Sonntag, 13. Oktober 2019

„El Camino: A Breaking Bad Movie“ - die Geschichte wird weitererzählt

Im November 2018 fanden in Albuquerque geheimnisvolle Dreharbeiten für einen Film mit einem nichtssagenden Arbeitstitel statt. Als erste Gerüchte über eine Beziehung des Projekts zur Erfolgsserie „Breaking Bad“ in Umlauf kamen, war alles bereits abgedreht.
Tatsächlich hatte sich „Breaking Bad“-Schöpfer Vince Gilligan im Geheimen einen Herzenswunsch erfüllt. Mit „El Camino: A Breaking Bad Movie“ wird pünktlich zum 10. Geburtstag seiner Mega-Serie (2008-2013) die Geschichte weitererzählt. Diesmal für Netflix. Im Mittelpunkt steht die Geschichte von Jesse Pinkman, der rechten Hand des toten Drogenbosses Walter White. Eine rundum überzeugende Geschichte ist dabei nicht entstanden, dafür aber einige schöne „Breaking Bad“-Momente.


Etwas Leerlauf, aber auch schöne Momente

In der letzten Folge von „Breaking Bad“ flieht Jesse Pinkman (Aaron Paul) mit einem Auto vom Schauplatz eines Massakers. Walter White (Bryan Cranston) hat zuvor die Aryan Brotherhood-Gang um Jack Welker (Michael Bowen) und seinen Neffen Todd (Jesse Plemons) mit einem M60-Maschinengewehr liquidiert, wobei Walter den Gangleader Jack eigenhändig erschießt, während Jesse dessen soziopathischen Neffen erwürgt. Zuvor wurde Jesse monatelang von der Gang in einem unterirdischen Käfig gefangen gehalten.

„El Camino: A Breaking Bad Movie“ setzt diese Geschichte fast nahtlos fort. Einleitend sieht man zunächst eine kurze Szene, in der sich der
„Cleaner“ Mike Ehrmantraut (Jonathan Banks) und Jesse darüber unterhalten, wie sie aus Walter Whites Drogen-Imperium aussteigen können. Mike rät Jesse, sich mit seinem Geld nach Alaska abzusetzen. Ein Flashback, der das Ende bereits ankündigt.
Danach geht es mit Jesses Flucht weiter, ausgerechnet mit Todds El Camino. Jesse fährt in eine ungewisse Zukunft. Und die sieht nicht gut aus. Er ist in allen Nachrichten, die Polizei und die DEA suchen ihn fieberhaft. Jesse muss nicht nur untertauchen, sondern mit völlig neuer Identität eine neue Existenz beginnen. In etwa das, was auch Jimmy McGill aka Saul Goodman (Bob Odenkirk) im Spin Off „Better Call Saul“ versuchen wird.

Zuschauer, die sich mit „Breaking Bad“ nicht auskennen (ja, es gibt tatsächlich welche!), werden mit „El Camino: A Breaking Bad Movie“ nicht viel anfangen können. Zumal die Kinoversion keine Kompromisse macht und sich klar erkennbar an die Aficionados der Mutterserie richtet. Und die interessieren sich natürlich dafür, welche Figuren aus dem „Breaking Bad“-Kosmos zu sehen sind.
 Eine ganze Menge. Bryan Cranston ist in einem kurzen Auftritt als Walter White zu sehen. Auch Jesses tote Freundin Jane Margolis (Krysten Ritter) bekommt einen kurzen Auftritt. Sogar die für das Comic Relief zuständigen Dealer Skinny Pete (Charles Baker) und Badger (Matt Jones) sind mit von der Partie. Sie helfen Jesse dabei, den verdächtigen El Camino zu entsorgen und outen sich dabei als selbstlose Samariter.
Insgesamt zehn Figuren der Mutterserie tauchen in „El Camino: A Breaking Bad Movie“ auf. Die müssen in der Geschichte untergebracht werden. Und die kommt vielleicht auch deshalb eher schleppend in Fahrt, denn mit Walter White fehlt der Figur des Jesse Pinkman der Resonanzboden. Und damit entfallen auch die aggressiv-zynisch-freundschaftlichen Dialoge, in denen die Hassliebe dieser zwei unterschiedlichen Männer zum Herzstück von „Breaking Bad“ wurde.


Zwischen Sarkasmus und Grausamkeit

Und natürlich muss man auch auf die komplexen Topics verzichten, die von den berühmten Cold Open über die hintergründigen Handlungsbögen Vince Gilligans Serie zu einer Perle der Serienkunst gemacht haben. „El Camino: A Breaking Bad Movie“ ist dagegen eine gradlinige Fluchtgeschichte, die fast zwangsläufig auf ein versöhnliches Ende zuläuft.
Jesses Geschichte wird allerdings nicht linear erzählt. In einigen Flashbacks werden seine traumatischen Erfahrungen im Kerker mit einigen neuen Episoden aufgepeppt, in denen Jesse Plemons als Todd Alquist wieder schön-schauerlich den saufreundlichen und empathischen Bösewicht gibt, dessen tiefschwarze Seele sich hinter einem harmlosen Jungengesicht verbirgt. Denn Todd hat seine innig verehrte Putzfrau ermordet, weil diese sein Geldversteck entdeckte, und nun holt er Jesse aus seinem Verließ, um die Leiche in der Wüste von New Mexico zu entsorgen: „An einem schönen Ort, das hat sie verdient.“

Das sorgt für einige schöne Breaking Bad“-Momente zwischen Sarkasmus und Grausamkeit, auch weil Jesses Traumata mit schwarzem Humor serviert werden. Das Zwischenspiel mit Todd bremst die fast zweistündige Geschichte allerdings ein wenig aus. Aber Gilligans Narrativ reiht diese speziellen Momente recht gekonnt aneinander. Die Mischung aus skurrilem Humor und emotionalem Drama macht daher aus einer nicht gerade originellen Kernstory eine passable Nostalgieshow, in der sich Jesse mit den Ganoven Neil (Scott MacArthur) und Casey (Scott Shepherd) herumschlagen muss, die in Todds alter Wohnung nach dessen Geldversteck suchen. Jesse redet sich aus der tödlichen Situation heraus und erhält sogar ein Drittel der Beute.
Mit dem Geld will er sich beim vermeintlich harmlosen Staubsaugerverkäufer Ed Galbraith (Robert Forster starb nach Beendigung der Dreharbeiten an einem Hirntumor) eine neue Identität kaufen. Ed ist der geheimnisvolle „Disappearer“, der bereits in der Mutterserie Walter White geholfen hatte. Da aber das Geld nicht ausreicht, muss sich Jesse bei Neil einen Nachschlag besorgen. Dies führt zu einem tödlichen Shootout.

Über weite Strecken ist das nett anzusehen, aber zum Glück hat Vince Gilligan in seinem Epilog nichts zu erzählen, was die Mutterserie in einem neuen Licht erscheinen lässt. Das ist auch die Rettung für einen Film, der „Breaking Bad“ so lässt, wie es ist. Also ein Epilog, in dem ein exzellent spielenden Aaron Paul alles zusammenhält, während einige nostalgische Schmankerl die Fans bei der Stange halten. 

Was „El Camino: A Breaking Bad Movie“ fehlt, sieht man in einer kurzen Szene, in der sich Walter White und Jesse Pinkman in einem Flashback über Jesses Zukunft unterhalten. Er solle doch aufs College gehen, meint Walter, BWL wäre genau das Richtige für ihn. Jesse denkt eher an Sport-Medizin. Ein pointierter Dialog, und schon hält man die Luft an. Denn das war der Spirit von „Breaking Bad“. Es hätte auch die Schlussszene sein können – und sie wäre tausendmal besser gewesen als das Ende, dass Vince Gilligan in „El Camino: A Breaking Bad Movie“ zeigt.



Beendete Geschichten weiterzuerzählen, funktioniert wie eine Beschwörungsformel

Ein Filmende unterscheidet sich auf eklatante Weise von einem Serienende. Im alten Kino, das wir gelegentlich zu später Stunde im TV sehen und das bestenfalls zum Wissensgebiet unermüdlicher Filmhistoriker und alternder Zuschauer gehört, gab es zwei Regeln: das Gute siegt und das Happy End beweist es. Unzufriedene Kinogänger bezahlten früher einen geringen Preis, nämlich das Gefühl, einen miesen Kinoabend verbracht zu haben. Und jene, die sich das Ganze heute als Wiederholung im TV anschauen, waren dagegen immer schon zufrieden mit dem Filmende und wie es sich anfühlte.

Eine Serie hingegen kostet Lebenszeit, und das nicht zu knapp. Klappt es nicht mit dem Ende, so zeigte es der Shitstorm nach dem Finale von „Game of Thrones“, rebellieren die Fans in digitalen Zeiten. Sie fühlen sich betrogen. 
Dabei spielt eine Serie wie kein anderes Erzählmedium ständig mit dem Ende der Geschichte. Jede Episode endet, aber nicht einfach so, sondern in der Regel elegant. Mit einem Cliffhanger, der die Zuschauer bei der Stange hält. Wenn der Cliffhanger schlimm ausfällt und eine Lieblingsfigur umgebracht wird oder sich in tödlicher Gefahr befindet, geht es zwar in der nächsten Folge weiter, aber man hat dennoch das Gefühl, mit etwas Unwiderruflichem konfrontiert worden zu sein. Es ist eine Vorahnung: so könnte sich auch das große Ende anfühlen.

Beendete Geschichten weiterzuerzählen, funktioniert daher wie eine Beschwörungsformel. Sie signalisiert, dass es doch ein Danach gibt, dass auch eine unglücklich zu Ende erzählte Geschichte immer noch wiederauferstehen kann, um korrigiert zu werden. Bei „Game of Thrones“ verlangten die Fans gar, dass die komplette letzte Staffel neu gefilmt werden müsse. Dies wird nicht geschehen, zeigt aber, worum es im Kern geht.

Und das lässt sich einfach auf den Punkt bringen: in prä-digitalen Zeiten gab es keine Foren, in denen man seine Wut loswerden konnte und auch noch auf Gleichgesinnte stieß. Bessere Zeiten waren dies nicht, sie waren einfach nur anders.
Heute dagegen akzeptiert man fiktionale Erzählungen und ihr Ende nicht mehr widerspruchslos. Die kreativste Form des Widerstands sind die zahllosen Versuche, auf Twitter oder YouTube Geschichten nach eigenem Duktus weiter- oder ‚richtig‘ zu erzählen. Post-Fiction wird dies genannt, und gelegentlich werden auch Zusammenhänge mit den Fake News hergestellt.

Ich möchte zur Post-Fiction lieber einen weiteren Aspekt hinzufügen. Zum Erzählen einer Geschichte gehörte seit jeher das Kopfkino oder meinetwegen auch das Kopfbuch. Zuschauer oder Leser konnten sich ausmalen, wie alles weitergeht. Irgendwie hat dies mit magischem oder mythologischem Denken zu tun, auf jeden Fall aber mit einer großen Portion Phantasie. Früher gehörte es zur Essenz der Rezeption, dass ein Werk (trotz einiger Ausnahmen) einen geschlossenen Charakter besaß. Nämlich weil der Autor irgendwann einen Punkt gesetzt hatte.
 Gegenwärtig hat man eher das Gefühl, dass diese Form von Respekt in Vergessenheit gerät.
Stattdessen macht sich die Mentalität einer Dienstleistungsgesellschaft breit, die von professionellen Erzählern verlangt, die Wünsche des Mainstreams zu erfüllen. Zum Teil werden diese Wünsche erfüllt. Im Kino tötet Quentin Tarantino nonchalant Adolf Hitler und korrigiert in „Once Upon A Time“ ein weiteres Kapitel der realen Geschichte. Es gibt Prequels wie „Better Call Saul“ oder Sequels, es gibt Spin Offs, in denen alle denkbaren Varianten einer Geschichte untergebracht werden. Und überhaupt ist das serielle Erzählen prädestiniert dafür, seine Erfolgsformel so oft zu variieren, bis die Quoten endgültig nach einem Ende verlangen. Natürlich sind dafür oft ökonomische Gründe verantwortlich, aber nicht nur. Angesichts dieses Überangebots an Varianten und Experimenten mit der Timeline kann man nachvollziehen, dass das Ende einer Serie eine heikle Angelegenheit ist.

Wenn also Vince Gilligan nicht die Geschichte, sondern das Ende von „Breaking Bad“ weitererzählt, so macht er sicher einige Fans glücklich, sich selbst wohl auch, und er gibt uns das Gefühl, dass wir unser Kopfkino nicht brauchen. Es sind keine großen Einschnitte, es ist ein Nachjustieren, das versöhnliche Nachbessern einer geschlossenen Serienwelt – und es endet nicht zufällig mit den gleichen Bildern. Während „Breaking Bad“ damit endet, dass ein halb wahnsinniger Jesse Pinkman in seinem Auto in eine ungewisse Zukunft rast, fährt er in „El Camino – ‚Breaking Bad‘-Film“ gelassen in ein glückliches neues Leben.
Wer bei diesen Bildern sein Kopfkino einschaltet, wird ahnen, dass Jesse auch im fernen Alaska seine Traumata nicht so leicht abschütteln wird. Man kann sein Kopfkino auch ausschalten und sich zufrieden zurücklehnen.


Note: BigDoc = 2,5


„El Camino: A Breaking Bad Movie“ (dts. El Camino – ein „Breaking Bad“-Film) – Netflix 2019 – Regie und Drehbuch: Vince Gilligan – Laufzeit: 122 Minuten – FSK 16 – D.: Aaron Paul, Jesse Plemons, Charles Baker, Matt Jones, Robert Forster, Krysten Ritter, Jonathan Banks, Bryan Cranston u.a.