Mittwoch, 4. Dezember 2019

The Irishman

Männer, die in Erinnerungen schwelgen. Wer bei NETFLIX die dreieinhalb Stunden für Martin Scorseses Alterswerk „The Irishman“ auf sich nimmt, wird gleich nach dem Abspann zu einem Round-Table-Gespräch eingeladen. Scorsese, Robert De Niro, Al Pacino und Jos Pesci sitzen zusammen und sprechen über das Kino und das Leben in der Mafia.

Alte Männer, so lautet die Einsicht des Quartetts, wissen mehr über das Leben und wie es endet. Ohne Glamour. Martin Scorsese, der mit Grandezza einige Meisterwerke über das Leben ohne Gesetz gedreht hat, zeigt, dass am Ende nur Tod oder Leere auf einen Mobster warten.


In Scorseses „Good Fellas“ (1990) betreten Ray Liotta und seine Freundin den Nachtklub „Copacabana“ durch einen Seiteneingang. Liotta spielt den Mobster Henry Hill. Lässig verteilt er Dollarnoten an die Männer des Sicherheitspersonals. Hill genießt sichtbar seine Bedeutung im Milieu. Der leider zu früh verstorbene Michael Ballhaus hat daraus eine unendlich lange Kamerafahrt gemacht, die als Copacabana-Shot berühmt geworden ist.

In „The Irishman“ steht Rodrigo Prieto hinter der Kamera. Auch er beginnt mit einem Tracking Shot. Doch diesmal lässt Scorsese die Kamera durch Gänge gleiten, die weniger glamourös als das Copacabana sind. Wir sehen Ärzte und Pfleger in einem Altenheim und die Fahrt endet bei einem alten weißhaarigen Mann im Rollstuhl: es ist Robert De Niro, der den Mafiakiller Frank „The Irishman“ Sheeran spielt. Der beginnt seine Geschichte zu erzählen, dann auch im Off. Und im Altenheim endet auch der Film, als sich Prietos Kamera von dem alten Mann im Rohlstuhl entfernt.
In „The Irishman“ setzt Scorsese den Framing Device gleich zweimal ein. Eine weitere Einrahmung sieht man während einer Autofahrt, die quer durch die Staaten führt. Frank sitzt am Steuer, neben ihm Rosario „Russell“ Alberto Bufalino, der von 1959-1994 das Oberhaupt der Bufalino-Familie war. 91 Jahre alt wurde er, in diesen Kreisen ein kleines Wunder. Hinten im Auto sitzen die gelangweilten Frauen, sie wollen rauchen, daher Pausen machen, und überhaupt nervt sie die Reise. Erst jetzt beginnen die wirklich wichtigen und von Frank lakonisch kommentierten Rückblenden, die am Ende wieder in diese Autofahrt einmünden. Deren eigentliches Ziel wird eine Zäsur im Leben der beiden Mobster werden.

Ein Mann ohne Eigenschaften

Frank Sheeran hat es wie viele andere Figuren in dem Film tatsächlich gegeben. Sogar zu einer eigenen, allerdings in punkto Glaubwürdigkeit heftig umstrittenen Biografie hat gereicht. Am Ende eines langen Lebens als Mafiakiller und nach einem Gefängnisaufenthalt outete sich der reale Frank Sheeran als Mörder des Gewerkschaftsbosses Jimmy Hoffa (Al Pacino). Bis heute konnte dies nicht bewiesen werden, aber in Scorseses Film ist der Mord ein Ankerpunkt in einem Film über die Ideologie der amerikanischen Cosa Nostra, in der es um Loyalität, Männerfreundschaft und Familiensinn geht, jene behaupteten Werte, die als brüchige Fassade für die tödlichen Geschäfte der Mobster dienen. 

Es ist also ein Mythos, den Martin Scorsese in seinen Filmen zwar nicht verklärt, aber mitsamt seiner Verführungskraft in fesselnde Bilder gepackt hat. Nun, fast am Ende einer langen Kinoreise, dekonstruiert ihn der 77-jährige Regisseur beinahe eiskalt. Denn am Ende sitzen fast alle Mafiosi als Greise im Knast oder sind tot. Sarkastisch blendet Scorsese immer wieder die jeweiligen Todesarten seiner Protagonisten ein. Natürlich mit genauem Datum.

Über dreieinhalb Stunden dauert Frank Sheerans Reise, die in den 1940er Jahren an einer Tankstelle beginnt. Franks Auto ist liegengeblieben, ein älterer Mann, der seinen Namen nicht nennen will, hilft ihm aus der Patsche. Ein Zufall sorgt dafür, dass Frank wenig später den alten Mann in einem Nachtklub trifft.
Es ist Rosario Bufalino.
Frank, der als Truckfahrer tiefgefrorenes Fleisch im ganzen Land ausliefert, wird für die lokalen Mobster etwas von seiner Ware abzweigen. Ein Zuverdienst. Er fliegt auf und von nun an wird er für die Cosa Nostra arbeiten, Bufalino wird sein Pate. Die Jobs werden härter, Frank ist nun jemand, der Häuser anstreicht. Eine Code der Mafia für die Ausführung von Auftragsmorden, bei denen fast immer Blut an die Wände spritzt. Es ist ein schleichender Prozess, die Eskalation der Gewalt schleicht sich langsam ein. Aber Franks Zuverlässigkeit, und das als Ire, macht ihn innerhalb weniger Jahre zu einem zuverlässigen Hitman der Mafia.

Gelegentlich erinnert das ein wenig an Robert Musils Roman, dessen Hauptfigur auf der Suche nach seiner Identität ist und als Mann ohne Eigenschaften flexibel genug ist, um verschiedene Lebensentwürfe ins Auge zu fassen. „Ein Mensch auf verschiedenen Wegen, beinahe peinlich anzusehen: er; wie eine Reihe Puppen übriggeblieben, in denen die Federn längst gebrochen sind“, schreibt Musil über seinen Helden Ulrich.
Auch Frank Sheeran ist am Ende übriggeblieben, mit längst gebrochenen Federn, doch er ist in Scorseses düsterem Sittengemälde mir geringerer intellektueller Potenz ausgestattet als Musils Hauptfigur. Frank stellt sich keine bohrenden Fragen, sein Monologisieren im Off zeigt uns keine Person, die zur Reflexion fähig ist.

Wer dieser Frank Sheeran tatsächlich ist, zeigt eine Schlüsselszene, die im Zweiten Weltkrieg spielt. Sheeran erhält den Auftrag, mit zwei deutschen Kriegsgefangenen in den Wald zu gehen und schnellstens ins Lager zurückzukehren. Frank weiß diesen Befehl richtig zu deuten, erlässt die Deutschen ihre Gräber ausheben und amüsiert sich darüber, dass sie glauben, dass ihr Fleiß sie retten könne. Dann erschießt er die beiden.


Ob Scorseses Hauptfigur ein kalter Soziopath ist? Auf jeden Fall ist er ein Mann, den man weder durch seine Taten noch durch seine Kommentare als Erzähler richtig zu fassen bekommt. Wie ein Messer durch die Butter gleitet, so gleitet auch Frank Sheeran durch eine Handlung, die besonders im zu lang geratenen und ausufernden Mittelteil haarklein Franks begrenzte, aber nützlichen Talente bebildert. Dazu gehört auch 1972 der Auftragsmord an „Crazy Joe“ Gallo, den Sheeran später in seiner Biographie für sich reklamierte.

Das alles ist Scorsese zu lang geraten. Sein Film mäandert beinahe ziellos durch unzählige Episoden, die ein historisch interessierter Nerd sicher spannend findet. Tatsächlich aber wirkt „The Irishman“ über weite Strecken wie ein Potpourri, in das noch einmal alles hineingepackt werden soll, was die langen Jahrzehnte eines mörderischen Lebens kennzeichnet. Und was auch Martin Scorsese immer wieder beschäftigte, seit er
„Mean Streets" gedreht hat.
Das Leben zwischen den Morden? Man weiß es nicht, vielleicht saßen die Mafiosi in Bars und in Striplokalen und regelten ihre Geschäfte. Und so verblasst etwas fast vollständig in Scorseses Film: die Familie, die ja von den Gangstern immer wieder als werteschöpfender Mittelpunkt ihres Lebens beschrieben wird. Frauen spielen in „The Irishman“ keine Rolle, sie sind eine Randnotiz. Seine eigene wird in Franks Erinnerungen nur dann wichtig, als er sich eine italienische Geliebte zulegt.
 Nur seine Töchter sind ihm wichtig, besonders seine Tochter Peggy (Anna Paquin als ältere Peggy). Die erlebt bereits als Kind, was ihr Vater tatsächlich ist, als Frank einen Ladenbesitzer, der seine Tochter beleidigte, quer durch sein Geschäft auf die Straße prügelt. Und Peggy wird schnell verstehen, welchen Beruf ihr Vater ausübt, wenn der seine Pistole einpackt und arbeiten geht. Bufalino wird Peggy daher mit eisiger Distanz abblitzen lassen. Und wenn es etwas in Franks Gefühlswelt gibt, das noch menschlich ist, dann ist es der Verlust dieser Tochter, die sich später endgültig von ihrem Vater abwendet. Viel gesprochen wird dabei nicht, Worte werden durch tödliche Blicke der jungen Frau ersetzt.

Verrat und keine Erlösung

The Irishman“ ist also eine Männergeschichte. Als Dritter im Bunde stößt dann Al Pacino hinzu, der den Gewerkschaftsboss Jimmy Hoffa so spielt, wie Pacino eben seine Figuren spielt: immer mit einer gehörigen Portion Overacting. 
Hoffa war als Boss der International Brotherhood of Teamsters jahrzehntelang der mächtigste Gewerkschaftsführer in den USA. Seine Beziehung zur Cosa Nostra war ein offenes Geheimnis. Mit der Aufhebung der Prohibition verschwand eines der wichtigsten Geschäftsfelder des organisierten Verbrechens, man wandte sich der Transportindustrie zu und erpresste von Unternehmen Schutzgelder. Jimmy Hoffa gelang es, die Mafia auf die Seite seiner Gewerkschaft zu ziehen, die oft genug ihre Kämpfe mit brutalen Schlägertrupps führte. Doch alles hatte seinen Preis und der war hoch, denn die Gangster konzentrierten sich auf die fetten Pensionsfonds der Gewerkschaft. Über fünf Milliarden Dollar steckten allein im Pensionsfond für den Mittleren Westen – und Hoffa sorgte dafür, dass große Teile des Geldes in die Taschen des Mobs wanderten. Unter anderem für den Bau der Spielkasinos in Las Vegas. Geld, das nie zurückgezahlt wurde.

Scorsese skizziert diese Hintergründe mit leichter Hand, weniger historisierend als vielmehr atmosphärisch, denn allein die Hoffa-Affäre hätte den Stoff für einen mehrstündigen Film abgegeben. Aber für den Moralisten und Beinahe-Priester Martin Scorsese ist die sich langsam entwickelnde Freundschaft zwischen Jimmy Hoffa und dem irischen Killer Frank Sheeran eine weitere wichtige Version seiner Reflexionen über Schuld und Sühne, Verrat und Erlösung. Nur das es diesmal keine Erlösung gibt. 

Als Hoffa für einige Jahre im Gefängnis verschwindet und nach seiner Entlassung – vermutlich dank einer üppigen Wahrkampfspende für Richard Nixon – erneut die Leitung ‚seiner‘ Gewerkschaft übernehmen will, bricht er damit eine Absprache mit der Cosa Nostra, die lieber mit Hoffas leichter zu kontrollierenden Nachfolger zusammenarbeiten will. 1975 verschwand Hoffa dann spurlos. Die Hintergründe wurden bis heute nicht restlos aufgeklärt. Scorsese aber entscheidet sich dagegen für die Version des realen Frank Sheeran, der sich in seiner Biografie zum Mord an Hoffa bekannte.


In „The Irishman“ ist dies Sheerans Sündenfall, aber ist es wirklich einer? Zwar versucht Sheeran immer wieder, Bufalino von ultimativen Entscheidungen abzubringen, aber gleichzeitig scheitert er mit seinen Versuchen, seinen Freund Hoffa davon zu überzeugen, die Füße stillzuhalten. „Es ist wie es ist“, stellt Bufalino schließlich fest und Sheeran führt die Liquidierung Hoffas so durch wie immer: professionell, schnell und scheinbar ohne Gemütsbewegung.


Dekonstruktion eines Mythos

Für alls das nimmt sich Scorsese sehr viel Zeit. Gelegentlich machen die langen Szenen in Scorseses Film durchaus Sinn. Etwa wenn sich Sheeran fast qualvoll darum bemüht, Hoffas Frau nach dessen Verschwinden mit allerlei Erklärungen abzuspeisen. Robert De Niro spielt das vorzüglich, ein Mörder, der sich fast stammelnd um etwas bemüht, das er nicht besitzt: Empathie.

Am Ende sind alle tot oder spielen als Tattergreise Boccia im Knast. Auch Sheeran und Bufalino landen hinter Gittern und langsam lichten sich die Reihen. Frank Sheeran wird nie wieder mit seiner Tochter reden und später dann, im Altenheim, kann ihn auch ein Priester nicht zur Reue bewegen. Auch zwei FBI-Agenten, die etwas über Hoffas Tod erfahren wollen, werden mit einem Lächeln abgespeist, das an den jungen Robert De Niro als Travis Bickle erinnert. 



Der Mehrwert des Films lässt sich nicht einfach erkennen. Mit Sicherheit ist er nicht in der digitalen Verjüngungskur zu finden, mit der es Industrial Light & Magic versuchte, die Darsteller an ihre unterschiedlichen Altersphasen anzupassen. Dies ist zwar einigermaßen gelungen, aber keineswegs spektakulär. 


Was erfährt man also in Scorseses womöglich letzten Mafia-Film? Gut, da ist die Dekonstruktion der Mafia-Ideologie, deren vermeintliche Werte nur eine Fassade sind, die einen Schleier über die turbokapitalistischen Geschäfte des Mobs legt. Und ganz nebenbei kann sich der Regisseur den Hinweis nicht verkneifen, dass es die Mafia war, die JFK erschießen ließ.
Aber Scorseses Film, der visuell keine Bäume ausreißt und Michael Ballhaus daher vermissen lässt, zeigt recht schön, dass selbst die Mächtigsten in einem Hamsterrad laufen und am Ende schlicht und einfach von den Menschen vergessen worden sind. Als Sheeran im Altersheim mit einem Pfleger spricht, weiß dieser nicht einmal, wer dieser Jimmy Hoffa gewesen ist. Ein Mann, von dem es hieß, dass er so berühmt wie Elvis war.


Auch dass der zweifellos an existenziellen Fragen zutiefst interessierte Katholik Scorsese das Portrait eines Mannes entwickelt, dessen monolithischer Charakterkern der eines Soldaten ist, der Befehle ausführt und zuverlässig „in den Wald geht“, ist nicht uninteressant: empathiefrei, aber nichts emotionslos, ohne Reue, aber insgeheim verzweifelnd. So zeigt der Dostojewski des amerikanischen Kinos am Ende, dass es ein Leben in Schuld gibt und am Ende die Leere die Sühne ist, die dann eintritt, wenn man nicht rechtzeitig umgebracht wurde. Kein Meisterwerk, aber ein nachdenklicher Kommentar zu einem Leben ohne Sinn.


Noten: BigDoc, Klawer = 2,5


The Irishman – USA 2019 – Netflix – Regie: Martin Scorsese – nach der Biografie I Heard You Paint Houses von Charles Brandt – Buch: Steven Zaillian - Kamera: Rodrigo Prieto – Schnitt: Thelma Schoonmaker- Laufzeit: 209 Minuten – FSK: ab 16 Jahren – D.: Robert De Niro, Al Pacino, Joe Pesci, Harvey Keitel u.a.