Samstag, 26. Mai 2012

Deutsche Komödien: „Hotel Lux“


Deutschland 2011 - Regie: Leander Haußmann - Darsteller: Michael Herbig, Jürgen Vogel, Thekla Reuten, Alexander Senderovich, Valerie Grishko, Juray Kukura - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 105 min.

In „Hotel Lux“ geht es zu Anfang zwar um Nazis, aber im Zentrum von Leander Haußmanns Komödie steht eine andere Variante des Terrors: die stalinistische Säuberungswelle, die in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre auch die im Moskauer „Hotel Lux“ lebenden Sozialisten und Kommunisten erfasste, die dort vor den Faschisten Zuflucht gesucht hatten. Hier wurden nachts recht wahllos vermeintliche Dissidenten vom NKWD aus ihren Betten geholt und beseitigt. Wer Glück hatte, wurde nach Sibirien deportiert. Und ausgerechnet in dieser von Verrat und Denunziation geprägten Atmosphäre soll ausgerechnet ein deutscher Kleinkünstler dem Großen Führer Josef Stalin die Karten lesen? Kann man darüber lachen? Ja, man kann.

Tingeltangel
Am Anfang lachen die Nazis noch über sich selbst: Hans Zeisig (Michael Herbig) und sein Freund Siggi Meyer (Jochen Vogel) parodieren auf einer Berliner Kleinkunstbühne die beiden Erzfeinde Hitler und Stalin. „Ein Freund, ein guter Freund“ singen sie und 1933 grölt das Publikum, mehrheitlich aus SA- und SS-Gefolgsleuten bestehend, vor Begeisterung. Eine völlig absurde Szene, die ihren schwarzen Humor darin besitzt, dass der Zuschauer (hoffentlich) weiß, dass der deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt Jahre später folgen wird und wie ein blasphemischer Donnerschlag nicht nur in den Reihen der im Exil befindlichen Antifaschisten landen wird.
Zeisig ist ein richtiger Schlemihl, charmant, ein unpolitischer Frauenheld, mit einem Traum von Hollywood in seinem Herzen. Siggi dagegen, der den Hitler mimt, wird wenig später in die Kommunistische Partei eintreten und in den Untergrund gehen. Später werden sich die Freunde unter nicht weniger üblen Zeitläuften wiederbegegnen.

Leander Haußmann skizziert den Übergang des multikulturellen Berlins zur Hauptstadt des Reiches in eleganten Bildern: Tingeltangel ist in seinem Film keine Behauptung, sondern wird in „Hotel Lux“ ganz authentisch als die anarchistische Kleinkunst der Komik zum Leben erweckt, die sie in den 1920er Jahren war.
Aber ebenso treffsicher zeigt Haußmann auch ihren Niedergang. Für jene, die über alles lachen wollen, ist im Tausendjährigen Reich kein Platz mehr. Holen sich die uniformierten Nazis (Hitler soll ja ein Faible für die Kleinkunst besessen haben) anfänglich hinter der Bühne noch Autogramme bei Siggi ab, so bricht nach dem Reichstagsbrand der braune Terror auch über die Freunde herein. Zeisig wird in Deutschland nicht mehr glücklich: Siggi landet im KZ Oranienburg, ein Nazi hat die Leitung des Varietés übernommen und die Sketche werden lebensgefährlich. Und dann geht ausgerechnet Zeisig, der sich zuvor liebenswert-naiv zum harmlosen Tingeltangel bekannt hat, noch einmal auf die Bühne, diesmal hat er sich das Hitler-Bärtchen angeklebt: „Wir haben geeignete Mittel, um jeden zum Lachen zu bringen!“, aber es lacht niemand mehr.
Nun geht es ums reine Überleben, aber statt im amerikanischen Fluchtparadies landet Zeisig mit falschem Pass in der Sowjetunion – im berüchtigten „Hotel Lux“.

Ziemlich humorlos: Die Kanonisierung der politischen Komödie
Das Tragische an der Filmkomödie ist, dass sie häufig wie unter Zwang zum Kassenerfolg verdammt ist, während die meisten Komiker wissen, dass man sehr oft eine Komödie nur deshalb macht, weil das, was man erzählt, als Tragödie überhaupt nicht zu ertragen wäre. Um von einer derart depressiven Einsicht abzulenken, hat man sich im frühen Kino Torten ins Gesicht geworfen, was besonders aus anthropologischer Sicht interessant ist, aber das ist ein anderes Thema. Immerhin scheint zu gelten, dass Menschen, die im Kino lachen wollen, auf den tragischen Kern jeder Komödie lieber verzichten wollen. Komödien, die politische Themen aufgreifen, werden vielleicht auch deswegen immer als problematisch empfunden. Nicht nur beim Zuschauer: Entweder werden sie verrissen oder kanonisiert.

Chaplins „The Great Dictator“ gehört ebenso zum Kanon der gültigen Komödien mit bitterernstem Hintergrund wie „Sein oder Nichtsein“, den Ernst Lubitsch 1942 drehte, oder Roberto Benignis „Das Leben ist schön“ (1997). Aber Kanonisierung löst mitunter Langeweile aus, mitunter lässt das Publikum dies auch die Filmemacher spüren, und das nicht nur dann, wenn diese nicht den Sprung über den großen Schatten der Vorbilder wagen.
In Deutschland tut man sich traditionell mit dem Genre schwer. Krawallige Filme wie Dani Levys „Mein Führer – Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler“ (2007), in dem Hitler von Helge Schneider als depressives Würstchen gegeben wird, lösen hierzulande nicht ganz zu Unrecht epochale Debatten über die Political Correctness von politischen Komödien aus. In der Regel sind diese Diskurse dann auch ziemlich humorlos.

Dass nun ausgerechnet der auf platte Klamotte spezialisierte und dafür mit Filmpreisen überhäufte Michael Herbig einen Schritt in dieses kritische Komödienfach gewagt hat, dürfte nicht nur seine am handfesten Klamauk geschulten Fans überrascht haben. Ihn wohl auch, denn Herbig lehnte die Rolle erst ab, erlag aber dann dem hartnäckigen Werben des Produzenten Günter Rohrbach.
Dass nun aber seine Performance in Leander Haußmanns „Hotel Lux“ zu einem echten Volltreffer in der qualitativ überschaubaren deutschen Komödien-Landschaft geworden ist, liegt nicht nur an seinen neu zu entdeckenden Fähigkeiten als souveräner Vollblut-Komödiant, sondern auch – und vor allem – an einem exzellenten Script, einem tollen Casting und der Handschrift eines Regisseurs, der es schafft, ein beklemmendes Thema aus der Sicht eines Schlemihls zu erzählen, ohne es zu verwursten. Das ist schon eine Menge wert.

Hotel des Grauens
Als Zeisig vom wechselhaften Schicksal nach Moskau geführt wird, trifft er dort immerhin seine heimliche Liebe wieder, die Kommunistin Frida van Oorten (Thekla Reuten). Wenigstens etwas. Alles Weitere ist aber so, als hätten die Monty Pythons ein Buch von Franz Kafka in die Hände bekommen. Alles ist reglementiert, für jede Bewegung braucht man einen Passierschein („Propusk!“) und in den Hotelzimmern herrschen fast schon metaphorisch die Ratten. Während der zwergenhaften NKWD-Chef Jeschow die Knute schwingt und die Kinder auf den Gängen „Auf der Flucht erschossen“ spielen, erfährt Zeisig recht schnell, dass unter den Gästen die Angst um sich greift. Immer wieder werden nachts Menschen abgeführt, von denen niemand mehr hört, während anderentags die Kommunisten in endlosen Sitzungen Belanglosigkeiten verwalten und „Väterchen“ Stalin ewige Treue geloben. Und ausgerechnet der unpolitische Zeisig, den man mit dem bei den Nazis in Ungnade gefallenen Astrologen Jan Hansen verwechselt, soll nun höchstpersönlich und erneut in falscher Rolle dem Diktator die Zukunft aus einem Satz Karten lesen.

Haußmann konfrontiert den Zuschauer dabei gleich mit einer Flut von Personal: Zeisig trifft auf Wilhelm Pieck, Herbert Wehner (aka Herbert Funk), Walter Ulbricht, Lotte Kühn, J.R. Becher und andere deutsche Kommunisten. Um den Zuschauer historisch nicht zu überfordern, stanzt Haußmann knappe Angaben zur Vita ins Bild. Das ist genauso witzig wie die gallige Situationskomik des Films: Walter Ulbricht baut aus Zuckerstücken „ach, nur so“ eine Mauer und wenn Zeisig zum ersten Mal Stalin trifft, sitzt dieser auf der Toilette und dreht als Erstes das Wasser auf, damit die knarzigen Rohrgeräusche die allgegenwärtigen Mikrofone austricksen. Aber das ist auch das Einzige, das den Paranoiker mit den lebensgefährlich lebenden Emigranten im „Hotel Lux“ verbindet: wenn Zeisig zum ersten Mal dem anderen großen Führer begegnet, erschießt dieser nach dem Gespräch den in der Badewanne hockenden Übersetzer. Zeugen werden nicht geduldet. Zeisig muss Russisch lernen.

Vielleicht ist das auch das Gelungene an Haußmanns Drahtseilakt: immer wenn die Gags andeuten, nun etwas flacher zu werden, serviert uns der Regisseur einen Schlag in die Magengrube. Jeder Witz, der entlastend wirken könnte, wird mit einer grausamen Pointe ausgekontert. Haußmann nimmt nicht nur Zeisig, den Naiven, aber auch Gerissenen, mit auf eine Reise in die Vergangenheit, sondern auch den Zuschauer. Das richtig auszubalancieren, ist manchmal hart am Rande des guten Geschmacks, aber es ist besonders Michael Herbig zu verdanken, dass diese Reise ins „Herz des Bösen“ immer wieder positiv überrascht. Wie Herbig wider besseres Wissen mit schnodderiger Schnauze den Selbstbewussten mimt, das hat schon etwas. Er ist der Hofnarr, der langsam erwachsen wird, aber in seinem Herzen die einfache Wahrheit von der befreienden Kraft des Lachens nicht hergibt. So etwas könnte mit allerhöchstem Kitschverdacht in die Hose gehen, aber Herbig meistert den Spagat souverän. Er ist die eigentliche Entdeckung dieses Films.

Und wenn am Ende auch Siggi wieder auftaucht und Zeisig endlich Fridas Herz gewonnen hat, beginnen die Köpfe erst richtig zu rollen, denn der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt fordert neue Opfer. Noch einmal müssen die beiden Freunde ihre Paraderollen auspacken und wenn dem Trio unter den Augen von Ribbentrop und Molotow dann die spektakuläre Flucht gelingt, dann kann man Leander Haußmann nur zu diesem Film gratulieren, denn eins hat man gelernt: die Bösen dieser Welt mögen kein Tingeltangel.
Vielleicht landet „Hotel Lux“ ja auch deswegen mal im Kanon!

Pressespiegel:

Alexander Cammann in „Die Zeit“:
Die „Überblendung von historischer Realität jenes Tages mit burlesk-surrealem Showdown zeigt für einen Moment immerhin, was aus diesem Film hätte werden können, wenn womöglich jemand wie Helmut Dietl, der ursprünglich an diesem Film saß, weitergemacht hätte....Die Schwäche des Filmes ist handwerklich-künstlerisch. Angestrengt kokettiert Leander Haußmann mit Vorbildern, ein bisschen Lubitsch, ein bisschen Tarantino. Aber ihm fehlt deren Sinn für Timing und jenen Moment, der Komik erst entstehen lässt – alles ist zwar temporeich erzählt, jedoch zu ungenau, ja schluderig. Schauspielerisch bleiben folglich die meisten Darsteller unter ihren Möglichkeiten...Hotel Lux ist somit ein verblüffend humorloser Film, ohne je ernsthaft zu sein...Wer sich dem Grauen nähert, muss ihm erkenntnisstiftende Pointen abringen können, muss gewitzt sein. Helmut Dietl, bitte übernehmen Sie!“

Thomas Funke in „Critic.de“:
Michael Herbig, der als Regisseur und Darsteller die erfolgreichsten deutschen Lustspiele der vergangenen Jahre zu verantworten hat, gibt unter der Regie von Leander Haußmann diesen von den Zeitläuften geplagten Mann so, wie es sich für eine Tragikomödie geziemt. Mal lustig, mal ernst. Aber nie schenkelklopfend. Das ist für die Fangemeinde dieses außergewöhnlich vielseitigen Komikers möglicherweise schwer zu schlucken...Leander Haußmann, der um die Lebenslügen der europäischen Linken weiß, gelingt die schwierige Balance von politischer Farce, Schelmenroman, Boulevardkomödie und Melodram. Die größte Überraschung des Films aber ist Bully Herbig, der hier als Hans Zeisig eine ganz neue Seite zeigt.“

Kurze Gebrauchsanweisung: den Abspann auf jeden Fall zu Ende gucken – es gibt noch einen Nachschlag!

Noten: BigDoc = 2

Mittwoch, 23. Mai 2012

Dark Shadows


USA 2012 - Regie: Tim Burton - Darsteller: Johnny Depp, Michelle Pfeiffer, Helena Bonham Carter, FSK: ab 12 - Länge: 112 min.

 „Zurück in die Zukunft“ meets Vampire. Zumindest der zweite Teil ist ja zurzeit absolut angesagt. Der Clash of Civilizations – abgehandelt an einem Untoten, der sich lange nach seiner Zeit plötzlich mit Kabelfernsehern, Autos und Pop-Musik zu arrangieren hat – eigentlich kann das gar nichts schiefgehen. Und alles auch noch von dem Spezialisten für gepflegte Grusel-Romantik inszeniert: Wo Tim Burton draufsteht, ist auch meistens Tim Burton drin. Doch diesmal hat sich der Meister des Morbiden verschätzt. Schuld daran ist das Drehbuch.

Wir sind im ausgehenden 18. Jh.: die britische Auswandererfamilie Collins hat im amerikanischen Maine ein Fischerei-Imperium aufgebaut, das keine Konkurrenz kennt. Alles könnte auf unbeschränktes Glück und endlosen Reichtum für die kommenden Generationen hinauslaufen, wenn nicht der junge Barnabas Collins (Johhny Depp) ausgerechnet einer liebestollen Hexe den Laufpass geben würde. So etwas hat Folgen: Angelique (Eva Green) entsorgt als Erstes die verhasste Nebenbuhlerin und belegt nicht nur den coolen Ex-Lover mitsamt der ganzen Familie mit einem Fluch, sondern sorgt auch dafür, dass Barnabas die nächsten Jahrhunderte in einem fest verschlossenen Metallsarg verbringt. Zuvor hat sie ihn allerdings in einem Vampir verwandelt!

Dark Shadows war in den 1960er Jahren eine außergewöhnlich beliebte US-Gothic Soap Opera. In fünf Jahren produzierte ABC sage und schreibe über 1200 Episoden des halbstündigen Formats und später auch zwei Filme. Ein Anfang der Neunziger Jahre von NBC gestarteter Relaunch stand allerdings unter keinem guten Stern: die Serie wurde nach 13 Folgen wieder eingestellt. Fans können sich trösten: in diesem Monat wird eine 131-DVD-Sargbox mit allen 1225 Folgen des alten Serienklassikers erscheinen.

Tim Burton erzählt in „Dark Shadows“ eine Geschichte, die sich fast ausschließlich um die Figur des Vampirs Barnabas dreht, der knapp zwei Jahrhunderte später, im Jahre 1972, versehentlich aus seinem Sarg befreit wird und nach anfänglichen Assimilationsprobleme dem alten Familienschloss und seiner inzwischen doch etwas abgewirtschafteten Familie wieder zu altem Glanz verhelfen will. Dass sich ein gutbürgerlich sozialisierter Vampir nicht auf Anhieb mit den kulturellen Gewohnheiten der Pop-Generation anfreunden will, führt dann auch folgerichtig zu einigen netten Dialogen und Situationsgags, aber spätestens, wenn Barnabas das Kabel aus einem Fernseher reißt, um die im Kasten befindlichen kleinen Menschen herauszulassen, spürt man, dass das beabsichtigte Gag-Feuerwerk doch allzu sehr an der Oberfläche bleibt.
Das eigentliche Dilemma in dem von Johnny Depp mitproduzierten Film besteht jedoch in der losen, ja fast schon flüchtigen Struktur des Drehbuchs, das interessante Figuren wie das Kindermädchen Viktoria Winters (Bella Heathcote), das Barnabas’ großer Liebe wie ein Ei dem anderen gleicht, vielversprechend aufbaut, um sie dann aus dem Auge zu verlieren. Helena Bonham Carter als Familien-Psychiaterin Dr. Julia Hoffman verspielt sich in einer unbedeutenden Nebenrolle, was im Prinzip für die meisten Mitglieder der Collins-Familie gilt.
Und warum man Christopher Lee für einen kurzen Gastauftritt als Seebär angeheuert hat, wird wohl das Geheimnis der Macher bleiben. Mit anderen Worten: viel Potential, aber kein Gefühl für die Story.

Sicher spielt Johnny Depp seine Rolle famos und auch das Szenenbild ist detailfreudig ins Bild gesetzt worden, aber retten kann dies die Sache nicht: So schleppt sich der Film von einer Szene zur nächsten hin und auch wenn es in der Auseinandersetzung zwischen Baranbas und Angelique, der Hexe, die natürlich immer noch ihr Unwesen treibt, am Ende auf magische Weise deftig knallen und krachen darf, so hat der Film zu diesem Zeitpunkt allenfalls gepflegte Langeweile verbreitet. „Dark Shadows“ ist leider keine ironische Antwort auf die todernste Twilight-Reihe und sattsam bekannte TV-Serie wie Vampire Diaries. Er wirkt so untot wie seine Hauptfigur.

Noten: BigDoc = 4

Donnerstag, 17. Mai 2012

Mission: Impossible - Ghost Protocol


USA 2011 - Originaltitel: Mission: Impossible - Ghost Protocol - Regie: Brad Bird - Darsteller: Tom Cruise, Jeremy Renner, Simon Pegg, Paula Patton, Josh Holloway, Michael Nyqvist, Vladimir Mashkow - FSK: ab 12 - Länge: 132 min.

Gelungener Relaunch
Der Filmfreund weiß Bescheid, wenn IMF-Agent Ethan Hunt dank spezieller Hafthandschuhe am höchsten Gebäude der Welt herumklettert, dem über 800 m hohen Burj Khalifa: im Making of wird man schon sehen, mit welchen Chroma Keying-Effekten das bewerkstelligt wurde. Doch weit gefehlt. Tom Cruise hat wieder einmal eiserne Nerven bewahrt und den Stunt gleich selbst erledigt. An einem Drahtseil in schwindelnder Höhe, nicht schlecht für einen 50-Jährigen. Das Drahtseil wurde natürlich digital entfernt...
Fünf Monate nach dem deutschen Kinostart liegt „M:I-4“ auf Bluray und DVD vor – der vierte Teil der Serie um den Impossible Mission Force-Agenten hat es offenbar darauf angelegt, dem Bond-Revival den Kampf anzusagen. „Mission: Impossible – Ghost Protocol“ schafft dies auf atemberaubende Weise – Regisseur Brad Bird zeigt tatsächlich Unglaubliches, aber die eigentliche Stärke von „M:I-4“ liegt in der altmodischen Erzählweise: es wird eine Geschichte erzählt. Kaum zu glauben.

Mit der Besetzung des Agenten-Oldies durch Daniel Craig und der Rückkehr zu realistischen Plots erfuhr die James Bond-Serie nach Jahren angestrengter Albernheit eine unerwartete Wiederbelebung. Agententhriller à la The Bourne Identity, der seinerzeit ja auch ein Revival des klassischen Genres des Spionagefilms gewesen ist, hatten zuvor gezeigt, dass die abgehobenen Kunstwelten, die das Bond-Genre präsentierte, nicht alternativlos sind.
Nun werden in der Bond-Welt wieder harte, düstere und ziemlich zynische Agententhriller erzählt.

Stabiles Branding, raffiniert veredelt
Mit diesem Bond-Revival hatte „M:I“ eigentlich und immer noch nicht so viel zu tun. Der Plot und die Psychologie waren war nie so wichtig. Es war eher wie bei Hitchcock und seinen McGuffins: es geht nicht um die Bombe unter dem Tisch, wirklich geht es in „M:I“-Filmen nur um schnelle Schauplatzwechsel rund um den Globus, raffinierte technische Spielereien und komödiantische Verkleidungskunst. Allerdings weiß man bei „M:I“ nicht, was gleich passieren wird...
Nach Brian da Palmas erstem Teil hatten sich verschiedene Regiestars am Stoff versucht, in „M:I-2“ diente das Ganze John Woo noch als Spielmaterial für eine visuelle Oper, mit „M:I-3“ versuchte J.J. Abrams („Super 8) das Sujet wieder auf den Boden des schnell geschnittenen Popcorn-Kinos zu stellen – ein tougher Versuch, der nicht so schlecht war wie sein Ruf.
Regisseur Brad Bird (The Incredibles, Ratatouille) hat sich dennoch die letzten Filme von Daniel Craig genau angeschaut: „Ghost Protocol“ erzählt deutlich erwachsener, aber ohne den betonten Zynismus der letzten Bond-Filme, und dabei hält allerdings an den technischen Gimmicks, die man in den Missions erwartet, eisern fest. „M:I“ hat einen Markenkern und Brad Bird hat am Branding nichts geändert.

Zugegeben: die Hatz nach einem wahnsinnig gewordenen Sicherheitsexperten, der die Vereinigten Staaten und Russland in einen Atomkrieg hetzen will, um die Erdbevölkerung auszulöschen, ist hanebüchen. Aber Bird, der noch während der Drehs am Script herumgebastelt hat, setzt in seinem Film ganz auf die Tradition der klassischen TV-Serie (wie erinnern uns: „Kobra, übernehmen Sie“) und nimmt das Team ernst. Hunts Mitstreiter sind diesmal keine langweiligen Stichwortgeber, sondern echte Sidekicks: Der britische Komiker Simon Pegg spielt einen gelegentlich leicht überforderten Techniker im Außendienst, mit Jeremy Renner wird dem Solisten Hunt ein Partner an die Seite gestellt, der nicht nur auf Augenhöhe agiert, sondern zudem noch ein düsteres Geheimnis mit sich herumschleppt, während Paula Patton als vielseitige Spezialistin noch einen privaten Rachefeldzug im Sinn hat. Auch Cruise darf seine Figur etwas ironischer spielen. Das tut dem Film gut.

Natürlich bietet auch Brad Bird dem Publikum echte Hingucker: der Kreml wird in die Luft gesprengt, die Kletterei am Burj Khalifa ist atemberaubend, eine Verfolgungsjagd im Sandsturm variiert dieses klassischen Actionelement mehr als virtuos und das Finale im einem High-Tech-Parkhaus hat man so auch noch nicht gesehen. Alles in allem gute Unterhaltung, die vom exzellenten Kameramann Robert Elswit (Michael Clayton, There Will Be Blood) in grandiosen Bildern eingefangen wird.
Fazit: „Mission Impossible – Ghost Protocol“ bietet dem Genrefan keine Standardkost mit bewährten Zutaten, sondern ein Fünf-Gänge-Menü für Feinschmecker.

Die Bluray ist über jeden Verdacht erhaben und bietet – natürlich – nahezu Referenzqualität. Also keine digitale Mission Impossible. Sehr lohnenswert sind auch die Makings of’s, die erstaunliche Einblicke in das gewähren, was Tom Cruise am Set alles anstellt. Der Mann hat wirklich eiserne Nerven und gut schauspielern kann er halt auch – allen Kritikern zum Trotz.

Note: BigDoc = 2 

Samstag, 12. Mai 2012

TV-Review: „The Walking Dead“ auch bei RTL II auf dem Vormarsch


Nun sind auch mitten unter uns: die Untoten.
Nachdem RTL II die Top-Serie „Game of Thrones“ mit einem Serien-Blockbuster-Weekend erfolgreich unter’s Volk gebracht hatte und dafür gelobt wurde, eine Blaupause für zukünftige Sendestrategien entwickelt zu haben, sollte natürlich erfolgreich nachgelegt werden. RTL II wird nun an einem Wochenende die AMC-Serie „The Walking Dead“ versenden. Gestern Abend ging es los.
Und auch bei uns wurde der Start des US-Smash-Hits kurz vor Mitternacht zum Quotenhit: knapp 1 Mio. der 14- 49-Jährigen schalteten um 23.01 Uhr zu, die zweite Episode erreichte ähnliche Einschaltquoten, sodass mit 12,2 und 17,1% bombastische Ergebnisse erzielt wurden. Sie liegen klar über dem Senderschnitt von sechs Prozent.
An die US-Quoten reicht dies (natürlich) nicht heran. So meldete „Deadline Hollywood“ nach dem Opener zur zweiten Season insgesamt 7,3 Mio. Zuschauer bei der Premiere und da es sich um einen Kabelevent mit mehreren Terminen am Starttag handelte, wurden insgesamt 11 Millionen Zuschauer gezählt.
Die Gesamtquote von 38% kann man hierzulande nur staunend bewundern. Der Hype in den USA ist mittlerweile so groß, dass er kanalisiert werden musste: AMC hat deshalb eine Live Aftershow namens „The Talking Dead“ generiert, damit Freunde der wandelnden Leichen sich richtig ausquatschen können.
Als ich im Juni 2011 zustimmend über den britischen Bluray-Start der Serie berichtete (http://bigdocsfilmclub.blogspot.de/2011/06/bluray-review-walking-daed.html), konnte ich natürlich nicht ahnen, dass das Konzept des Show Runners Frank Darabont alle Serienrekorde pulverisieren würde. Mittlerweile steht fest, dass „The Walking Dead“ zu den größten Erfolgen in der US-TV-Geschichte gehört. Aber Erfolg scheint nicht alles zu sein, denn AMC feuerte im Juli 2011 Frank Darabont!

"Even when you have a hit, they can still destroy you."
Offenbar war die erste Season zu gut und zu teuer!
Was auf den ersten Blick unglaublich ist, erlaubt beim genauen Hinschauen einen Blick hinter die Kulissen des Pay-TV-Senders AMC. Noch immer bringt man AMC mit „Breaking Bad“ und „Mad Men“ in Verbindung, aber die beiden preisgekrönten Serien (auch dort lag AMC mit den Machern im Clinch) wurden längst lizenziert und gehören SONY (Breaking Bad) und Lionsgate (Mad Men). Nur „The Walking Dead“ gehört noch AMC – mit allen finanziellen undsteuerlichen Risiken. Deshalb beschloss der Sender einen Cut und senkte das Budget pro Episode um 650.000 US-Dollar von 3,4 Mio. $ auf 2,75 Mio. $. Gleichzeitig sollte eine Episode in vier anstatt in acht Tagen abgedreht werden.
Insider berichten mittlerweile, dass die AMC-Macher einfach nicht mit dem Erfolg klar gekommen sind: „"They're total ball-busters, and that pisses people off." Wobei Ball-Buster sowohl Witzbold als auch Spielverderber bedeuten kann.
"It feels like they don't have the experience of being on top", stellte ein Kenner der Szene fest.
Vermutlich stand Darabont, der der Serie einen unübersehbaren Kino-Touch gegeben hatte, dem Billigkonzept im Wege. Eine Entwicklung, die neben der Budgetsenkung auch vorsah, dass 13 statt 6 Episoden für die zweite Season produziert werden sollten – natürlich mit weniger Geld.

Zweite Staffel: Qualität konnte nicht gehalten werden
Die Folgen der Senderpolitik kann man in der zweiten Season sehen. Während „The Walking Dead“ in Season 1 nicht nur von der Atmosphäre urbaner Settings mit grandiosen Massenszenen lebte, sondern in punkto Storyline immer für Überraschungen gut war, so verlagerte sich das Geschehen in Season 2 an einen einzigen Drehort – einen einsamen Bauernhof. Das ist natürlich preiswert zu realisieren, kein Wunder, hatte AMC doch die Macher angewiesen, die Hälfte der Handlung „indoors“ abzudrehen. Tatsächlich sieht man der zweiten Staffel das Magerkonzept auf Schritt und Tritt an: „The Walking Dead“ wurde von einer kinoreifen Dramaturgie auf Sitcom-Niveau heruntergebrochen und gelegentlich durfte auch mal ein Zombie auftauchen, damit das Thema nicht ganz verloren ging.
Das wirkte, wie ein Kritiker lakonisch feststellte, so, als würde man die Untoten in der Ferne grunzen hören, aber sie nicht zeigen, damit Makeup gespart wird: "This is not a show that takes place around the dinner table."
 
Gut, ganz so schlimm war es dann doch nicht und die Serie hält einige durchaus passable Episoden bereit, obwohl der ganze große Wurf ausblieb. Und mein Fazit: Fans der Serie sollten sich die TV-Ausstrahlung der 1. Staffel nicht entgehen lassen, denn besser wird es nicht mehr. Ob die geplante 3. Staffel die aufkommende Langeweile vertreiben wird, steht in den Sternen. Dem Erfolg der Serie konnte das Sparkonzept von AMC bislang nichts anhaben, aktuell sprechen die gewaltigen Quoten der 2nd Season in den USA dafür, dass „The Walking Dead“ weiterhin gut aufgenommen wird. 

Quelle: The Hollywood Reporter

Sonntag, 6. Mai 2012

Melancholia


Dänemark / Schweden / Frankreich / Deutschland 2011 - Regie: Lars von Trier - Darsteller: Kirsten Dunst, Charlotte Gainsbourg, Kiefer Sutherland, John Hurt, Charlotte Rampling, Alexander Skarsgård - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 136 min. - Start: 6.10.2011

Der Titel ist Programm. Melancholie ist in Lars von Triers Film nicht nur das innerpsychische Dispositiv seiner Protagonistin Justine, sondern auch die Festlegung auf ein ästhetisches Regelwerk, das mit misanthropischer Unausweichlichkeit das Schicksal des Planeten Erde beschließt: der gigantische Gasplanet Melancholia wird in einem riesigen Feuerball die Erde verschlingen. Von Trier schickt dieser apokalyptischen Katastrophe die soziale voraus: die Gesellschaft, die sich anlässlich einer Hochzeit zusammenfindet, zerfällt in ihre Bestandteile, auch dank der Einwirkung der depressiven Justine. Alles Disparate in ihr wird durch Reste der anti-filmischen Gebrauchsanweisungen des Dogma-Stils sichtbar gemacht, die in „Melancholia“ allerdings dann außer Kraft gesetzt werden, wenn von Trier seine Figuren in die Natur hineinstellt: reitend, im Wald, an Flüssen und Bächen.
Der dänische Regisseur, der keinen Zweifel daran gelassen hat, dass dieser Film, wie auch viele zuvor, sein Innerstes nach außen trägt, hat in seinem von der Filmkritik fast durchgängig gefeierten Film wieder einmal bewiesen, dass er es immer wieder schafft, seine Egomanien in Bilder zu fassen, die polarisieren. Entweder verlässt man wutentbrannt das Kino oder man lebt mit ihm und seinen Filmen das Verzweifelte seiner existenziellen Beschädigungen aus.

Der Zerfall und die süße Größe: die Ästhetisierung des Todes
Aber ich suche heute noch nach einem Werke von gleich gefährlicher Faszination, von einer gleich schauerlichen und süßen Unendlichkeit, wie der „Tristan“ ist, – ich suche in allen Künsten vergebens. (Ich nenne) Wagner den großen Wohltäter meines Lebens. Das, worin wir verwandt sind, dass wir tiefer gelitten haben, auch aneinander, als Menschen dieses Jahrhunderts zu leiden vermöchten, wird unsere Namen ewig wieder zusammenbringen (Friedrich Nietzsche über sich, Richard Wagner und „Tristan und Isolde“ in „Ecce homo“).

„Melancholia“ beginnt mit einer emblematischen und über acht Minuten dauernden Sequenz aus Bildern, die kontrapunktisch wirken, aber erst nachdem man den Wackelstil der Kamera gesehen hat, der die folgenden 128 Minuten charakterisiert. Die einleitenden 16 Bilder versteht man deutlich besser, wenn man den ganzen Film kennt.
Wie erlesene Tableaus präsentiert von Trier diese Pre-Title-Sequence. Die Einstellungen wurden in Super-Slow Motion aufgenommen, unterlegt ist das Ganze mit dem Tristan-Akkord aus dem Vorspiel von Richard Wagners Oper „Tristan und Isolde“.
Dies passt, denn Wagners Thema hat in Anlehnung an Novalis und Schopenhauer durchaus das völlige Verlöschen der menschlichen Existenz im Tode zum Thema. Wagners Vortragsanweisung für das Tristan-Motiv lautete: „langsam und schmachtend“ und so kann sich der Zuschauer auf die Seite des Einen oder des Anderen schlagen, wenn von Trier u.a. folgende Motive präsentiert: Kirsten Dunst als „Justine“ im Close-up, tote Vögel regnen vom Himmel; das Landschaftsgemälde „Die Jäger im Schnee“ von Pieter Brueghel dem Älteren (1565), das durchaus und trotz des geselligen Treibens der Dörfler auf dem winterlichen Eis als Sinnbild von Ödnis interpretiert werden kann; der Planet Melancholia; Claire (Justines Schwester) und ihr Sohn Leo auf einem Golfplatz am Loch 19 (!), sie sinkt im sumpfigen Rasen ein; ein kollabierendes Pferd; Justine in Jesus-Pose mit einladend ausgestreckten Armen; Justine im Brautkleid, gefesselt an strickähnliche Tentakeln, die ihr das Gehen erschweren und die sich auch von nahestehenden Bäumen herüberschlängeln; die Kollision Melancholias und der Erde (später im Film auch „Dance of Death“ genannt).

Natürlich fühlt man sich bei diesen Bilder an die Genese-Sequenz in Terrence Malicks „The Tree of Life“ erinnert, aber der Unterschied liegt auf der Hand: die Symbolik in Malicks Films ist (ungeachtet ihre durchaus strittigen Qualitäten) als Chiffre der Evolution unmittelbar bedeutend, jene in von Triers Film entlässt ihre Bedeutung erst ganz am Ende: man versteht die einleitende Sequenz als Ästhetisierung des Todes sozusagen erst „von hinten“ und anders als im Kino kann auf der DVD oder Bluray halt an den Anfang springen und sich das Ganze noch einmal anschauen.

Natürlich ist dies etwas hermetisch und verrätselt. Zunächst völlig deutungsoffen, zeigen die erst a posteriori mit vermeintlichem Sinn aufgeladenen Bilder dem Zuschauer entweder seine anfängliche Bedeutungslosigkeit auf oder laden ihn zu nicht sonderlich fröhlichen Vexierspielen ein, bei denen man doch ein gehöriges Maß an bildungsbürgerlicher Grundausstattung benötigt, um zwischen den Zeilen zu lesen. Eins ist aber klar: Ästhetisch hält die gelackte Wallpaper-Ästhetik der ersten Minuten bereits den Zerfall und die Lust an ihm in sich bereit und das Ende ohnehin (im aktuellen Jargon müsste jetzt vor dem Spoiler gewarnt werden!)

Ein Schuss Dogma 95
Nach dem metaphysischen beginnt der soziale und filmische Zerfall mit dem Eintritt in die Handlung. Der erste Teil ist mit „Justine“ übertitelt: Justine (Kirsten Dunst) und ihr Bräutigam Michael (Alexander Skarsgård) versuchen vergeblich mit einer Stretch-Limousine das Schloss, in dem ihre Hochzeit stattfinden soll, zu erreichen. Schließlich kommen sie zu Fuß an, mit erheblicher Verspätung – sehr zum Ärger des spleenigen Zeremonienmeisters (Udo Kier), dessen Rolle sich angesichts des sich rasch anbahnenden Desasters kaum als Comic Relief deuten lässt. Bereits bei den Hochzeitsreden beginnen nämlich die Eltern der Braut, die zynische und emotional kalte Gaby (Charlotte Rampling) und der chaotisch-charmante Dexter (John Hurt), mit einer öffentlichen Zuschaustellung ihrer Feindseligkeit. Wie so häufig (und das gilt ja für von Triers Ausführungen über die eigene Familienbiografie) liegt die Ursache für das spätere Übel in der kollektiven Familienneurose. Während Justine also beginnt, sich immer mehr von der Gesellschaft zurückzuziehen, versuchen ihre Schwester Claire (Charlotte Gainsbourg) und ihr Mann John (Kiefer Sutherland) den Laden irgendwie zusammenzuhalten.
Am Ende zerstreut sich die Gesellschaft: Justine ist zunehmend depressiver geworden, sie hat ihren Chef, den Leiter einer Werbeagentur, tödlich beleidigt und mit dessen Praktikanten gevögelt, die Ehe mit Michael, der sie verlässt, liegt in Trümmern, ihr Vater kommt der Bitte nicht nach, noch über Nacht zu bleiben. Justine ist allein, nur Claire und John, deren Sohn Leo, und ein Bediensteter sind geblieben.

Kirstin Dunst spielt das ganz ausgezeichnet, aber sie spielt auch ein wenig gegen das anti-psychologische Konzept von Triers an, der in der Hochzeits-Sequenz eher eine stereotype Bourgeoisie-Kritik abliefert. Parallelen zu Thomas Vinterbergs „Das Fest“ (Festen, 1999) sind natürlich unübersehbar. Nicht nur in Hinblick auf das Sujet, sondern auch im Gebrauch der szenischen Mittel. So lässt Lars von Trier die Gesellschaft im Dogma-Stil filmen: Handkamera, Reißschwenks, Zooms in die Unschärfe, Achsensprünge. Auch das, was dann für die Montage übrig geblieben ist, wird einer harten Nachbearbeitung unterzogen. Klar ist zu erkennen, dass die nicht enden wollende Orgie aus Jumps-Cuts nicht nur beim Dreh begonnen hat, sondern auch beim Filmschnitt durch verstümmelnde Nachbearbeitung des Materials fortgesetzt worden ist. Allerdings bleibt von Trier dem Dogma 95-Stil nur noch rudimentär treu: seine Hochglanz-Einleitung des Films ist explizit anti-programmatisch und zerlegt genüsslich einige der Dogma-Regeln wie z.B. das Verbot von Soundtrack und Spezialeffekten.

Ich mache keine Hehl daraus, dass ich die Dogma-Ideologie schon immer als absoluten Nonsense eingeschätzt habe. Die Überzeugung, der vermeintlichen Entfremdung des Kinos gegenüber der Wirklichkeit, etwas formal Destruktives entgegensetzen zu müssen, aber auch die Stigmatisierung der sogenannten Illusionsästhetik des Films, basieren meiner Meinung nach auf einem grundlegenden Irrtum: nämlich ‚richtige’ und authentische Inhalte von der ‚richtigen’ Form abhängig zu machen. Ideologische Gebrauchsanweisungen dieser Art haben (z.B. bereits in der Realismusdebatte und der frühen Kinotheorie) zu peinlichen und irrigen Gängelungen geführt. Hinzu kommt, dass die Dogma-Bewegung sich auch als Gegenpol zum Autorenkino verstanden hat, was schon harter Tobak ist, weil damit auf einen bis heute innovativen Teil der Filmkultur eingeprügelt wurde. Die Dogma-Ideologen haben – was ich durchaus mit einem Schuss Boshaftigkeit versehen möchte – nur eins erreicht: sie haben Filme auf einem technischen Niveau produziert, das ihren Werken einen Look gab, so als sei das Filmmaterial ungeschnitten, also unter Verzicht auf Montage, stante pedes dem Publikum zur Ansicht dargeboten worden. Mit anderen Worten: das, was jeder unbeleckte Filmamateur tut, weil er es nicht besser kann, mutierte zum Stil.
Die Folgen für die visuelle Kultur: der Ruckel- und Wackelstil wurde, abgekoppelt von seinen ästhetischen und kinematographischen Prämissen, nicht nur zum Ausdrucksmittel der Generation YouTube, sondern kann heute in jedem dritten TATORT am Sonntagabend bewundert werden, ohne dass ich den Eindruck gewinnen konnte, dass sich nun eine größere Wirklichkeitsnähe eingestellt hätte. Dieses Ziel hatte das Kino nie, nur in den Köpfen einiger Theoretiker. Und die Gesetze einer funktionierende Erzählung kann man auch nicht verbessern, indem man mit der Kamera wackelt.
Mit einigem Wohlwollen kann man Lars von Trier unterstellen, dass „Melancholia“ durch seinen Stil immerhin das Disparate der von ihm skizzierten zerfallenden bürgerlichen Gesellschaft ausdrückt. Aber offen gestanden: dieses Wohlwollen bringe ich nicht auf.

Mittelalterliche Mystifizierung und die Traditionen der Gegenaufklärung – die Depression als Veredelung
Es ist unschwer zu erkennen, dass Lars von Trier, wie er auch einräumte, seine beide Frauenfiguren als Teile seiner eigenen Persönlichkeit interpretiert. Von Trier hat aus seinen angstneurotischen und depressiven Qualen nie ein Geheimnis gemacht. Und so dürfte am ehesten die Figur der Justine seine Verfasstheit widerspiegeln. Und was macht er daraus?
Sie müsse zum Teil ihn spielen, erklärte der dänische Regisseur seiner Hauptdarstellerin. Nun zeigt „Melancholia“ aber nicht die Genese einer Major Depression, sondern deren Veredelung. Und die findet im zweiten Teil statt, der den Titel „Claire“ trägt.

In diesem Teil rückt nun auch Melancholia, der Planet, immer mehr in den Mittelpunkt. Wurde er im ersten Teil lediglich angedeutet, so kommt er der Erde nun immer näher und die Wucht der möglichen Katastrophe entlädt sich nun im Miteinander der Restfamilie. Während Claires Angst vor dem Weltuntergang sie zunehmend zu überrollen droht, bemüht sich John um wissenschaftliche Erklärungen: die Experten hätten ausgerechnet, dass nichts passieren kann.
Von Trier, der sich vor Drehbeginn immerhin bei Astrophysikern gründlich über mögliche Abläufe informiert hat, spart Externes aus; man sieht keine Fernsehberichte, eine Ikonographie à la Roland Emmerich fehlt, der Untergang findet in aller Privatheit auf der Terrasse statt, wo man durch einen zum Kreis gebogenen Draht das Größer- und Kleinerwerden des sich nähernden und entfernenden Planeten studiert. Während Justine zunächst körperlich immer hinfälliger wird, scheint sie doch mit einer Hellsichtigkeit ausgestattet zu sein, die der rationalen Claire und ihrem nicht weniger vernunftorientierten Gatten John völlig fehlen.

Doch entscheidender ist es, genau zu untersuchen, wie Lars von Trier mit seinen Frauenfiguren umgeht. „Die Welt“, so Justine, „ist schlecht.“ Es gibt keinen Grund ihr nachzuweinen, sie wird untergehen, zu Recht auch. Und nach dieser finalen Einsicht beginnt sie wieder ihre Kraft zurückzugewinnen. Zuvor allerdings treten zu den inneren Gebrechen auch die äußeren hinzu. Justine kann sich kaum auf den Beinen halten, das Essen schmeckt ihr wie Asche.
Geistesgeschichtlich hat dies Tradition, aber sicher eine andere als man erwartet, denn in der Hinfälligkeit des Körpers und der anschließenden Veredelung steckt nichts anderes als eine Portion mittelalterliche Mystifizierung, in der die Gebrechen des Körpers infolge von Armut und Entbehrung zur heiligen Askese umgedeutet wurden. In letzter Konsequenz schließt diese spirituell interpretierte Nähe zu Gott auch den Tod ein. Auch gegenaufklärerische Tendenzen im Katholizismus des 18. Jh. stellen besonders den weiblichen (!) Tod als Form heiliger Erlösung dar: „der Tod vollzieht an den Frauen eine Heiligung, indem er sie auswählt. Sie wird von den Frauen in einer Demutsgeste entgegengenommen“ (Irmgard Wirtz).
Dies sei allen Kritiker ans Herz gelegt, die vermuten, dass sich von Trier in „Melancholia“ zum ersten Mal wohlwollend mit seinen Frauenfiguren beschäftigt. Tatsächlich tauchen in „Melancholia“ mystische und anti-irrationale Konzepte auf, die man bei genauem Hinsehen ohne Ausflüge in die Geschichte der Gegenaufklärung, der Wunder und Mirakel, erkennen kann. Dass in diesem Konzept auch Figuren mit einer explizit rationalistischen Perspektive zu den Verlierern gehören, überrascht dann auch nicht wirklich: Kurz vor dem Ende wird sich John, der Rationalist, per Suizid kommentarlos aus dem Film verabschieden, während sich die depressive Mystikerin Justine nackt (w.o.a.: Demutsgeste) dem Licht des todbringenden Planeten aussetzt: der Tod als verklärte Erlösung. Die Apokalypse in letzter Konsequenz als göttliches Strafgericht.

Wenn neben dieser verschwurbelten Mystik überhaupt etwas Menschliches in „Melancholia“ zu sehen ist, dann ist es das Ende: Justine baut aus Ästen eine „magische Höhle“, um Leo zu beruhigen und zu dritt warten dann alle auf den Untergang. Trotz des empathischen Endes bleibt unterm roten Strich aber nicht viel Versöhnendes zu berichten, denn die Message des Films bleibt: die Welt ist schlecht, in jeder Beziehung am Ende und das Ende wird genüsslich zelebriert, es ist etwas Heiliges im Verfall – und in der fast spirituellen Aufwertung der Depression zu einer fast prophetisch klaren und asketischen Sicht auf die Dinge zeigt uns der narzisstische Autor des Films aber offenbar auch, dass ihm dieses Attribut ebenfalls zusteht.
Und so steht auch nicht Claire im Mittelpunkt des zweiten Teils, sondern es ist weiterhin Justine, deren Veränderung den mentalen Verfall der Schwester benötigt, um sich zu spiegeln und zur eigentlichen Bestimmung zu finden. So als möchte er sich selbst Mut machen, lässt von Trier seine Hauptfigur klarer, beherrschter und kälter werden. Die innere Leere soll sich gefälligst im völligen Zusammenbruch des Äußeren niederschlagen und der Weg dorthin ist einer, der den Menschen im Angesicht der Auslöschung veredelt. „Melancholia“ ist somit das Dokument zutiefst irrationaler und egomanischer Projektionen seines Machers.

Ein prätentiöser Film wird zum Problem der Filmkritik
Nun ist „Melancholia“ unisono von der Kritik gefeiert worden. Ob dies als Reaktion auf das Cannes-Spektakel um Lars von Triers’ Hitler-Äußerungen gewertet werden kann, ist eigentlich nicht so wichtig. Der Regisseur hat in einem durchaus glaubwürdigen Interview erklärt, welche sprachlichen Konnotationen ihn getrieben haben.
Mehr als von Triers’ politische Entgleisung haben mich die sprachlichen Verirrungen einiger Kritiker aus den Socken gehauen. „Bildgewaltig“ und „emotional schonungslos“ nannte ein Kritiker den Film, andere lobten die „brillante Inszenierung“ und das „komplexe Drehbuch“.
Einige Adjektive wirken so, als seien sie einem sprachlichen Setzbaukasten entnommen worden, und dass angesichts der eher stereotypen Genremuster eines Familiendramas, das flüchtig und oberflächlich an Strindberg oder Bergman erinnert, inszenatorische Brillanz und Komplexität zu entdecken sind, wollte mir partout nicht einleuchten. Aber geschenkt.

Schlimmer ist da schon die Behauptung, von Trier führe den Zuschauer in die Bilderwelten der deutschen Romantik. Diese hat gewiss einiges mit dem Tod und seiner Ästhetisierung zu tun, aber ausgespart wird in der Interpretation eben auch, dass die Romantik die Sehnsucht nach einer Heilung der Welt verkörpert, eine Gemütsverfassung, die inneres Erleben metaphorisch in die äußere Wirklichkeit projizierte, und zwar in die Natur. Romantik auf Todessehnsucht herunterzubrechen, das ist purer Unsinn und zudem ein Klischee der oberflächlichen Sorte.

Es ist schon ein Dilemma: Kritik und Filmemacher stehen häufig in einer symbiotischen Beziehung. Letzterer liefert gerne ab, wonach Ersterer verlangt, aber auch umgekehrt scheint es gut zu funktionieren. Dann nämlich, wenn Filme Projektionsflächen für den Bildungsfundus des Kritikers bereithalten, aber bei näherer Hinsicht substanziell nichts von dem enthalten, was man in ihnen zu finden glaubt. Und wenn dann gar über die „revolutionierende Kraft des Weltuntergangs“ geschrieben wird, ohne auch nur anzudeuten, in welcher Beziehung Revolution und das absolute Nichts stehen, wird es richtig schwurbelig.

„Melancholia“ ist – im Gegensatz zu den geschilderten Mutmaßungen – zwar nicht kunstlos, in seiner Erzählweise aber angestrengt, egomanisch und prätentiös – und Letzteres bedeutet auch ‚unfreiwillig albern’. Im Kern ist „Melancholia“ eine Zumutung, die tief in den Fundus mystischer und gegenaufklärerischer Konzepte greift. Wem dies gefällt, der soll es sich anschauen. Allerdings sollte er wissen, mit was für einer geistigen Perspektive er es zu tun hat.

Zum Glück brauchen wir Lars von Triers Binnenschau nicht wirklich.
Wer einen Film über die Selbstauflösung in der Depression, den existenzielle Riss in unserer Existenz, die Todesnähe und die Einsamkeit in einer Welt ohne Gott sehen möchte, dem sei Ingmar Bergmans „Persona“ (1966) empfohlen. Das reicht.


Pressespiegel

„Am Ende weiß man selbst nicht mehr, was an dieser Welt noch rettenswert sein soll. Und als Melancholia schließlich den ganzen Himmel einnimmt, spürt man wie Justine vor allem eines: Erlösung. Gewaltigeres kann ein Film nicht leisten“ (Hannah Pilarczyk in: SPIEGEL ONLINE).

„Frei von Besserwisserattitüde liefert Melancholia eine Reflektion über die relativierende und zugleich revolutionierende Kraft des Weltuntergangs“ (Barbara Schweizerhof in: epd Film).

„Der filmhistorisch und filmografisch interessanteste Aspekt ist vielleicht die hier irreversibel erscheinende Umdeutung, der die Handkamerabilder der Hochzeitsepisode unterzogen werden. Denn von Trier gesteht mit ihrem Einsatz in einer albtraumhaften Versuchsanordnung implizit ein, dass diese Bilder der angeblich realistischen Vorzeichen nicht mehr dazu taugen, der Lage der Welt habhaft zu werden. Wenn sie etwas können, dann ist es eine Vergangenheit und Rohheit zu evozieren, die maßgeblich durchs Kino geschaffen wurde“ (Frédéric Jaeger in: Critic.de).

„Mit seinen jüngsten Filmen und Wortmeldungen hat sich Lars von Trier strategisch abseits eines aufgeklärt-rationalen Konsenses positioniert...In Antichrist brach er mit Freud und der Psychoanalyse, um diese durch eine Art paganistische Naturlehre von der Geschlechterdifferenz zu ersetzen, Höhlenbildnisse inklusive. Melancholia vertritt nun einen ästhetischen Totalitarismus, der den Zusammenhang von Form und Inhalt radikal aufgekündigt hat...Antichrist und Melancholia markieren einen vorläufigen Bruch mit der Tradition des europäischen Autorenkinos – weniger in ihrer antibürgerlichen Einstellung denn in formaler Hinsicht“ (Andreas Busche in: Freitag).

„Wem immer der Austritt des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit etwas bedeutet, dem macht Lars von Trier einen dicken Strich durch die Rechnung. Dafür wird der dänische Filmemacher gerade unter Leuten bewundert, die sich als progressiv verstehen. Ein wiederkehrendes Muster in der Rezeption seiner Filme ist, dass man betont, sich auf diesen reaktionären Quatsch eigentlich gar nicht einlassen zu wollen, dann aber von der Virtuosität der kinematografischen Mittel überwältigt wird. In dieser Perspektive ist das Kino Lars von Triers der Ort, an dem sich all die antimodernen Regungen austoben dürfen, die wir sonst verdrängen...“ (Christina Nord in: taz.de).