film geradezu zum Paradigma, denn Starr geht einen Weg, den andere nicht gehen – sie bewegt sich in zwei Milieus. Ihr Anker im weißen Milieu ist, abgesehen von einigen Freundinnen, ihr Freund Chris (K. J. Apa), den Starr in einer Mischung aus Verschlossenheit und jugendlichen Charme immer wieder anzieht, ohne dass sie ihn zu nah an sich heranlässt. Eine Mischung aus erotischer Manipulation, Selbstbewusstsein und heimlicher Verunsicherung.

Aber in der Neighborhood von Garden Heights, ihrem Heimatviertel, spielt ihr Vater die Hauptrolle. Starr lernt  von Maverick die Regeln des Überleben, aber er gibt seinen Kindern auch einen moralischen Kompass mit auf den Weg, der für Selbstbewusstsein und Ehrlichkeit steht. Die Namen seiner Kinder hat er programmatisch gewählt: „Seven“ bedeutet Perfektion, „Sekani“ steht für Glück und „Starr“ für Licht – Bedeutungen, die im Überlebenskampf sowohl pragmatisch als auch utopisch verstanden werden sollen.
Dass Starr überhaupt eine Privatschule besuchen kann, verdankt sie Maverick, der erfolgreich einen Laden in Garden Heights betreibt, und der im Krankenhaus schuftenden Mutter Lisa (Regina Hall). Es ist eine Patchwork-Familie am Rande des Zerreißens, denn Maverick hat eine kriminelle Vergangenheit. Er war vor Jahren die rechte Hand des lokalen Drogenbosses King (Anthony Mackie). Und der fürchtet, dass Starr darüber spricht, dass Khalil für ihn als Dealer gearbeitet.


Ein Film mit starken Figuren

„The Hate U Give“ sind wir also mittendrin im Rassenkampf. Der Film breitet dabei ein Kaleidoskop aus, das man drehen und wenden kann, aber am Ende kommen zwar verschiedene Muster heraus, aber es sind immer die gleichen. 
Da ist das erste Verhör nach Khalils Tod, in dem es den Cops nicht um den konkreten Hergang geht. Sie interessieren sich um die vermuteten kriminellen Aktivitäten des Erschossenen, der posthum für seinen Tod verantwortlich gemacht wird, und damit auch für die Einschüchterung der Zeugin. Dann beendet Starrs Onkel Carlos (gespielt vom Rapper „Common“) die Charade. Carlos gehört als Cop zu dem problematischen Revier, in dem es immer wieder zu Gang-Gewalttätigkeiten kommt.

Und da ist die schwarze Community, für die Khalils Tod der Beweis für das Immergleiche ist, das jungen farbigen Männern zustößt: von weißen Cops erschossen zu werden.

Und dann sind da noch die Medien, die mit einer diversen politischen Agenda die öffentliche Meinungsbildung anheizen.
Und mittendrin ist ein junges Mädchen, das zunehmend überfordert einen Platz in einer explosiven Gemengelage finden muss.
„The Hate U Give“ bezieht in dieser komplexen Situation seine Stärke aus einer Erzählung, in der die Protagonisten keine Abziehbilder sind, sondern individuelle Charaktere, die die Zerrissenheit der amerikanischen Gesellschaft glaubwürdig und authentisch wiederspiegeln. Die Figur der Starr wird so zu einem Katalysator, der die Ereignisse beschleunigt. Am Ende trifft sie eine Entscheidung, die ihr zwar Klarheit über ihre Identität verschafft, aber auch die dramatischen Ereignisse auslöst, die angesichts der historischen Vorbilder fast unausweichlich erscheinen müssen.

Tillmans Film basiert auf dem gleichnamigen Buch von Angie Thomas, die dafür 2018 mit dem Waterstone’s Children’s Book Prize ausgezeichnet wurde und in Deutschland beim Deutschen Jugendliteraturpreis den Preis der Jugendjury erhielt. „The Hate U Give“ ist die filmische Version ihrer autobiographischen Erfahrungen, denn Thomas wuchs in einem schwarzen Viertel auf und besuchte wie auch Amandla Stenburg eine weiße Privatschule.

Der Filmtitel bezieht sich explizit auf den Rapper Tupac Shakur, der im Alter von 25 Jahren mutmaßlich von einer schwarzen Gang getötet wurde. Dabei geht es um das Akronym THUG LIVE, das „The Hate U Give Little Infants Fucks Everybody“ bedeutet. Shakur gehörte zu den populärsten Rappern in den USA, seine Songtexte kreisten um die rassistische Verfolgung der schwarzen Brotherhood. Nicht selten in einer gewaltverherrlichen Sprache, wie einige Kritiker ihm anlasteten. Dass Kunst und Gewalt sich in einer Instrumentalisierungsdebatte wiedefinden, ist nicht neu. Angeblich inspirierte Tupa Shakur jugendliche Polizistenmörder nach deren eigenen Aussagen zu ihren Taten. „Was ihr in uns sät, das wächst und wird in eurem Gesicht explodieren“, beschrieb Shakur die Lebenswelt farbiger Kids in einem Interview.

George Tillmans Film ist allerdings kein Plädoyer für Gewalt. Er ist eher als Jugendfilm, der nach Lösungen sucht, aber seiner Zielgruppe ungeschönt die Probleme aufzeigt. Das zeigen auch die zahlreichen appellativen Szenen und Dialoge in einem Film, der im Sinne einer abwägenden und gelegentlich auch distanzierenden Neutralität nicht objektiv sein und will.
„The Hate U Give“ ergreift Partei und ist trotz seiner überzeugenden Differenzierung und vieler kluger Details ein sehr emotionaler Film, der unter die Haut gehen soll. Seine Kraft bezieht er aus der Verzweiflung eines jungen Mädchens, die für den Zuschauer unmittelbar nacherlebbar ist und für die Zielgruppe dahr ein hohes Identifikationspotential besitzt.
Als es in einer der letzten Szenen des Films zu einer unmittelbaren Konfrontation zwischen Maverick und King kommt, stibitzt der kleine Sekani seinem Vater die Pistole aus dem Hosenbund und richtet sie auf den Drogendealer. Zwei mittlerweile eingetroffene weiße Cops richten dagegen ihre Waffe auf den Sechsjährigen. Und so muss der Film nun die Entscheidung treffen, ob es einen Ausweg aus der Gewaltspirale gibt.


Das gelingt Tillman überzeugend. Und auch wenn der Film am Ende recht optimistisch den Ausgang etwas weichzeichnet und die Guten gut sein lässt und die Bösen der gerechten Strafe zuführt, ist „The Hate U Give“ ein packender Film. Er steht ein wenig in der Tradition des jungen Spike Lee (weniger in der seines Films „BlacKkKlansman“ oder in der des allegorisch-sarkastischen „Get Out“ von Jordan Peele), sondern er ist so intensiv wie Barry Jenkins „If Beale Street Coukd Talk“ (ebenfalls im Filmclub vorgestellt).
Tillman erinnert in seinem Film empathisch an Schicksale wie das von Eric Garner, der während einer unbegründeten Festnahme erwürgt wurde, oder das des afroamerikanischen Schülers Michael Brown, das in kein Schwarz-Weiß-Schema passt. Der 18-Jährige wurde im August 2014 am helllichten Tag von einem weißen Cop erschossen, als er seine Großmutter besuchen wollte. Brown flüchtet aus Angst vor den Cops, blieb dann aber stehen und hob angeblich die Hände. Der durch die Geste „bedrohte“ Cop Darren Wilson feuerte 12-mal auf ihn. Wenig später veröffentlichte die Polizei ein Video, das Michael Brown und einen Freund während eines kurz zuvor begangenen Raubüberfalls auf ein Spirituosengeschäft zeigte. Gegen Darren Wilson wurde von der Grand Jury kein Verfahren eingeleitet. Ob sich Brown ergeben wollte, ist bis heute unklar. Der Vorfall löste schwere Unruhen aus.


Lästige Fakten?

„The Hate U Give“ wurde von den Kritikern gefeiert, an der Kasse floppte der Film. Auf eine rassistisch motivierte Verweigerungshaltung des Publikums zu schließen, entbehrt allerdings jeder empirischen Grundlage. Dass die Vereinigten Staaten unter Donald Trump ein gespaltenes Land sind, ist dagegen offensichtlich. Trump-Follower werden sich den Film nicht ansehen.
Der emotional sehr beeindruckende Film ist auf jeden Fall ein bewegender Beitrag zu einer seit Jahren geführten Debatte über Polizeigewalt. Er bekräftigt die These, dass weiße Cops rassistisch sind und einen Vorwand suchen, um Farbige zu erschießen, egal, ob es sich um Afro- oder Hispanoamerikaner handelt. Aber er lässt auch genug Zweifel zu, um die Smbivalenz des Themas ahnen zu können.


Deshalb muss auch über Fakten gesprochen werden. Im Zweifelsfall auch über konkrete Zahlen. So erschien im August dieses Jahres die PNAS-Studie „Officer characteristics and racial disparities in fatal officer-involved shootings“. Die wissenschaftliche Fachzeitschrift, die von der National Academy of Sciences herausgegeben wird, kam zu dem Schluss: „We find no evidence of anti-Black or anti-Hispanic disparities across shootings, and White officers are not more likely to shoot minority civilians than non-White officers.“ Anders formuliert: auch farbige Cops schießen schnell.
Erstellt wurde die Studie von Wissenschaftlern der Universitäten Maryland und Michigan State. Auf den Punkt gebracht: in 2019 wurden 505 Amerikaner von Cops erschossen. Ein Hinweis darauf, dass weiße Cops häufiger schießen als ihre farbigen Kollegen, gibt es nicht. Die Toten gibt es überwiegend in Stadtgebieten, in denen es sehr zu Gewalttaten kommt, besonders innerhalb der farbigen Bevölkerung. Also Milieus, in denen sich Cops generell bedroht führen. Dass sich farbige Cops in diesem Dilemma befinden, macht  George Tillmann Jr. in einer Szene deutlich: Starrs Onkel Carlos erklärt ihr, dass er vermutlich ähnlich gehandelt hätte, räumt der ein, dass er auf einen weißen Anzugträger nicht so schnell schießen würde.
Dies beseitigt weder die drängenden Fragen noch die Einzelfälle, in denen Schwarze unter zum Teil absurden Umständen erschossen wurden. Dass ein beschädigtes Rücklicht unter bestimmten Umständen tödlich für einen Autofahrer enden kann, erst recht für einen farbigen, kann nicht unter den Tisch gekehrt werden. In einer älteren Studie (2015) wurde darauf hingewiesen, dass 12% der US-Amerikaner Farbige sind, aber 26% der von Cops Erschossenen sind halt Afroamerikaner. In einer anderen Auswertung kam man zu dem Schluss, dass es für einen Afroamerikaner im Vergleich zur restlichen Bevölkerung neun Mal so wahrscheinlich ist, erschossen zu werden. Die an der PNAS-Studie beteiligten Wissenschaftler halten diese Zahlen nicht für valide. Der Streit geht weiter.


Wie verhärtet die Fronten sind, zeigt George Tillman fast beiläufig. Als es zu einem auf dem Parkplatz eines Diners zu einem Wortgefecht zwischen Maverick und King kommt, werfen zwei Cops Starrs Vater auf den Boden und legen ihm Handschellen an. Allein das Gespräch war für sie der Beweis eines Drogengeschäfts. Maverick wird aber gerettet: seine Familie und einige Gäste des Diners filmen den Vorgang mit ihren Smartphones.


Noten: BigDoc = 1,5, Melonie, Klawer = 2




The Hate U Give - USA 2018 - Regie: George Tillman Jr. - Buch: Audrey Wells - nach dem gleichnamigen Roman von Angie Thomas - Laufzeit: 133 Min - FSK: 12 - D: Amandla Stenberg, Regina Hall, Russel Hornsby, Lamar Johnson, Issa Rae, Algee Smith, Sabrina Carpenter, Common, Anthony Mackie.