Donnerstag, 26. Dezember 2019

Watchmen - HBO und Damon Lindelof riskieren viel

Damon Lindelofs Serie wurde bereits zur „Jahrhundertserie“ erklärt, bevor die letzten Episoden gelaufen waren. Die Kritiker überschlugen sich vor Begeisterung, nicht wenige Fans teilten ihr Urteil. In den USA dümpelte die Serie trotzdem vor sich hin: ca. 0,7 Mio. Zuschauer wollten bei HBO zuschauen, zuletzt zogen die Quoten etwas an. So bescheiden treten Kultserien auf, die erst in einigen Dekaden verstanden werden. Aber auch Flops.
Ist „Watchmen“ ein Flop oder tatsächlich ein Geniestreich? Eher Letzteres, aber nur unter bestimmten Voraussetzungen. Man beginnt am besten mit der Aussage: „Watchmen“ ist kein Flop. Diese Aussage halte ich für richtig, alles andere ist ziemlich kompliziert. Man muss zunächst bereit sein, alle Erwartungen an eine Serie über Bord zu werfen. Man braucht Geduld und muss akzeptieren, dass Kugelschreiber und Notizbuch beim Zuschauen in Griffweite sind. Nun, diese Utensilien beschränken die Reichweite bei den Quoten ganz entschieden, sind im praktischen Einsatz aber enorm hilfreich.



Keine Handlung, dann doch eine – aber erst viel später

Man kann nur vermuten, was die Fans des legendären Comics von Alan Moore und Dave Gibbons von einer Serie erwartet haben, in der die Geschichte der Watchmen weitererzählt wird. Auch Zack Snyder-Fans hatten wohl ihre eigenen Vorstellungen, obwohl der Showrunner der neuen HBO-Serie Snyders Kinofassung ausdrücklich nicht zum Kanon zählte. Damon Lindelof („Lost“, „The Leftovers“) entwickelte seine eigenen Vorstellungen. Und wer Lindelofs Serien kennt, durfte sich auf eine komplexe Erzählstruktur und auf mehr als eine Handvoll Rätsel einstellen. Es zeigte sich, dass dies eine Untertreibung war.

Der Verfasser dieser Zeilen ist einiges gewöhnt. Er hat „Westworld“ verdaut, aber erst im zweiten Durchgang. Den absolvierte er mit einem Notizbuch, in das all die Zeitlinien und Handlungssequenzen eingetragen wurden, die von Bedeutung zu sein schienen. Also alle. 
Ja, das ist auch nötig, wenn man Damon Lindelofs Serie anschaut. Nur ist sie deutlich komplexer als „Westworld“, weil Lindelof nicht nur das Narrativ komplett verschlüsselt hat, sondern auch in punkto Stilwillen von Anfang an signalisierte, dass beinahe jede Kameraeinstellung ein virtuelles Kunstwerk sein will. Es gibt also viel zu verdauen.

Gut, jetzt muss man wissen, was Virtualität bedeutet. Schauen wir in die Wikipedia: “Virtualität ist die Eigenschaft einer Sache, nicht in der Form zu existieren, in der sie zu existieren scheint, aber in ihrem Wesen oder ihrer Wirkung einer in dieser Form existierenden Sache zu gleichen. Virtualität meint also eine gedachte Entität, die in ihrer Funktionalität oder Wirkung vorhanden ist.“
Das muss man dreimal lesen. Aber man auf diese Weise sehr gut das Kino und die Serienwelten beschreiben, wenn man die Sache mit der Wirkung verstanden hat. Also: Film scheint manchmal so auszusehen wie die Realität, ist aber nicht die Realität. Das bedeutet aber nicht, dass ein Film oder eine Serie in ihrer Essenz nichts mit der Realität zu tun haben. Im Gegenteil.
 Auch eine Comic-Verfllmung kann viel mit der Realität zu tun haben. Das Komplizierte daran: „Watchmen“ sieht nicht mal ansatzweise aus wie die Realität, dann aber doch.

Und so hat „Watchmen“ zwar eine Handlung, aber die gleicht eben nicht dem, was wir sonst mit dem Wort Handlung bezeichnen. Damon Lindelof erzählt nämlich nicht von Ereignissen, die sich linear ereignen und uns ebenfalls wiederfahren könnten. Im Gegenteil: nur wenig in „Watchmen“ könnte uns passieren, aber da sind halt Dinge dabei, die einigen von uns halt doch passiert sind. Und das Non-Lineare ist dabei paradoxerweise die einzige Möglichkeit, diese Geschichte gradlinig zu erzählen. Und dabei legt das Virtuelle in der HBO-Serie das Geschehene wie auch das Mögliche und Vorstellbare sukzessive frei wie auch das Unmögliche und Unvorstellbare. Etwa wenn Tintenfische vom Himmel regnen. Oder wenn ein Massaker gezeigt wird, das fiktional aussieht, sich aber tatsächlich ereignet hat. Der Kniff: tatsächlich ist alles, was man wissen muss, bereits da, bevor die Handlung beginnt. Was es genau ist, erfährt man allerdings erst zum Schluss.

Absurd? Ja. Aber so funktioniert „Watchmen“ halt.


Der Mix aus Comic und Gesellschaftskritik wird häppchenweise verabreicht.

Im Falle von „Watchmen“ bedeutet dies, dass die Erzählgegenwart (die Serie spielt in einem Paralleluniversum des Jahres 2019) bereits das als Zukunft besitzt, was zuvor bereits in der Vergangenheit existierte. Nämlich die eigene Vergangenheit, die sich wieder in die Gegenwart einschleicht und sich wahrscheinlich auch in der Zukunft erneut ereignen wird. Die Rede ist vom Rassismus, mit dem sich Lindelof in „Watchmen“ intensiv beschäftigt.
Der durchzieht auch die USA im Paralleluniversum der Watchmen und bestimmt das Leben der nicht selten obskuren Heldenfiguren, die gegen das Böse kämpfen. Ein circulus vitiosus und ein ziemlich fatalistisches Geschichtsbild.

Aber diesen Fatalismus signalisierte bereits die Comic-Vorlage und auch Zack Synders Verfilmung ließ keinen Zweifel daran zu, dass sowohl die „Minutemen“ als auch die „Watchmen“ keine echten Superhelden sind, sondern außergewöhnliche Menschen, die von den historischen Ereignissen und den Problemen ihrer Gesellschaft überrollt und zerstört werden können, wenn sich das Überl ständig wiederholt. Stichwort: Rorschach.
In diesem Kosmos ist nur Dr. Manhattan mit seinen gottgleichen Superkräften ein echter Superheld. Leider auch ein ziemlich depressiver, denn wer Raum und Zeit nicht nur versteht, sondern scheinbar auch beherrscht, führt ein wahrhaft trostloses Leben. Er weiß nicht nur, was gesehen ist, sondern auch was geschehen wird.

„Watchmen“ ist also kein realistisches Spiegelbild unserer Realität, die man vergleichend deuten kann, die Serie ist auch nur zum Teil eine Comic-Verfilmung. Sie ist vielmehr eine Fiktion, die irgendwie allegorisch und metaphorisch ist, dabei an die Graphic Novel von Alan Moore und Dave Gibbons anknüpft, also auch auf die Geschichte der „Minutemen“, gleichzeitig aber von historischen Ereignissen erzählt, die sich in unserem Universum ereignet haben. Zu ihnen gehört das Tulsa-Massaker, bei dem an zwei Tagen des Jahres 1921 in Tulsa, Oklahoma, über 200 Farbige im Stadtviertel Greenwood von weißen Rassisten umgebracht wurden – erschossen, erschlagen, durch die Straßen geschleift und bei lebendigem Leibe verbrannt. Es war der grausamste Akt des amerikanischen Rassismus – und er wurde in den Geschichtsbüchern bis vor kurzem nie erwähnt! 

Mit diesem Fanal beginnt die Serie.

Zurück zum Virtuellen: Etwas, das völlig verdrängt und aus den Geschichtsbüchern verbannt wurde, funktioniert wie eine Fiktion - es wirkt ausgedacht. In Lindelofs Serie tritt es dagegen aus dem Schatten hervor und zeigt sich als das, was mit gewaltiger Macht alles bestimmte, was danach geschah und sich schlimmstenfalls endlos wiederholen wird.

“In order for this to be Watchmen, we have to start with an unsolvable problem, a problem that the most well-intentioned superheroes and vigilantes actually cannot solve. And now we’re in 2019 instead of the ’80s, where it feels like you can’t tell a story about America in any kind of real, historical context that doesn’t talk about race”, erklärte Damon Lindelof die Notwendigkeit, in Episode 1 „It’s Summer and We’re Running Out of Ice“ das Tulsa-Massaker zu zeigen.

Ein kleiner Junge wird in der Serie dieses Massaker überleben. Später wird er Cop und erkennt  in den 1930er Jahren, dass auch seine Polizeieinheit rassistisch durchseucht ist. Also verwandelt er sich, mehr Zufall als Plan, in den Superhelden „Hooded Justice“, der nun den Schurken, Gangstern und Rassisten an den Kragen geht.
Irgendwann wird er von „Captain Metropolis“ und seiner Vigilantentruppe angeworben, aber das eher aus Imagegründen. Wirklich helfen tun sie ihm nicht. Wie auch immer: um für seine Taten gefeiert zu werden, muss sich „Hooded Justice“, der erste der „Minutemen“, weiß schminken, um als Superheld durchzugehen. Ein Weißer, der für Gerechtigkeit sorgt, ist ein Held. Ein Schwarzer, der für Gerechtigkeit sorgt, löst dagegen blanke Angst aus.

Lindelof erzählt dies keineswegs linear und es macht auch keinen Sinn, die Handlung von „Watchmen“ linear nachzuerzählen. Die Serie mäandert ähnlich wie Dr. Manhattan durch Raum und Zeit. Und würde man das organisierte Chaos des Narrativs aus den verschachtelten Sequenzen rekonstruieren und chronologisch nacherzählen, so würde man
als Kritiker eine rationale Reflexion anbieten, die es womöglich gar nicht gibt, die aber zumindest etwas tröstend ist. 
Mehr nicht.

Nein, man muss den Irrwitz des Rassismus emotional spüren - und zwar als das Chaos, in das sich die Serie stürzt. Lindelof erzählt daher die Geschichte seiner weiblichen Hauptrolle
Angela Abar (Regina King) als Re-Traumatisierung, als Horror-Trip, als Reise in die Vergangenheit, hin zum Rassismus, dem Ku-Klux-Klan und dann in die Gegenwart zu den neuen Anhängern der White Supremacy - und so etwas ist halt sprunghaft.
Von all dem erfährt der Zuschauer häppchenweise und keineswegs als neutraler Beobachter. Der Zuschauer ist vielmehr die Projektionsfläche einer ganzen Reihe von skurrilen Rätseln, die er erst einmal als solche akzeptieren muss – oder er schaltet ab. Er ist zwar Begleiter der Figuren, aber dies zunächst orientierungslos. Wie auch Neo in „Matrix“ werden ihm beim Zuschauen zwei Pillen angeboten. Nimmt man die eine, muss man sofort aufhören, sich das Ganze anzusehen und alles bleibt beim Alten, nur die andere Pille führt in die Tiefen des Kaninchenbaus. Das sind dann die letzten beiden Episoden und die Reise dorthin ist sehr emotional.

Das ist anfänglich nicht leicht zu verdauen, denn einige Episoden scheinen auf merkwürdige Weise kaum an einer Fortsetzung der Geschichte interessiert zu sein, etwa wenn Agent Laurie Blake (Jean Smart) von der Anti-Vigilanten Task Force des FBI in Episode 3 „She Was Killed by Space Junk“ einer zunächst unbekannten Person am Telefon pausenlos deprimierende Witze erzählt. Am Ende kracht neben ihr ein Auto auf den Boden, Blake schaut in Himmel zum Mars und lacht. Sie hat mit Dr. Manhattan telefoniert, nun wurde sie beinahe von Weltraumschrott erschlagen. Früher hieß Blake übrigens Silk Spectre, was die Sache nur teilweise klarer macht. Später erfährt man, dass Millionen Menschen aus speziellen Telefonzellen mit Dr. Manhattan telefonieren. Antworten tut er nie.

Völlig abgenervt hat einige Kritiker auch die scheinbar sinnfreie Handlung, in der Ozymandias aka Adrian Veidt (Jeremy Irons) in einem Schloss hockt und seine geklonten Bediensteten schikaniert, quält und tötet. Einige schießt er mit einem Katapult in den Himmel, wo sie in einer anderen Dimension verschwinden. Ozymandias, der in den Comics und im Film ein riesiges Tentakelwesen erschaffen hat, das New York und etliche Millionen Amerikaner vernichtete, wollte mit diesem Genozid die Welt retten: Ost und West sollten sich im Kampf gegen einen neuen Feind vereinigen und den Kalten Krieg über Bord werfen. Das gelang
Ozymandias sogar. Nun aber zeigt ihn Lindelof in einer Nebenhandlung, die mit burlesk nur unzureichend beschrieben werden kann und aussieht, als hätten die Monty Pythons das geschrieben und gespielt, während sie komplett bekifft waren. Macht aber ebenfalls Sinn, aber erst viel später.

Einige Episoden, zumindest teilweise, sind dagegen stringent. Folgt man dem Police Officer und der Superheldin Angela Abar, die als maskierte „Sister Night“ ihren Dienst verrichtet und in der Erzählgegenwart alle Nostalgia-Tabletten ihres Großvaters Will Reeves (Louis Gossett jrn.) schluckt, werden einige Erzählfäden plötzlich klar. Abar hat während dieser an sich tödlichen Prozedur die gesamten Erinnerungen ihres Großvaters absorbiert und erlebt sie danach real und traumatisch: Es ist eine grausige Reise in die Vergangenheit, die wiederum ins Jahr 2019 führt, dem Jahr, in dem Sister Nights Großvater, im Rollstuhl sitzend, den Vorzeige-Cop Judd Crawford (Don Johnson) zwingt, sich nächtens an einem Baum zu erhängen. Er hält ihn für ein heimlichs Ku-Klux-Klan-Mitglied. Dazu nutzt er Techniken des Mesmerismus, jener Hypnosetechnik, die auch die Rassisten der 1930er Jahre in Kinos einsetzten, damit die Neger sich selbst umbringen. Ach ja, Will Reeves ist „Hooded Justice“ und der ist der kleine Junge, der Tulsa überlebte. Aha. Spätestens jetzt sollte man tatsächlich zum Notizbuch greifen...



Alles andere ist Emotion und Stil und der Rest ist kein Zufall

Gut, man könnte noch ein wenig mehr Inhaltsangabe simulieren. Etwa, dass im Land der Watchmen nun Robert Redford US-Präsident ist (in Zack Synders Verfilmung blieb es für lange Zeit Richard Nixon, da es Watergate nie gab). Und ganz wissenswert ist auch die spezielle Verfasstheit der Polizei, die während des (fiktiven) White Night-Massakers ihre Cops in Scharen verlor, weil sie von Rassisten umgebracht wurden, was wiederum dazu führte, dass einige Gesetzeshüter seitdem mit Masken herumlaufen, um nicht identifiziert werden zu können. 

Und man könnte auch erzählen, dass eben diese Rassisten ihrerseits mit der Maske herumlaufen, die einst Rorschach trug, und sich nun als „Siebte Kavallerie“ bezeichnen. Und dass diese Vigilanten hervorragend organisiert sind und tatsächlich planen, Dr. Manhattan umzubringen, um einen der ihren in jenen Supergott zu verwandeln. Der soll endgültig und widerruflich die „White Supremacy“ sicherstellen.
Aber dies würde die verschlungenen Pfade der Serie nur unzureichend abbilden, denn „Watchmen“ ist trotz der politischen Agenda in erster Linie Emotion und Stil. Beides wird quasi intravenös verabreicht und entfaltet seine Wirkung unmittelbar. Ein Erzählen mit moralischem Zeigefinger bietet die Serie nicht.
Glänzend fotografiert wurde sie auf jeden Fall, es sind Bilder voller Raffinesse, ausgeklügelte Einstellungen und mit Settings, die bis ins letzte Detail die unterschiedlichen Epochen zum Leben erwecken. Und dieser Stil ist zum einen l’art pour l’art. Andererseits führt diese kunstvoll inszenierte Bilderwelt step by step Intuition und Emotion zusammen. Und der Score der Serie und ihr Soundtrack sind herrlich ironisch und sentimental, Trent Reznor und Atticus Roos sei Dank.

Schließlich wird das Puzzle in der vorletzten Folge „A God Walks into Abar“ (ja, das ist ein Sprachwitz) zusammengesetzt. Zuvor hatte uns die Episode 8 „An Almost Religious Awe“ verständnislos zurückgelassen, denn Angela Abar zertrümmerte am Ende ihrem Ehemann Cal (Yahya Abdul-Meteen II) mit einem Hammer den Schädel. 

Nun aber springt die Serie ins Jahre 2009, wir sind Vietnam, es wird in allen Kneipen wüst gefeiert. Eine Art Karneval, in dem sich die Leute auch als Dr. Manhattan verkleiden. Dies gestattet es dem echten Dr. Manhattan (endlich taucht er in der Serie auf), sich unters Volk zu mischen, allerdings muss er dazu eine Dr. Manhattan-Maske tragen. Hübscher Witz. 

Nun hat Dr. Manhattan aber ein Ziel: er will Angela Abar, in die er sich verliebt hat, zum Essen einladen. Angela, in Vietnam geboren und Polizistin bei der vietnamesischen Polizei, sitzt in einer dieser Kneipen und hält den Maskierten, der sich an ihren Tisch gesetzt hat, natürlich für einen Freak. 

Wie gewinnt nun ein gottähnliches Wesen eine Frau für sich, was er statt vieler Worte auch gut einem Fingerschnips erledigen könnte? Er erzählt von ihrer gemeinsamen Zukunft, die zu einer zehnjährigen Beziehung führen wird, aber mit einer Katastrophe endet. Die Episode springt natürlich zu einigen Ereignissen dieser Zukunft, die aus Sicht eines sich in der Erzählgegenwart befindlichen Erzählers (meinetwegen auch Zuschauers) natürlich die Vergangenheit ist, aus Sicht Angelar Abars aber ihre Zukunft und aus Sicht Manhattans gar nichts, denn für ihn existiert ja bekanntlich alles gleichzeitig. Und so ist auch das Gespräch in der vietnamesischen Bar nur eine der vielen Existenzformen, die er gleichzeitig in verschiedenen Zeitebenen einnehmen kann.

In dieser Episode dreht Damon Lindelof erneut kräftig am Rad der Zeit und wieder einmal muss man erkennen, dass Zeit nicht nur für Albert Einstein eine Frage des Standortes und der subjektiven Erfahrung ist. Intuition und Emotion, die bereits erwähnten Qualitäten der Erzählung, präsentiert die Episode 9 aber mit Schlagfertigkeit. Das Balzen Dr. Manhattans ist unglaublich witzig und erklärt auch die gesamte Handlung auf einen Schlag. Aber wenn der blauhäutige Gott versucht, die vorherigen non-linearen acht Episoden irgendwie auf die Reihe zu bekommen, erzählt er non-linear.
Und unglaublich trostlos. Und sehr menschlich. Denn Manhattan berichtet davon, wie er auf dem Jupiter-Mond Europa eine Schöpfungsgeschichte mitsamt Adam und Eva zusammengebastelt hat. Neuer und besser als sein biblisches Vorbild. Genesiswahn? 
Sicher doch, aber gleichzeitig wird auch enthüllt, warum der ins Exil verbannte Ozymandias auf Europa all die Abscheulichkeiten begangen hat, die einige Kritiker ratlos und angeekelt zurückließen. Dr. Manhattan hat den Mann, der als Massenmörder in die Geschichte einging und sich immer noch für den Retter der Menschheit hält, nämlich auf den Jupiter-Mond teleportiert, weil ihm selbst die eigene Schöpfung auf die Nerven ging. Adam und Eva sollten nun Ozymandias verehren. Doch Ozymandias nutzt danach die ‚neuen Menschen‘ für schreckliche Experimente. Sie haben nur einen Zweck: seine Rückkehr auf die Erde zu ermöglichen.
Wieder einer dieser ethischen Fehler Dr. Manhattans, zumindest gemessen an menschlichen Maßstäben.
Überkandidelt? Natürlich. Und wer am Ende von
Lost genervt war, sollte von Damon Lindelofs Serie besser Abstand nehmen.


Hommage an Alan Moore: Mitten im Minkowski-Raum

Zurück in die Kneipe. Gegenwart und Vergangenheit verschwimmen immer mehr, denn Dr. Manhattan, der Angela in der freakigen Kneipe von der Zukunft erzählt, muss in eben dieser noch einige kleinere Korrekturen vornehmen und dazu in die Vergangenheit jumpen, um anschließend Angela in deren Gegenwart erzählen zu können, was sie zukünftig erleben wird.
Dass sich D. Manhattan dabei irgendwann verzettelt und ein klassisches Großvater-Paradoxon erzeugt, ist beinahe unvermeidbar, auf jeden Fall schräg und witzig. Aber jenseits der Zusammenführung aller ungeklärter Erzählfäden durch Damon Lindelof und sein Autorenteam, gelingt es „A God Walks into Abar“ – und das haut einen dann doch um – ziemlich spektakulär die umfassende Trostlosigkeit eines Wesens spüren zu lassen, das Raum und Zeit in Permanenz gleichzeitig erlebt. So erfährt der Zuschauer, dass Dr. Manhattan sich eine Handvoll Glück nur dadurch verschaffen konnte, dass er mit Ozymandias Hilfe eine zehnjährige Amnesie in seinem Kopf erzeugte, um als Calvin „Cal“ Abar zehn Jahre lang mit Angela zusammenleben zu können. Urlaub für Dr. Manhattan. Bis ihm seine Frau den Schädel einschlägt.
Es passt ganz gut zu den „Watchmen“, dass dies nicht den Tod Dr. Manhattans nach sich zieht, sondern seine Wiedergeburt. Aber der Zuschauer lernt dadurch wenigstens, dass Dr. Manhattan kein Gott ist, da er in die Raumzeit leider nicht entscheidend eingreifen kann. Und so ist auch Dr. Manhattans Schicksal besiegelt.

Moment mal, fragt man sich grübelnd. Dr. Manhattan greift doch pausenlos in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein? Tut er, aber nicht immer erfolgreich.

Lieber Leser, eine Hürde müssen wir also noch nehmen. Hinter Lindelofs Geniestreich verbirgt sich etwas anderes Thema, eine Hommage an den Comic-Schöpfer der Watchmen, Alan Moore. Das hat mit Physik zu tun, funktioniert aber wie ein LSD-Trip. Denn Lindelof erzählt nicht ohne Grund von Ohnmacht eines scheinbar allmächtigen Superhelden, dessen Limitierungen immer deutlicher zu Tage treten. Dr. Manhattans scheinbare Emotionslosigkeit ist der Preis für sein Wissen. Aber seine Macht ist begrenzt, da er offenbar trotz zahlreicher Superkräfte nicht entscheidend in den Kosmos eingreifen kann, in dem er sich bewegt. Er dreht nur an einigen Schrauben.
Denn dieser
deterministische Kosmos funktioniert nach den Gesetzen, die der deutsche Physiker Hermann Minkowski (1864-1909) in seiner Theorie des Blockuniversums vorstellte. Nämlich eine Raumzeit als vierdimensionaler Block, in dem alle Ereignisse wie eingeschweißt unwiderruflich existieren. Diese Hypothese (auch Eternalismus genannt, engl. Eternalism) wurde nach anfänglicher Ablehnung auch von Albert Einstein akzeptiert. 
Gegner des Minkowski-Raums behaupten dagegen, dass die Zukunft nicht existiert (im Sinne einer Ergebnisoffenheit), andere behaupten dies von der Vergangenheit, während Eternalisten davon überzeugt sind, dass es unmöglich ist, unabhängig von der subjektiven Perspektive irgendeinen Punkt in der Raumzeit als Gegenwart festzulegen. Damit werden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bedeutungslos und auch das von uns erlebte Vergehen der Zeit besitzt zwar eine psychologische Evidenz, ist ansonsten aber eine Illusion.
Starker Tobak? Klar, experimentell sind diese Theorien nie belegt worden und es mag uns trösten, dass wenigstens der thermodynamische Zeitpfeil ansprechend verifiziert werden konnte.
Alan Moore hat sich während der Entstehung des Watchmen-Comics mit ähnlichen Problemen auseinandergesetzt – und er tut es nach wie vor in seinen aktuellen Werken. Moore hat sich dazu sogar eine nette Analogie ausgedacht. So sind auf einer Filmrolle alle Bilder unwiderruflich festgelegt. Spielt man die Rolle mit einem Projektor ab, ereignet sich die Handlung entlang einer Zeitlinie, und wenn man Film nicht kennt, weiß man nicht, wie die Geschichte ausgeht. Dabei steht alles fest, von der ersten Einstellung bis zum Abspann.

Ähnliche Fragen haben die Philosophie lange vor der modernen Astrophysik beschäftigt. Etwa bei Augustinus, der Gott die Fähigkeit zusprach, die Totalität von Raum und Zeit vollständig zu überblicken.
 Der amerikanische Philosoph William James, ein erklärter Gegner des Determinismus und ein Verfechter des freien Willens, lehnte das Konzept der Eternalisten dagegen ab. Das wiederum war für einige Science-Fiction-Autoren ein gefundenes Fressen, etwa in Norman Spinrads „The Weed of Time“ (1970). Dort muss man nur ein Alien-Kraut futtern und prompt verschwindet die Illusion der Zeit. Man sieht sein ganzes Leben, ändern kann man es nicht.
Schmecken will einem dieser strenge Determinismus nicht, aber er ist alles andere als bewiesen. Aber man wird man unschwer vermuten können, dass die meisten von uns hoffen, dass unsere Zukunft ergebnisoffen ist. Für Dr. Manhattan ist sie es nicht. 


Gut, nun könnte man meinen, dass Damon Lindelof die Serie thematisch völlig überfrachtet hat. Seine Geschichte funktioniert so, als hätte ein Hochbegabter mit ADHS alles in die Erzählung gepackt, was ihm gerade in den Sinn kam. Manchmal hat man auch das Gefühl, in einer Vorführung von Samuel Becketts
Warten auf Godot zu sitzen und nur Bahnhof zu verstehen. Mir ging das auch so, mit den ersten Episoden konnte ich nur wenig anfangen. Aber von der White Supremacy zum Minkowski-Raum folgt man dann zwar verschlungenen Erzählfäden, die sich am Ende aber als völlig kohärent erweisen. Auf diesen Meta-Ebenen beantwortet die HBO-Serie die Frage nach ihrer Genialität sehr eindrucksvoll, nämlich witzig, schlagfertig, visuell herausragend und unterm Strich absolut innovativ. Auch weil Alan Moores Analogie nicht ganz aufgeht: man muss sich die Filmrolle tatsächlich mindestens zweimal anschauen. Dann stellt man fest, dass sich zwar die Bilder wiederholen, aber nicht die Bedeutungen. Jeder Durchlauf schafft neue.


Note: BigDoc = 1,5


Entgegen allen sonstigen Gepflogenheiten wurde diese Kritik vor Sichtung der letzten Episode veröffentlicht. Der Verfasser will sich dem Risiko aussetzen, dass ganz zum Schluss alles anders kommt als vermutet. Das allerdings wäre keine Überraschung.

Watchmen - USA 2019 - Showrunner: Damon Lindelof - HBO, 9 Episoden - Streaminganbieter: SKY - Showrunner: Damon Lindelof - D.: Regina King, Don Johnson,
Yahya Abdul-Meteen II, Louis Gossett Jr., Jeremy Irons, Jean Smart.
  

Literatur: