Samstag, 26. Oktober 2019

Joker

The Same As It Ever Was – Todd Phillips Film über die Vorgeschichte des berühmten Gegenspielers des DC-Comic-Helden Batman hat zu einem Rauschen im Blätterwald geführt und auch zu bizarren öffentlichen Debatten über Gewalt und Kunstfreiheit im Kino.
Man kann sich angesichts der ganzen Aufregung also darauf verlassen, dass der Film ziemlich gut sein muss. 
Ist er auch, bloß sollte man im Kino besser kein Prequel der Batman-Filme erwarten. „Joker“ ist eine tiefschwarze und deprimierende Tragödie mit einem Joaquin Phoenix in absoluter Höchstform. Wer allerdings die Origin Story des Joker sucht, sollte dies besser in den Comics tun.


Ganz am Anfang zieht Joaquin Phoenix seine Mundwinkel zu einem breiten Grinsen hoch. Am Ende des Films wird er dieses Grinsen mit Blut nachzeichnen. Dann ist er der Joker und das Grinsen ist sein Markenzeichen. Auf dem Weg dahin muss er aber wahnsinnig werden und wie dies geschieht, ist eine brillante darstellerische Leistung von Joaquin Phoenix. Der spielt aber nicht die Rolle seines Lebens, denn das hat er schon mehrmals getan. Aber erneut wirft er alles in seine Darstellung des Arthur Fleck hinein, was er zu bieten hat. Inklusive einer Hungerkur, mit der er 25 Kilo abspeckte.


Das Lachen des Arthur Fleck

Joaquin Phoenix spielt diesen Mann als einen traurigen Menschen, der auf schräge Weise eine tiefe Empathie für andere empfindet. Zum Joker wird Fleck erst viel später. Ganz am Anfang ist er ein professioneller Clown, der sich für Werbung, Kindergeburtstage und sonstige Aktivitäten anheuern lässt. Dort bringt er Menschen zum Lachen. Aber wenn er andere zum Lachen bringt, will er sich damit auch selbst retten. Seine Würde, den Wunsch nach Anerkennung und seine Träume verbindet er mit dem Lachen der anderen. Auch deshalb will Arthur Fleck ein erfolgreicher Comedian werden, ein Künstler, der andere glücklich macht.

Selbst lachen kann er nicht, obwohl er viel lacht. Es ist ein Lachen, das glucksend hochsteigt und sich wie ein Tourette-Anfall nicht mehr beenden lässt. Flecks Lachen ist nicht witzig, es ist beängstigend. Er lacht, wenn er Angst hat, verzweifelt ist oder etwas aufs Tiefste verabscheut. Als er in einer S-Bahn mit harmlosen Späßen ein Kind zum Lachen bringt, fährt ihn die Mutter an, er solle das Kind nicht belästigen. Ein neuer Lachkrampf beginnt. Für solche Fälle hat Fleck eine Art von Visitenkarte, auf der zu lesen ist, dass er an einer neurologischen Störung leidet und sein Lachen ein Zwang ist.
Aber Fleck lebt nicht in einer Welt, die empathisch ist.
Todd Phillips zeigt in „Joker“ einen gesellschaftlichen Außenseiter in einer Stadt am Rande des Niedergangs. Die Ratten beherrschen Gotham City, die Straßen sind vermüllt, die Menschen sind aggressiv – und sie lachen auch nicht. Gleich am Anfang reißen Jugendliche Fleck eine Werbetafel aus den Händen, die flanierende Menschen in ein Geschäft locken soll. In seinem Clownskostüm rennt Fleck den Kids hinterher, es sind bizarre Bewegungen, die grotesk großen Clownsschuhe behindern ihn. In einer Nebengasse wartet man bereits auf ihn, die Jugendlichen schlagen und treten auf ihn ein. Das ist die Welt, in der Arthur Fleck lebt. Er beginnt immer dann zu zu lachen, wenn sie grausam wird.

Wenn er anderen Comedians zuschaut und deren Pointen aufschreibt, ist sein Lachen in seiner berstenden Lautheit beinahe wütend, fast schon obszön. Arthur Flecks Lachen ist aber das Menschlichste an dieser Figur und nicht ein Ausdruck von Bosheit oder des radikal Bösen, wie es der Kritiker Daniel Haas postulierte: „Das Gelächter des Jokers kommt ohne Agenda aus. Der exzentrische Kinofiesling traditioneller Art orchestrierte mit seinem Lachen die Freude an der eigenen Gemeinheit. Dem verblüfften Publikum wurden die Pläne zur Weltbeherrschung dargelegt, dazu erklang der Soundtrack narzisstischer Bosheit: Har, har, har, was habe ich euch angetan!“
Von Weltbeherrschung ist in Todd Phillips Film allerdings nichts zu spüren. Selbst als die Straßen von Gotham City brennen und Fleck als Symbolfigur der gewalttätigen Aufstände vom Clownsmasken tragenden Mob gefeiert wird, kann sich Arthur, der nun „Joker“ genannt wird, nicht anders helfen, als auf einem Autodach vor den frenetisch Tobenden einen hilflosen Tanz aufzuführen. Aber der Kritiker der Neuen Zürcher Zeitung will den Joker um jeden Preis zum Super-Nihilisten umdeuten, als Generalangriff auf die „Praxis des geordneten Denkens“. Aus seiner Sicht ist der Joker „kein psychiatrischer, sondern ein epistemologischer Fall.“ Fast glaubt man, dass Haas im falschen Film war.

Denn der Joker ist tatsächlich ein psychiatrischer Fall, nicht aber der große Zerstörer der Erkenntnistheorie. Man kann diese Figur vom Anfang bis zum Ende des Falls so betrachten, denn das Lachen des gequälten Arthur Fleck hat eine Agenda und dazu noch eine verstörende Backstory. Zusammen mit Regisseur Todd Phillips erarbeitete sich Joaquin Phoenix monatelang dieses Lachen: es ist das Elendsgelächter („affliction laugh“), das einer-unter-vielen-Lachen („one of the guys laugh“) und das Lachen aus Freude („authentic joy“), wobei Letzteres garantiert zu den Ausnahmefällen gehört. Und vielleicht gehört es zum verborgenen Wesen dieses Films, dass er die conditio humana einem traumatisierten, gequälten und psychisch schwerkranken Clown anvertraut.

Das Lachen des Arthur Fleck ist nämlich nicht nur seine Qual, sondern auch sein Urteil über die Welt, in der lebt. Auch für den Zuschauer, wenn er verstanden hat, wofür es steht. Es definiert die Baustellen, die Flecks Existenz bestimmen: seinen Beruf, die Gewalt auf den Straßen, seine Mutter, die Frauen, die zunächst imaginierte Beziehung zum Talkmaster Murray Franklin (Robert De Niro) und die Gespräche mit den meist hilflosen Vertretern des kollabierenden Sozialdienstes von Gotham City. 

Die aber können dem traurigen Clown am Ende nicht mehr helfen, denn die marode Stadt hat kein Geld mehr und Fleck werden die Medikamente gestrichen. Die hat er bitter nötig, denn irgendwann erfahren wir, dass Fleck ein schwer traumatisierter Mann ist, der als Kind von seiner psychotischen Mutter Penny (Frances Conroy) an die Heizung gekettet und von deren nicht minder gestörten Liebhabern missbraucht und misshandelt wurde. 

Mit seiner Mutter lebt er trotzdem zusammen, er sorgt liebevoll für die alte Frau, was doch sehr auf eine gewaltige biografische Verdrängungsleistung hindeutet. Ohne Pillen ist das schwer zu stemmen, ohne Medikamente gerät Flecks Leben aber endgültig aus den Fugen. Auch weil seine Mutter sich eine lange zurückliegende Affäre mit dem reichen Thomas Wayne (Brett Cullen) zusammenfabuliert. Nun glaubt Arthur, er sei der Sohn Waynes. Doch einiges deutet darauf hin, dass Arthur von Penny adoptiert wurde und Penny nicht einmal seine leibliche Mutter ist. Daraufhin tötet Arthur die alte Frau. Es ist - psychologisch betrachtet – der Höhepunkt des Films. Komischerweise wurde er von den deutschen Kritikern nicht beachtet.

Arthurs Odyssee durch eine aus den Fugen geratene Welt ist so gesehen auch die Suche nach dem verlorenen Vater. In Murray Franklin, dem beliebten Talkmaster einer Late-Night-Show scheint er einen gefunden zu haben. Doch dies ist bereits ein Symptom des fortschreitenden geistigen Verfalls, in dem sich auch der soziale Zerfall von Gotham City widerspiegelt. Die Schere zwischen Reich und Arm wird immer größer, das Sozialsystem zerbricht und im Fernsehen macht sich Thomas Wayne als rechtspopulistischer Ideologe über die Armen lustig. Er nennt sie Clowns. Bürgermeister will er trotzdem werden und von Batman ist weit und breit noch nichts zu sehen.

Es gehört zu den Kunstgriffen Todd Phillips, seiner filmischen Fiktion den Realitätscharakter subversiv zu entziehen. Ganze Sequenzen des Films entpuppen sich als Tagträume Arthurs (übrigens auch von vielen Kritikern ignoriert), so auch ein Auftritt in Franklins Shows, in der der Talkmaster seinen Gast liebevoll in den Arm nimmt. Dies steigert den Alptraum eines tiefschwarzen Films, der nicht leicht zu ertragen ist. Auch die intime Beziehung zu seiner Nachbarin Sophie (Zazie Beetz) ist nur die Phantasie eines Mannes, der unmittelbar vor seinem Zusammenbruch steht. Besser kann man den sich langsam einschleichenden Wahnsinn nicht spürbar machen. Großes Kino ist das allemal.

Als Fleck von einem Kollegen einen Revolver erhält, um sich besser wehren zu können, wird die Waffe ihn seinen Job kosten. Aber als er erneut überfallen wird, diesmal von drei hippen Anzugträgern, wehrt er sich zum ersten Mal. Fleck, immer noch im Clownskostüm, bringt alle drei um und löst damit gewalttätige Aufstände aus, die dem gescheiterten Clown fremd bleiben. Eine politische Agenda hat er nicht. Ihm bleiben nur noch seine Mutter, seine Phantasien und die distanzlose Bewunderung des Talkmasters Franklin Murray. Als Franklin das Handyvideo eines absurden Auftritts Arthurs in einer Talentschau zugespielt wird, nutzt er es in seiner Show für einige billige Gags. Arthur wird über Nacht berühmt und kurz danach lädt ihn Franklin in seine Show ein. Arthur sagt zu, will aber von Franklin als „Joker“ vorgestellt werden. Es ist der Beginn seiner Verwandlung. Denn ganz am Ende ist nichts befreiender als der Wahnsinn.


Die Vorbilder des Arthur Fleck

Gotham City wird in Todd Phillips Film als fiktionale Comic-Landschaft seinem Wesen nach von einer gewissen Zeitlosigkeit durchdrungen. Gedreht wurde in New York. Einiges in dem Film, wie zum Beispiel die Fahrzeuge, scheint auf die 1980er Jahre zu verweisen. In den Kinos läuft Antonionis „Blow Out“. Flecks Heimatstadt benötigt für seine Tristesse aber keine konkrete historische Epoche.
In den DC-Comics existieren Gotham City und die Figur des Jokers bereits seit Anfang der 1940er Jahre als Sinnbild von Chaos und Anarchie, und in einem unausgesprochenen Einverständnis zwischen den Erzählern und den Lesern der Graphic Novel war und blieb Gotham City ein Synonym für New York, aber auch für die Geschichte von Batman und Joker. Seine erste eigene Origin Story erhielt die Comicfigur mit dem fratzenhaften Lachen 1951 in den „Detective Comics # 168“. Es blieb nicht die Letzte. Todd Phillips Film ist sozusagen ein Patchwork verschiedener Geschichten, die auch rudimentär in seinem Film auftauchen.

Dass „Joker“ nicht nur durch diese Comics einen Referenzrahmen erhält, sondern auch durch seine unübersehbaren Verweise auf Filme wie Martin Scorseses „Taxi Driver“ (1976) und seine 1982 entstandene Tragikomödie „The King of Comedy“, erweitert den Film zu einem intertextuellen Resonanzboden. Tatsächlich verwendet Arthur Gesten von Travis Bickle (Robert De Niro) aus „Taxi Driver“ und auch De Niros berühmte You talkin’ to me?-Szene wird er persiflieren. Wenn Fleck mit dem Revolver vor dem Fernseher hantiert, geht der Schuss aber in die Decke.

Todd Phillips (
Hangover 1-3) selbst hat einen anderen Film als Referenz genannt: Paul Lenis legendären Stummfilm „The Man Who Laughs“ (Der Mann, der lacht, USA 1928), in dem Conrad Veidt den durch einen chirurgischen Eingriff verunstalteten Gwynplaine spielt, einen Mann, der verurteilt ist, mit einem irren Grinsen zu leben. Die Figur des Gwynplaine wurde 1940 in den DC-Comics auch die Vorlage für die Figur des Jokers.

Aber trotz dieses Verweises ist Todd Phillips Joker unübersehbar eine gegen den Strich gebürstete Version von Rupert Pupkin, der in Martin Scorseses „The King of Comedy“ ebenfalls von De Niro gespielt wurde. Der Film floppte an der Kasse, vielleicht weil Robert De Niros Figur dem Zuschauer mehr Angst einjagte als sein traumatisierter Taxi Driver. Wie auch Arthur Fleck will Pupkin ein berühmter Comedian werden und wie Fleck hat er ein Vorbild – bei Pupkin ist es der erfolgreichen Showmaster Jerry Langford (Jerry Lewis). Pupkin ist im Gegensatz zu Arthur Fleck ein extravertierter Mann, eine Quasselstrippe, dessen manierierte Höflichkeit nur von der Hartnäckigkeit übertroffen wird, mit der er Langford stalkt und schließlich gewaltsam entführt, um einen Auftritt in dessen Show zu erpressen.
Todd Phillips hat sich also kräftig bei Martin Scorsese bedient, „Joker“ ist beinahe ein Plagiat. Auch Pupkin lebt mit seiner Mutter zusammen (die man nie sieht), und auch Pupkin inszeniert sich selbst und seine Beziehung zu Langford in Tagträumen wie es Arthur Fleck tut. Robert De Niro spielte diesen narzisstischen Psychopathen dabei so exzessiv gut, dass man noch heute spürt, wie leicht die Schwelle zum Wahnsinn zu überschreiten ist, wenn kauzige Marotten und manische Charakterzüge im Laufe der Zeit pathologisch werden.

Joaquin Phoenix ist aber nicht Rupert Pupkin und Todd Phillips ist nicht Martin Scorsese. Im Gegenteil. Scorseses Film spiegelt fast 40 Jahre später immer noch glaubwürdig den irrealen Hype um TV-Stars und ihr öffentliches Image wider (tatsächlich lacht der von Jerry Lewis gespielte Komiker privat nie), während Phillips seine Figur ins Chaos marschieren lässt und dabei keine Medienkritik erkennen lässt. Scorseses irre Hauptfigur passt dagegen ganz gut in die Medienwelt, am Ende geht er zwar in den Knast, wird aber dadurch endgültig zum Star. Arthur Fleck will dagegen in die Show des Talkmasters Murray Franklin, um sich dort umzubringen. Das tut er nicht, trotzdem gerät der Auftritt des Jokers in Murray Franklins Show deutlich blutiger als der von Rupert Pupkin. Während Jerry Lewis vergeblich vorschlug, dass seine Figur getötet wird, erfüllt ihm Todd Phillips diesen Wunsch quasi posthum.
Während also in „The King of Comedy“ der komödiantische Grundton die Tragödie überdeckt, aber nicht verschwinden lässt, ist in Phillips „Joker“ die Tragödie eine andere. „Ich dachte, dass mein Leben eine Tragödie ist“, sagt Arthur Fleck, während er seine Mutter mit dem Kissen erstickt, „aber es ist eine Komödie.“ Bloß keine, über die man noch lachen kann.



Die Gewalt des Arthur Fleck

„Joker“ hat erdbebenartige Debatten ausgelöst, nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA. Sie entwickelten gerade skurrile Züge. Einige Kritiker sahen in Phillips Film eine anti-kapitalistische Kritik. Begründungen für diesen sozialkritischen Kontext muss man aber in seiner Phantasie herstellen, der Film gibt es nicht her, er zeigt nicht das, was man gerne sehen möchte. 
Also eine Kritikerphantasie, ebenso wie die Vermutung, dass Todd Phillips das Trump’sche Amerika im Fokus hatte. Auch das ist nicht der Fall, obwohl Phillips die Figur des Thomas Wayne im Gegensatz zu anderen Filmen, etwa bei Christopher Nolan, nicht als Wohltäter, sondern als zynischen Rechtspopulisten skizziert. Aber auch dieser Rückschluss ist ein Kurzschluss.

Geradezu erschreckend war eine bizarre Kausalkette. Sie beginnt 2012, als in Aurora, Colorado, ein Mann in einem Kino 12 Menschen erschießt und 70 verletzt. Gezeigt wurde „The Dark Knight Rises“ und der Täter habe, so hieß es, sich mit dem Joker identifiziert. Ein Film kann also unmittelbar Gewalt auslösen. 

Kommen wir nun von der Ursache zu den Wirkungen. Die Hinterbliebenen der Opfer von Colorado sahen nun – obwohl es in den letzten Jahren an gewaltaffinen Filmen nicht mangelte – im neuen Joker-Film eine unmittelbare Wiederholungsgefahr und forderten von Warner Bros. in einem offenen Brief eine klare Positionierung gegen die Verbreitung von Waffen, vermittelten aber auch die Sorge, dass der aktuelle Joker-Film einen weiteren verrückten Amokläufer auf den Plan rufen könne.

Diese emotional nicht unberechtigten, aber kausal nicht verifizierbaren Zusammenhänge zwischen Film und Gewalt scheiterten letztlich an den Fakten: der Amokläufer von Aurora hatte sich nämlich nie auf den Joker bezogen. Und so musste DIE ZEIT, die ausführlich über das sich heftig entladende Erregungspotential berichtet hatte, nachträglich einen Recherchefehler einräumen: auch sie hatte die Mär vom Joker-Epigonen übernommen. Und nicht zu vergessen ist: in „The Dark Knight Rises“ spielt der Joker überhaupt keine Rolle. Stoppen konnte dies die landesweite Paranoia nicht. Beim Start von Todd Phillips Film wurde landesweit die Polizei auf den Plan gerufen.

An dieser Stelle soll nun keine Debatte über Kino und Gewalt geführt werden. Auch nicht darüber, dass in den USA die Angst grassiert, dass die
„Incels" (so werden junge, weiße Männer genannt, die sich als unfreiwillig zölibatär Lebende darüber beklagen, dass sie von Frauen ignoriert werden und daher keinen Sex haben können) wieder zu den Waffen greifen. Ein Incel erschoss 2016 sechs Menschen, lud ein Bekennervideo hoch und wurde in den Untiefen des Internet zu einer Gallionsfigur der Bewegung.
Man sollte schon darüber nachdenken, dass wir in Zeiten leben, in denen die allgemeine Erregtheit eine sachliche Debatte kaum noch zulässt.
„Es hat den Anschein, dass eine Gesellschaft, die daran gewohnt ist, die Welt wie in Superheldenfilmen in Gut und Böse aufzuteilen, nicht mehr fähig ist, eine moralisch zwiespältige Figur zu verkraften", schrieb Marten Hahn in der WELT. Und so schießen Theorien ins Kraut und werden in den Social Media multipliziert. Und es werden Kausalitäten beschworen, die keine sind. Dazu gehörte auch die Geschichte, dass Zuschauer schreiend das Kino verließen, als sie die Gewaltszenen in „Joker“ sahen. Kommuniziert wurde dies über Twitter und damit wurde es zur Tatsache.

Gewaltfrei ist „Joker“ nun wirklich nicht, aber mit „Rambo: Last Blood“ dürfte er es nicht aufnehmen können und auch nicht wollen. Es gibt vier mehr oder weniger explizite Gewaltszenen in dem Film. Zum einen erschießt Arthur Fleck drei Hipster, die ihn wegen eines Lachanfalls brutal zusammenschlagen. Zwei Täter werden im U-Bahn-Abteil erschossen, den dritten verfolgt Fleck auf dem Bahnsteig und richtet ihn regelrecht hin. Das erinnert weniger an
Death Wish", sondern eher an The Brave One.
Dann bringt Fleck seine Mutter um und später auch seinen ehemaligen Kollegen Randall (Glenn Fleshler), der ihm einige Wochen zuvor einen Revolver gegeben hatte. Der Mord an Randall ist der brutalste. Die letzte Tat folgt dann in der Late-Night-Show von Murray Franklin, in der Fleck endgültig zum Joker wird.
Darüber kann man diskutieren, auch darüber, dass einige Kinogänger
„Joker“ aus den falschen Gründen lieben. Aber auch diese Deutungshoheit sollte niemand für sich beanspruchen. In „Joker“ markieren alle Taten im Kontext von Arthur Flecks psychischer Dekompensation jeweils einen folgenrichtigen Punkt seiner Entwicklung. Sie erreichen aber an keiner Stelle jene Intensität der Gewalt, die in Martins Scorseses „Taxi Driver“ noch heute spürbar ist. Ein eilig zusammengestrickter Angriff auf die Kunstfreiheit wird uns also nicht zu besseren Menschen machen, auch nicht, wenn wir den blutrünstigsten Erzähler der letzten 2000 Jahre verbieten: William Shakespeare.

Am Ende wird es beliebig

„Joker“ gewann vor einigen Wochen bei den Filmfestspielen von Venedig den Goldenen Löwen. Das aktuelle Einspielergebnis liegt bei 745 Mio. Dollar bei einem Budget von 60 Mio. und Todd Phillips und mehr noch Joaquin Phoenix dürfen mit einiger Sicherheit eine Oscar-Nominierung erwarten.

Ein filmischer Meilenstein ist „Joker“ auf jeden Fall. Das liegt zuallererst an Joaquin Phoenix, der die seelische Demontage eines psychisch kranken Mannes mit einer Brillanz vor dem Zuschauer ausbreitet, dass es mitunter schwerfällt, den Film überhaupt auszuhalten. Depressiver war Kino seit langem nicht mehr. Berührender auch nicht.

Das liegt auch an den ästhetischen Qualitäten des Films. Die Kamera von Lawrence Sher, der bereits die „Hangover“-Trilogie von Todd Phillips filmte, fängt die Tristesse von Gotham City mit erdrückenden Bildern ein, genauso atmosphärisch wie er sich auch der Titelfigur auf intime Weise nähert. 

Getoppt wird das noch durch den Score der isländischen Cellistin und Komponistin Hildur Guðnadóttir, die bereits in „Sicario 2“ und noch eindrucksvoller in der Serie „Chernobyl“ zeigte, dass sie momentan der Shooting-Star der musikalischen Filmszene ist und zu Recht ebenfalls in Venedig ausgezeichnet wurde. 

Geradezu kontrapunktisch ist da schon der Soundtrack mit Songs von The Guess Who („Laughing“), Cream („White Room“), Jimmy Durante („Smile“), Gary Glitter („Rock & Roll Part II“). „Joker“ wird  auf einer zweiten Ebene nämlich zu einem Musikfilm, in dem Joaquin Phoenix mit Tanzeinlagen brilliert, während Fred Astaire „Slap That Bass“ singt. Die Treppe in der Bronx, auf der sich Arthur Fleck eingangs mühsam hochschleppt und die er als Joker federleicht heruntertanzt, ist mittlerweile eine Touristenattaktion. Überhaupt geht es in „Joker“ musikalisch geradezu provozierend lustig zu, wenn man nicht gerade von Hildur Guðnadóttirs rabenschwarzen Klangteppichen deprimiert in den Kinosessel gedrückt wird.
Als Psychodrama ist „Joker“ ein hochemotionaler und beeindruckender Film geworden. Die Leiden des Arthur Fleck sind nämlich jenseits der pathologischen Aspekte zutiefst menschlicher Natur. Es ist nicht die Verzweiflung eines Einzelfalls, Fleck ist vielmehr ein Resonanzboden, der die gesellschaftlichen und sozialen Verwerfungen verstärkt, vor denen sich viele fürchten und denen man im Kino lieber aus dem Weg gehen möchte. Wer dies will, sollte sich den Film nicht anschauen.

Andere Formen der Sinnentnahme sehe ich nicht. Wer den Film projizierend und symbolisch deutet und es daher provozierend findet, dass ein Song von Gary Glitter in dem Film auftaucht, einem Musiker, der wegen des Besitzes von Kinderpornografie verurteilt wurde, kann ihn natürlich als Symbol eines zivilisatorischen Shutdowns erleben. Und zwar aus zwei Perspektiven: entweder kritisiert der Film die gesellschaftliche Verfasstheit oder er gießt lustvoll Öl ins Feuer und beschleunigt das Verfahren. Das ist legitim, aber nicht originell. Es gehört nämlich zur Natur des Symbols, dass es durch Abnutzung eben keine tiefere Wahrheit repräsentiert, sondern zum Klischee wird.

Todd Phillips Idee war eine „tiefgehenden Charakterstudie und der Wunsch, sich Comics auf neue Art und Weise zu nähern (…) Warum der Joker? Weil der Joker in meinen Augen für Chaos steht. Und auf eigenartige Weise auch für Freiheit. Und da ist wieder die Verbindung zu den Themen, die ich in meinen Komödien erkundet habe.“

Leider fehlte Todd Phillips ganz zum Schluss die Konsequenz. Als der Joker während der Riots in Gotham City von der Menge gefeiert wird, lacht niemand. Gefeiert wird mit Emphase und tödlichem Ernst der neue Robespierre einer Freiheit, die sich in Chaos verwandelt.
In einer Nebengasse werden gerade Thomas Wayne und seine Frau ermordet, der junge Bruce Wayne schaut verzweifelt zu. Der tanzende Joker auf dem Autodach - das wäre eine passende Schlussszene gewesen. Aber Philipps hängt noch eine laue Pointe an dieses wuchtige Bild dran, und die letzte Einstellung dürfte wohl die meisten Zuschauer verwirren. Kein Wunder: die Slapstick-Szene ist direkt aus „The King of Comedy“ geklaut. Ein Witz ohne Pointe.

Noten: BigDoc = 1,5

Joker – USA 2019 – Regie: Todd Phillips – Buch: Todd Phillips, Scott Silver – Kamera: Lawrence Sher – Score: Hildur Guðnadóttir - Laufzeit: 122 Minuten – FSK: ab 16 Jahren – D.: Joaquin Phoenix, Robert De Niro, Zazie Beetz, Frances Conroy, Brett Cullen, Glenn Fleshler u.a.