Mittwoch, 25. Januar 2012

J. Edgar


USA 2011 - Regie: Clint Eastwood - Darsteller: Leonardo DiCaprio, Naomi Watts, Armie Hammer, Josh Lucas, Judi Dench, Damon Herriman, Ken Howard, Jeffrey Donovan, Ed Westwick - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 136 min.

Die 1960er Jahre. In einem Gespräch mit einem Beamten fragt der US-Justizminister Robert F. Kennedy: „Weiß der Direktor über die Sache Bescheid?“ Sein Gesprächspartner blickt vielsagend zur Decke und erwidert: „Ich vermute, jetzt weiß er Bescheid“, worauf Kennedy rief: „Edgar, kannst Du mich hören?“
Edgar – gemeint war John Edgar Hoover, seit 1924 Chef des Bundeskriminalamtes, des so genannten "Federal Bureau of Investigation" (FBI). Und die Vermutung, dass der seit fast vier Jahrzehnten ununterbrochen amtierende FBI-Boss das Büro seines Dienstherrn verwanzt haben könnte, war sicher kein ironischer Scherz.

FBI-Chef Hoover befiehlt zu diesem Zeitpunkt über 16 200 Angestellte -- darunter 7000 gut ausgebildete Sonderagenten. In seinem Washingtoner Hauptquartier verwahrt er Dossiers über Hunderttausende von US-Bürgern. Das Fingerabdruck-Archiv seiner Behörde ist die größte kriminaltechnische Identifizierungs-Kartei der Welt. Und schließlich sind da noch die vertraulichen Akten, in denen Hoover besondere Erkenntnisse verwahrte, am liebsten solche, die aus den verwanzten Schlafzimmern der Mächtigen stammten. Erkenntnisse, die Hoover möglicherweise zum einflussreichsten Strippenzieher der Vereinigten Staaten gemacht haben.

In Clint Eastwoods „J. Edgar J.“ wird Hoover (Leonardo DiCaprio) jedem neu gewählten US-Präsidenten einen Antrittsbesuch abstatten. Und jedes Mal wird er vor dem Betreten des Büros kurz stehenbleiben und einen Blick auf ein Portrait George Washingtons werfen. Dann betritt er den Raum, in seiner Hand eines der berüchtigten Dossiers, deren Inhalt dafür sorgte, dass Hoover acht Präsidenten und 16 Justizminister politisch überleben konnte, bevor den 77-jährigen 1972 ein Herzschlag ereilte.

Großartiger Schauspielerfilm
Wie geht man mit einem Mann um, der vermutlich über jahrzehntelang seine obersten Dienstherren erpresste und nötigte und die politische Kultur des USA nachhaltig beschädigte, während er sein Privatleben hinter der Fassade eines biederen Bürgers verbarg, der höchstens einmal im Jahr Urlaub macht und ansonsten rund um die Uhr arbeitet?
Behält man den Blick für das Faktische oder man setzt auf ein spekulatives Psychodrama. War Edgar J. Hoover ein gefährlicher „Big Brother“, der einen Schnüffelstaat im Visier hatte, oder lenkte er seine Energien in seine Arbeit, um seine heimliche Homosexualität zu kompensieren. Und vor allen Dingen: wen interessiert das?

„J. Edgar“ ist zunächst ein fesselnder Schauspielerfilm. Der auf Zwanghaftes und Morbides fast schon überspezialisierte Leonardo DiCaprio gibt nach einem mitreißendem Portrait des zwangskranken Howard Hughes nun auch eine exzellente Vorstellung vom Innenleben eines nicht weniger getriebenen Mannes, dessen Vita auch eine Herausforderung für die Maskenbildner gewesen sein dürfte.
In der Besetzung der Hauptrolle spiegeln sich die Stärken, aber auch die kritischen Momente in Clint Eastwoods Film, denn DiCaprio bleibt am Ende doch DiCaprio, ein Schauspieler, der es zwar versteht, den inneren Dämonen eines verdrängten Lebens Ausdruck zu verleihen, dem man aber über weite Strecken nicht immer das Brutal-Ruppige des echten Hoover abkaufen mag, der von Zeitgenossen aufgrund seines Äußeren auch Bulldogge genannt wurde. Manchmal hat man in „J. Edgar“ sogar das Gefühl, dass in DiCaprios Acting doch eine Spur zuviel Empathie und Differenzierungsvermögen wirken, um das Exemplarische an Hoovers Paranoia adäquat herauszuarbeiten.
Doch dann folgen Szenen, in denen kleine Gesten und Veränderungen der Mimik präzise herausarbeiten, dass wir einem Mann zuschauen, der ein bis zur Erstarrung durchgeplantes Leben mit genauso starr geplanter Intimität aufladen will, wobei ihm dies in den entscheidenden Moment immer wieder missrät.
Das hätte zumindest eine OSCAR-Nominierung verdient, aber „J. Edgar“ ist von den Juroren komplett ignoriert worden, was vielerlei Schlüsse zulässt.

Eastwood und sein Drehbuchautor Dustin Lance Black („Milk“) haben in „J. Edgar“ eine elegante, aber nicht immer restlos überzeugende Lösung für das Problem gefunden, wie man Privates und Politisches unter einen Hut bekommt. Hoovers Leben wird in zwei Zeitschienen gepackt, die mäandernd ineinander greifen, ohne dabei den narrativen Zusammenhang zu verlieren, und ganz am Ende werden wir sehen, dass aus naiver Faktentreue und vordergründigem Realismus kein gutes Biopic entsteht, weil der Fake als immanenter Bestandteil des Konstruierens und Dekonstruierens immer eine wichtige Rolle spielt. Clint Eastwood und sein Autor haben dieses Problem, das uns bereits in Orson Welles „Citizen Kane“ begegnet ist, jedenfalls adäquat gelöst und aus gutem Grunde mit ihrer Plotstruktur mächtige Löcher in Hoovers Biografie gerissen.

Ohne historische Kenntnisse etwas sperrig
Prolog und Rahmenhandlung spielen in einem Zeitraum, der nach der Kubakrise beginnt, die Ermordung John F. Kennedys und Martin Luther Kings einschließt und mit Hoovers Tod endet: hier sehen wir den alten Hoover, der verschiedenen jungen FBI-Beamten sein ganz persönliche Sicht der geschichtlichen Ereignisse diktiert, eine Autobiographie, die so nie existierte, und wir hören ihn als sein eigener Erzähler aus dem Off.
Die eingeschobenen Flashbacks beziehen sich dagegen auf einen Zeitraum, der 1919 mit dem Bombenattentat auf den Attorney General (was in etwa unserem Generalstaatsanwalt entspricht) Alexander Mitchell Palmer beginnt und mit der Überführung Bruno Richard Hauptmanns, des vermeintlichen Entführers des Lindbergh-Babys, endet. Diesen spektakulären Fall wusste Hoover geschickt zu nutzen, um seiner Behörde endgültig zum Durchbruch zu verhelfen: 1935 wurde das Bureau of Investigation (BOI) in das Federal Bureau of Investigation (FBI) umbenannt, das nunmehr übergreifende Befugnisse besaß.

Ohne historische Kenntnisse erweist sich der Film in den ersten 60 Minuten als durchaus sperrig. „J. Edgar“ findet zunächst kurze, aber prägnante Bilder für öffentliche Hysterie, die als „Red Scare“ bekannt wurde, jene rote Angst, die in der McCarthy-Ära erneut hochschwappte und sich bereits 1917 zum ersten Mal offen zeigte. Nach der russischen Oktoberrevolution wurden linke Kriegsgegner, die gegen den Eintritt der USA in den 1. Weltkrieg demonstrierten, aber auch amerikanische Kommunisten, Anarchisten und natürlich auch die Gewerkschaften zur Zielscheibe.

Eastwood lässt Hoover in seinen Erinnerungen gleich zu Anfang als einen Mann auftreten, der als patriotischer Mitarbeiter des US-Justizministeriums nicht davor zurückschreckt, die nicht verfassungsgemäße Deportierung einer US-Bürgerin zu betreiben, der bekannten Ikone der amerikanischen Friedensbewegung Emma Goldman. Dieser Coup war tatsächlich keineswegs Hoover allein zuzuschreiben, obwohl er mit diesem einen Anteil an den berüchtigten „Palmer-Raids“ hatte, die zur Deportation von über 10.000 politisch Unerwünschten in die Sowjetunion führte. Die meisten wurden später Opfer der stalinistischen Säuberungsaktionen.
Diese zwar etwas verkürzte, aber im Kern korrekte Wiedergabe der Fakten ist Eastwoods Film hoch anzurechnen, man sollte aber schon etwas über die Hintergründe wissen, um Hoover in der sehr gespaltenen politischen Kultur dieser Jahre richtig zu verorten. Tatsächlich wurden die USA Anfang des vergangenen Jahrhunderts von Terroranschlägen erschüttert, die Linken und Anarchisten angelastet wurden und das Rechtsverständnis der Nation belasteten – gelinde gesagt. Hoover gehörte wohl aus ideologischen Gründen zum rechten Lager. Dies sollte man wissen, um nicht der verkürzten These zu erliegen, dass Triebabfuhr mit politischer Radikalität korreliert wird und private Macken hinreichend die folgende Monstrosität erklären.

Clint Eastwood orientiert sich der Darstellung von Hoovers weiterem Werdegang an bekannten Episoden:
Als Leiter des BOI setzt Hoover eine rigorose Professionalisierung seiner Behörde durch, die sich auf das idealisierte Berufsethos der „G-Men“ konzentrierte und gleichzeitig neuen kriminaltechnischen Methoden zum Durchbruch verhalf. 1925 wurde eine zentral verwaltete Kartei für Fingerabdrücke, ein kriminaltechnisches Labor und eine Aus- und Fortbildungsakademie etabliert. Gleichzeitig sorgte Hoover, dem die positive Darstellung des Gangsters im Kino missfiel, auf geschickte Werbung in eigener Sache. So wurde von Kaugummikarten bis zur TV-Serie „The FBI“ alles mögliche gesponsert, um seine Männer und sich selbst ins rechte Licht zu rücken. Und dazu gehörten inszenierte Verhaftungen prominenter Mobster, die er selbst vornahm und die zuvor mediengerecht vorbereitet wurden.

Zwanghafte Selbstinszenierung
Die ineinander verschränkten Zeitstränge führen in Eastwoods Film zu einer politisch interessanten dialektischen Spannung zwischen dem 75-jährigen Hoover, der seine Memoiren diktiert, und dem jungen Hoover, der am Anfang spürbar um seine innere und äußere Fassung ringt. Während der alte Hoover im Prolog aus dem Off routiniert über das bedrohte Amerika bramarbasiert, das von Kriminellen und mehr noch von Kommunisten bedroht wird, die sich wie eine Infektion im Körper der Nation breit machen, muss sich der junge Hoover erst noch konstruieren, um sich definieren zu können. Er spricht gestelzt und aufgesetzt, um sich die notwendige Autorität bei seinen zum Teil älteren Mitarbeitern zu verschaffen. Er mäkelt an äußeren Attributen seiner Agenten herum („Keine Gesichtsbehaarung“) und zeigt früh seine Willkür, die in späteren Jahren zur Obsession werden sollte. Und er folgt dem Rat seiner Sekretärin und lässt seinen Sessel auf ein unsichtbares Podest stellen, damit seine Besucher zu ihm aufblicken müssen. Von Anfang an wird klar, dass Eastwoods Hoover seine Karriere als Teil einer Selbstinszenierung begreift, die seine Identität mitsamt ihrer Bruchstellen verklammern soll.

Drei Menschen spielen in dieser verkrampften Selbstinszenierung eine zentrale Rolle: Hoovers Mutter (Judy Dench) als Objekt eines ödipalen Konflikts, sein späterer Stellvertreter und Lebensgefährte Clyde Tolson (Armie Hammer) und seine Sekretärin Helen Grandy (Naomi Watts).
Helen Grandy wird gleich zu Anfang Hoovers holprigen Heiratsantrag ablehnen, aber das möglicherweise noch intimere Angebot, nämlich seine Sekretärin zu werden, begeistert akzeptieren. Leider gerät diese Figur dann weitgehend aus dem Fokus.
Alle drei aber haben etwas gemeinsam: sie sind nicht nur durch ihre erotische Verzahnung mit Hoovers Leben von Bedeutung, sondern sind auch ein Indikator für den gestörten Umgangs Hoovers mit Intimität, deren Störungsanfälligkeit auf fast zwangshafte Weise Begehren und Manipulation fast untrennbar miteinander vermischt. An ihnen wird durchdekliniert, was Hoover umtreibt.

Kein Schwulendrama
Das alles lässt viel Spielraum für Psychologie und möglicherweise auch für die psycho-analytische Revision einer Figur, aus der die filmische Fiktion durchaus ein Monster shakespearschen Ausmaßes hätte machen können.
Eastwood umschifft diese Klippen mit einem fast diskreten und zurückhaltenden Regiestil, der lediglich Hoovers Gesprächen mit seiner Mutter eine dezent angedeutete analytische Qualität gibt. Diese finden häufig im Schlafzimmer statt, wo der junge Hoover vor einem Spiegel steht, in dem er nicht nur sich selbst sieht, sondern auch seine Mutter. Und der Zuschauer sieht beide.
Nicht zu Unrecht gilt der Spiegel im Film als Symbol und Medium der Reflexion, aber auch der narzisstischen Größenfantasie. Bei Eastwood wird er dagegen eher zum Reflex der immer wieder erfahrenen Unzulänglichkeit und des mütterlichen Diktats. Vor dem Spiegel stehend, empfängt der junge Edgar die unmissverständlichen, aber auch ein wenig dunkel bleibenden Zurechtweisungen seiner Mutter, eine Konditionierung hin zur Verdrängung des Unerwünschten, das nie beim Namen genannt wird, sich aber im gequälten Gesicht DiCaprios ausdrückt. Hoovers Mutter fungiert dabei als gelegentlich durchaus charmantes Über-Ich, das ihren Sohn zu Höchstleistungen antreibt und eine eiserne Klammer der Disziplin über ihn verhängt.

Eastwood beschränkt sich dabei auf drei Schlüsselszenen. In der ersten erzählt Hoovers Mutter ihrem Sohn die Geschichte eines homosexuellen jungen Mannes, der Frauenkleider anzog, erwischt wurde und sich kurz danach erschoss - eine „Narzisse“, durchaus ein elegantes Synonym für Narzissmus und Homosexualität, und sie sagt Edgar, dass sie einen Sohn mit so einer Veranlagung nicht dulden würde. Nach dem Tod der Mutter wird sich Edgar deren Kleid anziehen und sich eine Perlenkette umhängen, jene „Cross-Dressing“-Szene, die in den USA ausgiebig diskutiert wurde und die Eastwood angeblich zunächst gar nicht zeigen wollte. So viel Symbolik könnte schief gehen, aber Eastwoods Kunst besteht darin, so etwas weitgehend unaufdringlich ins Bild zu setzen und mit seiner Kadrierung nicht zu viel Nähe zu suchen.

Die Darstellung Clyde Tolsons in „J. Edgar“ ist dagegen weniger komplex. Das überrascht ein wenig. Und was noch wichtiger ist: sie spielt den ersten 60-70 Minuten des Films keine nennenswerte Rolle.
Tatsächlich macht Eastwood kein Geheimnis aus der sexuellen Orientierung der beiden Männer: Hoover sucht Tolson gezielt nach Aktenlage aus, weil dort zu lesen ist, dass Tolson sich nicht für Frauen interessiert.
Die dritte Schlüsselszene ist erste Begegnung der beiden. Hoover sitzt auf seinem erhöhten Podest, aber Tolson bleibt stehen und es ist Hoover, der aufblicken muss. Er sieht sich einem rhetorisch brillanten Upper-Class Anwalt gegenüber und ist entzückt und befangen zugleich. Später bindet er das Objekt der Begierde immer enger an sich, ohne nennenswerten Widerstand zu erfahren. Er macht ihn zu seinem Stellvertreter, er legt zärtlich seine Hand auf die von Tolson, er bucht ein Doppelzimmer für sich uns seinen Auserwählten, aber als er diesem gesteht, dass er nach einer „Mrs. Hoover“ suche (eine Anspielung auf die Hoover nachgesagte Affäre mit der Schauspielerin Dorothy Lamour), macht ihm Tolson eine Szene, nachdem er Hoover wortwörtlich gestanden hat, dass er ihn liebt. In der anschließenden Schlägerei der beiden küsst Tolson Hoover intensiv auf den Mund, dieser fährt ihn an: „Mach dies nie wieder!“, fleht Tolson aber an zu bleiben, nachdem dieser sich von ihm trennen will. Mit anderen Worten: Eastwood zeigt uns Hoover recht eindeutig als einen Mann, der einen ebenso eindeutig homosexuellen Mann an sich bindet, ohne aber den Mut zu finden, seine Gefühle auszuleben und zu dessen Inszenierung es gehört, eine Intimität so kontrolliert zuzulassen, dass sie am Ende keine mehr ist.

Das Leben als Fake und der Mut zur Lücke
Dass dies in „J. Edgar“ nicht zu einem kolportagehaften Tuntendrama mutiert, liegt daran, dass es Eastwood gelingt, das Homoerotische in Hoovers fiktiven Psychogramm immer als Reflex auf dessen Selbstinszenierung zu zeigen. Innerhalb dieser Mythologisierung zu Lebzeiten folgt den vermuteten Verdrängungen Hoovers immer auch ein soziales und politisches Echo. Eastwood zeigt uns einen Mann, dessen Bespitzelung Orwellsche Dimensionen erreicht und dessen Macht darauf basierte, auf Tonbändern den Gesprächen von Menschen zu lauschen, die gerade Sex haben. Eine rein psychoanalytische Ausdeutung des Ganzen als pathologische Obsession hätte uns eine Portion Waschküchenpsychologie präsentiert, die aber kaum ernst zu nehmen wäre. So wird das Innenleben Hoovers geschickt mit seinen erotischen Avancen, seinen politischen Ängsten und Kontrollmanien verzahnt, ohne dass dies einer billigen Kausalkette zugeschrieben wird.

Die eigentliche Pointe serviert uns Eastwood am Ende , wenn „Alter Ego“ Clyde Tolson, gerade von einem schweren Schlaganfall halbwegs genesen, seinem Freund die Rechnung präsentiert: er habe mit seiner Autobiographie nicht nur maßlos übertrieben, sondern schlichtweg gelogen. Die von Hoover inszenierte und mediengerechte Festnahme eines Gangsters – ein Fehlschlag. Seine Bedeutung im Lindbergh-Fall – kriminaltechnisch ein Erfolg, in der Selbstdarstellung eine grelle Überzeichnung. Und so weiter.
Blitzschnell zeigt Eastwood in kurzen Flashback, dass alles, was wir über den jungen Hoover erfahren haben, lediglich eine Fiktion in der Fiktion gewesen ist. Wir haben nur die „Wahrheit“ gesehen, die uns der Off-Erzähler Hoover präsentieren wollte.
Nämlich die Inszenierung des Mythos.

“If the legend becomes fact, print the legend!” heißt es in John Fords „The Man Who Shot Liberty Valance“.
Nur besteht in Fords Klassiker der fromme Betrug darin, dass sich die öffentliche Wahrnehmung bei der Umwandlung der Fakten in den Mythos für eine historische Interpretation entscheidet, die ihr als die moralisch triftigere erscheint. 
In „J. Edgar“ ist es das Subjekt des Mythos selbst, dass diese Verwandlung betreibt.
In dieser Sollbruchstelle der filmischen Narration legt uns Eastwood durchaus auch nahe, wie wenig den Bildern zu trauen ist. Aber dies ist ja nichts Neues und wesentlich spannender erscheint mir die Erkenntnis, dass Eastwood in seinem Biopic die Essenz eines Lebensprinzips als kritisches Stilmittel adaptiert hat, um die Verzahnung des Privaten mit dem Öffentlichen zu durchleuchten: ein Leben, das nur als eiserne Inszenierung durchzuhalten ist, kann dem narzisstischen Subjekt nur gelingen, wenn es am Ende die Fakten nicht veredelt, sondern verbiegt. Damit ist das Scheitern aber bereits beschlossene Sache.

Fast beschleicht einen das Gefühl, dass Eastwood selbst ein wenig an dieser Schraube gedreht hat, denn sein Film hat eine fast altmodische Art, anständig mit seiner Hauptfigur umzugehen. Den Niedergang seines negativen Helden scheint uns Eastwood nämlich ersparen zu wollen. Zwar wurde Hoover noch Mitte der 1950er von den Republikanern ernsthaft als Präsidentschaftskandidat in Erwägung gezogen. In den folgenden 15 Jahren vollzog das FBI dann aber einen aufsehenerregenden Abstieg, der auf seinem Tiefpunkt die Behörde sogar die Konkurrenz mit ländlichen Polizeistationen fürchten ließ. Wenige Jahre vor seinem Tod wurde Hoover, der nach Ansicht einiger Historiker durchaus eine Blaupause für einen amerikanischen Faschismus geliefert hatte, dann von dem Kongreßabgeordneten Hale Boggs mit den Worten angegriffen, er bediene sich „der Methoden der Sowjetunion und der Gestapos Hitlers.“
Das sehen wir in „Edgar J.“ nicht.
Auch nichts über die Entwicklung des FBI zu einem innerstaatlichen Geheimdienst, nichts über die Hoovers fast schon manische Fixierung auf die Verfolgung von Kommunisten und Extremisten und genauso wenig über die Vorwürfe, Hoover habe gezielt die Verfolgung des organisierten Verbrechens sabotiert, weil er mit der Mafia einen Deal abgeschlossen wurde. Und noch weniger erfahren wir vom psychischen Abstieg eines Mannes, der lange vor seinem Tod das FBI so abgewirtschaftet hatte, dass man ihn nicht mehr ernst nehmen konnte, aber weiterhin fürchtete, und der einen führenden Mitarbeiter in die Provinz versetzte, nur weil dieser ihm vor Antritt einer Dienstreise „viel Spaß“ gewünscht hatte. Natürlich hat jemand wie Hoover keinen Spaß während der Dienstzeit.

Und doch ist es konsequent, denn das von Hoover Memorierte muss dort enden, wo der Höhepunkt erreicht ist: in der Mittdreißigern - Hoover hat das FBI und er hat Tolson! Es ist der Moment der größtmöglichen Kontrolle. Es ist der Höhepunkt der Inszenierung, in der schon das Moment des Niedergangs angelegt ist. Und das erklärt die gewaltige Lücke im Plot.
Und ganz am Ende, wenn Hoover schon längst tot ist und Nixons Truppen vergeblich nach den in einem verschlüsselten Karteisystem verborgenen Geheimdossiers suchen, deren Ort nur noch Helen Gandy kennt, hören wir seine Stimme aus dem Off. Es sind die gleichen Warnungen wie zu Anfang, nur haben sie einen Klang, der plötzlich eine Nähe zu 9/11 und den Bush-Jahren aufscheinen lässt, so als würde der Tote dafür werben, dass man heute einen wie ihn noch brauchen kann. Aber das ist wieder nur eine Illusion.
Die Geschichte hat Hoover auf ganz andere Weise überholt, nur waren seine Nachfolger deutlich plumper.
Aber wesentlich gefährlicher.

Noten: BigDoc = 1

Anmerkung: Für diese Kritik habe ich in diversen Archiven recherchiert, weil ich bei Biopics immer wissen möchte, wo das Faktische aufhört und die Fiktion beginnt. Ich war verblüfft, dass in über den über 40 Jahre alten Dokumenten ziemlich exakt die Szenen und Episoden beschrieben wurden, die auch im Film zu sehen sind. Erwahnenswert ist, dass der alte Hoover ein ziemlich mieses Ekelpaket war. Einen anekdotischen Reiz besitzt auch folgende Episode: Hoover beschwerte sich eines Tages darüber, dass sein Fernsehgerät nicht funktioniere. Da er selten weitere Hinweise gab, sondern es seinen Mitarbeitern überließ herauszufinden, was er meinte, stürzte er alle in Panik. Irgendwann traute sich jemand nachzufragen. Und des Rätsels Lösung? Hoover wollte nach dem Drücken des Einschaltknopfes sofort (!) ein Bild sehen (Achtung: Röhrenfernseher!). Irgendwie haben die Jungs das dann für ihn hinbekommen.

Samstag, 14. Januar 2012

Verblendung

USA 2011 - Originaltitel: The Girl with the Dragon Tattoo - Regie: David Fincher - Darsteller: Daniel Craig, Rooney Mara, Christopher Plummer, Stellan Skarsgård, Steven Berkoff, Robin Wright, Yorick van Wageningen - FSK: ab 16 - Länge: 158 min.

Das US-Remake des ersten Teils der Stieg Larsson-Verfilmung „Verblendung“ (Män som hatar kvinnor, 2009) setzt ganz auf Qualität: mit David Fincher konnte einer der innovativsten Regisseure der letzten 20 Jahre gewonnen werden, Bond-Darsteller Daniel Craig spielt den Journalisten Mikael Blomkvist und der qualitätserprobte OSCAR-Gewinner Steven Zaillian schrieb das Drehbuch. Da kann eigentlich nichts schief gehen. Tut es auch nicht.
Wenn man das Original nicht kennt.


Mit Serienmördern kennt sich David Fincher aus. Bereits mit seinem zweiten Film hat Fincher Maßstäbe in einem Genre gesetzt, das in den 1990er Jahren besonders florierte: dem Serial Killer-Genre. In „Se7en“ vollzog das Genre nach „The Silence oft the Lambs“ endgültig den Sprung vom B-Movie in die Welt der literarischen Allegorien, einer Welt, in der nicht nur der zynisch philosophierende Täter seine Pinselstriche in einer vermeintlich amoralischen Gesellschaft hinterlässt, sondern auch der Cop als Bildungsbürger und Schöngeist der leidende Repräsentant einer Kultur ist, deren Niedergang er nur noch pessimistisch kommentieren darf, ohne wirklich etwas ändern zu können.
Die Welt des Stieg Larsson ist nicht weniger düster, eigentlich ist sie sogar auf fast comichafte Weise völlig wahnsinnig geworden, denn in ihr ist das Böse auf geradezu diabolisch lasterhafte Weise mit Naziwahn, Antisemitismus, krankhaftem Frauenhass, Inzest, sexueller Perversion und sadistischen Foltermorden verknüpft, in denen erneut biblische Allegorien ihren festen Platz haben. Und ähnlich wie in „Se7en“ müssen die Hauptfiguren in „The Girl with the Dragon Tattoo“ mediale Artefakte untersuchen, nur sind es diesmal keine Botschaften des Täters, für deren Verständnis man durchaus Dante Alighieri kennen muss, sondern Fotos, aus denen man den erkenntnisgewinnenden Mehrwert per Laptop und einer geeigneten Software herausdestillieren kann.

Formal beeindruckend
Dass Fincher in „The Girl with the Dragon Tattoo“ ähnlich wie in „Se7en“ bereits im Vorspann nach ästhetischen Zeichen des kommenden Unheils sucht, sorgt zunächst für ein inspiriertes Intro, in dem schwarz daher fließende Körperkonstruktionen einer fast eleganten und endlosen Metamorphose ausgesetzt werden, während dem Zuschauer fast kontrapunktisch eine Coverversion von Led Zeppelins „Immigrant Song“ um die Ohren gehauen wird.
Nichts ist das, was es zu sein scheint, und einen Ruhepunkt, auf den die Formen zustreben, gibt es auch nicht. Auflösung ja, aber völliger Verlust der Form? Nein. Das beschreibt auch ein wenig das, was danach kommt.
Und das ist bekannt: der Journalist Mikael Blomkvist hat gerade eine schwere Niederlage im Kampf gegen den kriminellen Unternehmer Wennerström einstecken müssen, als ihn der Unternehmer Henrik Vanger darum bittet, das Verschwinden seiner Nichte Harriet aufzuklären, die sich im Sommer 1966 buchstäblich in Luft auflöste. Unterstützt wird Blomkvist von der jungen Ermittlungsspezialisten Lisbeth Salander, die als Zehnjährige versucht hat, ihren Vater umzubringen und nun aufgrund eines psychiatrischen Gutachtens unter Vormundschaft steht. Am Ende ist es Lisbeth, die im letzten Moment verhindert, dass der Journalist im Netz seiner Enthüllungen selbst Opfer des sadistischen Serienmörders wird.

In seinem Remake beweist Fincher (Sieben, Fight Club, Zodiac) erneut sein sicheres Gespür für Settings: sein Schweden ist in einer Welt aus Eis und Schnee versunken und selbst die Ankunft Blomkvists im herrschaftlichen Anwesen der Vangers gerät zu einer düsteren Kamerafahrt, die allein durch ihre schleichende Bewegung ein unterschwelliges Gefühl der Bedrohung auslöst.
Kameramann Eric Kress, der bereits bei der Verfilmung eines Wallander-Plots von Henning Mankell Hand angelegt hat, zieht zudem aus den düsteren Bildern die Farbe ab, alles bewegt sich Grenzbereich des Grau-Bräunlichen. Ein Farbdesign, das gut zu den historischen Fotos passt, aus denen Blomkvist und Salander mit digitalen Techniken das Puzzle eines vermeintlichen Mordes zusammensetzen, der am Ende keiner gewesen ist.
Fincher und Kress halten auch in der Kadrierung ihre Figuren auf Abstand. Close-ups sind selten, es dominieren Halbtotalen und Naheinstellungen. Fincher sorgt in seinem Film für erneut für eine angemessen unterkühlte, aber keineswegs völlig emotionslose Erzählweise.

Verändertes Personal
Formal versteht der Film es also auf beeindruckende Weise zu punkten. Deutlich spannender ist die Frage, wie Fincher sein Personal interpretiert, das im schwedisch-deutschen Original gerade wegen der außerordentlichen Performance von Noomi Rapace als Lisbeth Salander für einen nachhaltigen Eindruck sorgte. Hier bricht „The Girl with the Dragon Tattoo“ trotz seines programmatischen Titels ein wenig weg.
Dabei bietet der Film wenig Neues und das ist auch gut so: Drehbuchautor Steven Zaillian (Schindlers Liste, Gangs of New York, American Gangster) hält sich weitgehend an das szenische Gerüst des Extended Cuts (178) von „Verblendung“ und strafft die Handlung ohne erkennbare Nachteile auf 158 Minuten. Die von Craig interpretierte Rolle des investigativen Journalisten fällt etwas härter aus, aber zum Glück setzt Fincher die Glaubwürdigkeit der Figur und des Plots nicht aufs Spiel und erspart uns überflüssige Actionszenen des Bond-Darstellers. Im Gegenteil: Craigs physische Präsenz ist limitiert und wenn er nach einem kurzen Sprint stehen bleibt, darf er ruhig atemlos schnaufen. Besonders in der Schlussszene, wenn er wie ein Häufchen Elend im Folterkeller des Mörders buchstäblich in den Seilen hängt, bleibt der Bond in Daniel Graig endgültig auf der Strecke.

Etwas anders ist die Figur Lisbeth Salanders angelegt und hier verliert der Film nach Punkten.
Die von Noomi Rapace interpretierte Hackerin verstörte als kaputte Borderlinerin in jeder Szene. Rapace gab der Figur dabei etwas grotesk Marionettenhaftes, das die Salander-Figur zu einer Getriebenen machte, die nicht nur gegen die fremden, sondern auch ihre eigenen Dämonen kämpft. Ihr Rachefeldzug gegen ihren Vormund, der sie aufs brutalste sexuell nötigte, ging nicht zuletzt auch deswegen unter die Haut, weil dem sorgfältig geplanten Gegenschlag jedwede Emotion fehlte. Rapace war wie Glas: zerbrechlich und lichtdurchlässig, aber auch völlig erstarrt und in der Form ausgehärtet.

Fincher legt die Rolle der Lisbeth anders an. Rooney Mara (A Nightmare on Elm Street, The Social Network) wirkt von Anfang an wie ein neurotischer Engel, dem nur ein wenig Zuspruch fehlt, um sich aus einer verzauberten Prinzessin in eine ‚richtige‘ Frau zu verwandeln. Dies liegt zum einen daran, dass Fincher die Scheußlichkeiten ganz auf die Seite der kaputten Täter verlagert. Was Lisbeth an sexuellen Peinigungen wiederfährt, wird für einen amerikanischen Film überraschend deutlicher und entschieden hässlicher ausgemalt: so darf sich der Vormund vor der analen Vergewaltigung in aller Ruhe ein Kondom überziehen, während er das Opfer verbal demütigt.
Natürlich darf Lisbeth auch bei Fincher entschlossen Rache nehmen, aber ihre anale Penetration des Täters wirkt eher wie ein biblischer Akt der Vergeltung und besitzt bei weitem nicht die verstörende Qualität des Originals. Dort wurde Rapace auch dadurch zur dominierenden Figur der Trilogie, weil sie spüren ließ, dass sie die erfahrene Gewalt dissoziativ von sich abspaltete. Das verstörte ungemein.

Ganz deutlich wird das auch in der veränderten Nuancierung des Love Interest à la Fincher.
Und zwar in zwei Szenen: wenn Lisbeth in Finchers Film zum zweiten Mal mit Blomkvist schläft, liegt dieser auf dem Rücken und geht die Fakten des Falls durch, während Lisbeth kurz vor dem Orgasmus steht. Hier ist es der Mann, der zum empathiefreien Grenzgänger wird.
Und überdeutlich wird dies ganz am Schluss, wenn Lisbeth über ihr Verhältnis zu dem Journalisten spricht und eingesteht: „Ich bin glücklich!“
Dass dies der ‚echten‘ Lisbeth nie über die Lippen gekommen wäre und angesichts des eher polygamen Sexlebens Blomkvists auch gründlich in die Hose geht, das gibt am Ende nicht nur den notwendigen Cliffhanger ab, sondern ist auch eine ärgerliche Umdeutung einer Figur, die ihre durch Männer erfahrenen Verletzungen und ihre Verletzlichkeit durch fast sprachlose Unnahbarkeit zu kontrollieren versuchte.
Noomi Rapace blieb ein Rätsel. Das hat David Fincher dem Zuschauer nicht zumuten wollen.
Leider ist das der Unterschied.

Was bleibt? Zum einen leider die Erkenntnis, dass Fincher soliden Durchschnitt produziert, aber nichts Überragendes mehr dabei ist. Bereits „The Social Network“ hat mich nicht sonderlich beeindruckt. Seine Version der „Verblendung“ kann man sich anschauen, muss es aber nicht.
Und das zu sagen, wäre mir früher beim einem Fincher-Film sehr schwer gefallen.

Note: BigDoc = 3

Donnerstag, 12. Januar 2012

„The Ides of March“ und „Company Men“ – politische Filme aus den USA

Für einen jungen Kritiker gab es vor 30 Jahren einen schwer zu lösenden Konflikt.
Zum einen erwartete man vom etablierten Studiosystem kaum etwas anderes als leicht durchschaubare Unterhaltungsartikel für die Masse, zum anderen präsentierte sich das „New Hollywood“ Ende der 1960er mit einer Reihe innovativer Regisseure von einer Seite, die man dem ‚System‘ einfach nicht zutraute.
Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang besonders an die Filme von John Cassavetes, Robert Altman, Peter Bogdanovic (mit Abstrichen), Roman Polanski und besonders an Alan J. Pakula, aber auch an Martin Scorsese, Francis Ford Coppola und Sidney Lumet, die man fast ungläubig verschlang, weil sie bis dahin verschlossene Türen öffneten. Trotzdem: Politische oder wenigstens gesellschaftskritische Filme, produziert von einer der größten industriellen Illusionsmaschinen der Welt, das war damals schwer zu glauben.

Doch so politisch war das neue amerikanische Kino keineswegs, wenigstens aus heutiger Sicht, und ich räume ein, dass damals auch die Sprengkraft der so genannten Paranoia-Filme überschätzt wurde. Sieht man sich heute einen Film wie Coppolas „The Conversation“ (1974) (dankenswerterweise von ARTHAUS gerade wieder auf den Markt gebracht), so erlebt man eher ein existenzielles Ein-Mann-Drama als ein einen explizit politischen Film, auch wenn die Implikationen des Films durchaus kongenial auf Watergate verweisen. Ich denke, dass das Beeindruckende an diesen Filmen die beklemmende Atmosphäre war, die einen Schuss noir in das Genre brachten. Und so ist es im Rückblick nicht überraschend, dass es gerade Watergate war, dieses schmutzige Kapitel der US-Politgeschichte, das möglicherweise den einzigen wirklich politischen Film dieser Ära hervorgebracht hat: „Die Unbestechlichen“ (All the President’s Men, 1976) von Alan J. Pakula, der zuvor mit „Klute“ (1971) und „The Parallax View“ (1974) zwei weitere Klassiker des Paranoia-Kino geschaffen hatte.

Ich bin davon überzeugt, dass sich junge Kritiker heute in einer ähnlichen Zwickmühle befinden wie ich damals, wenn sie sich mit „The Ides of March“ (George Clooney) und „Company Men“ (John Wells) auseinandersetzen müssen: auf der einen Seite werden Themen präsentiert, die es verdienen abgehandelt zu werden, auf der anderen Seite sind beide Filme formal eher konventionell gestrickt und auch stilistisch weit davon entfernt, einen rebellischen Geist zu verströmen. Die Skepsis, die ich Anfang der 19070er Jahre verspürte und die – zugegeben - durchaus mit einem Schuss Hoffnung verbunden war, ist heute, so scheint es, bei einigen Kritikern in Sarkasmus umgeschlagen, dem leider zu oft die filmhistorische Rückbesinnung fehlt. So wurde Clooneys Portrait der moralischen Verdorbenheit eines typisch amerikanischen Wahlkampfes milde belächelt und Wells‘ Film hat sogar Hohn und Spott geerntet, weil seine Skizze der in der Finanzkrise untergehenden oberen Mittelschicht wie eine affirmative Gebrauchsanweisung des American Way of Life gelesen werden kann. In beiden Fällen wurde ideologiekritisch einiges mit der heißen Nadel gestrickt, in beiden Filmen sollte nach den Referenzmodellen gesucht werden.

The Ides of March
USA 2011 - Originaltitel: The Ides of March - Regie: George Clooney - Darsteller: Ryan Gosling, George Clooney, Evan Rachel Wood, Paul Giamatti, Marisa Tomei, Philip Seymour Hoffman, Max Minghella, Jeffrey Wright - FSK: ab 12 - Länge: 97 min.

Wenn man in diesen Tagen die Zeitung aufschlägt, kann man einiges über den Vorwahlkampf der Republikaner in den USA lesen. Die angekündigten Schlammschlachten und Rufschädigungen entsprechen weitgehend dem, was George Clooney den Zuschauern vorführt. In „The Ides of March“ (Tage des Verrats) spielt er den demokratischen Kandidaten Mike Morris, der überdeutlich an die Figur Barack Obamas angelehnt ist. Morris tritt als charismatischer Hoffnungsträger auf, der gleich ein Arsenal an schweren linksliberalen Waffen auffährt: Zuhaltung bei militärischen Engagements, mehr Ökologie und eine Steuer für die Reichen. Für das, was Morris fordert, dürfte er zumindest bei der Tea Party als gemeingefährlicher Kommunist gebrandmarkt werden.

Die eigentliche Hauptfigur in Clooneys Film ist jedoch der Medienexperte Stephen Meyers (Ryan Gosling mit einem Oscar-verdächtigen Auftritt), der unter der Leitung von Paul Zara (Philip Seymour-Hoffman) im Wahlkampfteam des Gouverneurs eine zentrale Rolle einnimmt. Als Meyers einen Anruf von Tom Duffy (Paul Giamatti), dem Wahlkampfmanager eines der gegnerischen demokratischen Kandidaten erhält, stimmt er einem Treffen zögernd zu. In einem persönlichen Gespräch versucht Duffy, den jungen Meyers abzuwerben. Ein Trick mit doppeltem Boden, denn Meyers lehnt zwar ab, berichtet aber Zara von dem Treffen. Der abgebrühte Politprofi kann Meyers Aktion nur als Loyalitätsbruch interpretieren und macht ihn zur persona non grata, indem er die Information in der Presse lanciert. Auf diese Weise hat Duffy die Intrige gewonnen: entweder wirbt er Meyers erfolgreich ab oder er schwächt durch dessen Rauswurf das Team seines Gegenspielers.

Der Verlust der moralischen Integrität
Meyers ist nach dieser Volte völlig desillusioniert, erst recht, als er erfährt, dass seine Freundin Molly sich das Leben genommen hat. Meyers hatte kurz zuvor erfahren, dass Molly während eines One Night Stands von Morris geschwängert wurde, und danach mit äußerster Härte dafür gesorgt, dass sie eine Abtreibung vornehmen lässt und aus dem Wahlkampfteam verschwindet. Der Selbstmord verwandelt den Idealisten Meyers endgültig in einen kalten Strategen, der nun zeigen kann, dass er genug gelernt hat, um mit einer cleveren Gegenstrategie und geschickten Erpressungen alles zurückzuerobern, was er verloren hat.
George Clooney erzählt in „The Ides of March“ vom Verlust der moralischen Integrität.
Dies geschieht auf eine fast altbackene Weise, die ein wenig an den idealistischen Grundton eines Frank Capra erinnert. Das Drehbuch verfasste Clooney übrigens selbst, zusammen mit Grant Heslov, der bereits die Buch für Clooneys „Good Night, and Good Luck“ (2005) geschrieben hatte. 
Aber die Zeiten eines Frank Capra sind vorbei und deshalb fällt „The Ides of March“ dunkler und skeptischer aus. Es gibt am Ende keinen Sieg der Moral, sondern bestenfalls einen pragmatische Orientierung an Notwendigkeiten, die nicht länger von der wechselseitigen Sympathie der Protagonisten getragen wird: Meyers wird am Ende den Kandidaten erfolgreich erpressen und sich seinen Job zurückholen, weil er wohl immer noch an das Programm, aber nicht länger an den Mann glaubt. Ob dies eine realistische Perspektive abgibt, darf man bezweifeln. Und so ist Clooneys Film auch als Kommentar zu Obama zu lesen.
Glücklicherweise verzichtet Clooney dabei auf eine zynische Erzählweise und auch auf eine Schwarz-Weiß-Zeichnung des Sujets, denn er ist wohl selbst zu sehr davon überzeugt, dass Filme wie „The Ides of March“ möglicherweise zur Aufklärung beitragen und zumindest einen Teil des interessierten Publikums erreichen können. Seine Figur Mike Morris verkörpert er keineswegs als kalten Strategen der Macht, sondern als zweifelnden und zerrissenen Mann, der immer stärker in den Sumpf der diskreten Vereinbarungen und der intriganten Absprachen hineingezogen wird. Lange sträubt sich Morris gegen ein Arrangement mit dem windigen Senator Thompson (Jeffrey Wright), der mit vorzüglichen Manieren seine Wahlmänner beiden Lagern anbietet und am Ende den in den Sattel heben wird, der ihm den besten Deal bietet. Dies wird Morris sein.

Deutlich interessanter fällt die Figur des jungen Stephen Meyers aus. Ryan Gosling spielt ihn als professionellen, aber geradezu provozierend gradlinigen Mitarbeiter, der gleich zu Anfang in einem Gespräch mit der Journalistin Ida Horowicz (Marisa Tomei) nicht nur für den Kandidaten, sondern auch für dessen und seine Werte wirbt. Ida wird ihn wenig später belehren, dass sie keineswegs Freunde sind, weil es das unter diesen Umständen nicht geben kann, sondern dass sie in einem schmutzigen Spiel lediglich an der besten Story interessiert ist. Meyers L'Éducation sentimentale ist ganz im ironischen Sinne Flauberts als abgeschlossen zu betrachten, wenn er am Ende des Films Ida mit ähnlichen Worten aus dem inneren Kreis der Informationsempfänger ausschließt.

Nun erzählt Clooney mit seinem Film nichts Neues, er fügt dem Thema lediglich eine neue Nuance hinzu, die allerdings wenig Anlass für Optimismus bietet. Letztlich können seine Figuren nur hoffen, dass der nach allen Kuhhandeln wohl designierte Präsident wenigstens einen Teil seiner Versprechungen einlösen wird. Für Sympathie gibt es allerdings keinen Spielraum mehr.

Die Tradition des Politthrillers im US-Kino
Interessanter sind zwei Beobachtungen: zum einen wurde „The Ides of March“ von einigen, aber bei weitem nicht allen Teilen der deutschsprachigen Kritik verrissen, zum anderen sahen sich gerade jüngere Kritiker nicht imstande, den Film in seiner Traditionslinie abzuarbeiten. Dazu gehören besonders zwei Filme, nämlich Michael Ritchies (Regie) und Robert Redfords "The Candidate" (1972) und Tim Robbins Regiedebüt „Bob Roberts“ (1992).
Ritchie erzählte vor 40 Jahren eine Geschichte, an die Clooneys Film heute überdeutlich erinnert, die damals aber noch einen Schritt weiter gehen wollte: der Regisseur und sein Hauptdarsteller hatten durchaus die handfeste Absicht, mit politischer Aufklärung direkt auf den Parteitag der Demokraten Einfluss zu nehmen. Als ich zwanzig Jahre später Robbins‘ Film rezensierte, erinnerte ich daran: „Wer sich heute noch einmal "The Candidate" anschaut und weiß, daß Michael Ritchie und Robert Redford 1972 mit ihrem Film die Absicht verfolgten, die Delegierten des Parteitages der Demokraten positiv zu beeinflußen, mag beiden vielleicht eine gewisse Naivität unterstellen. Natürlich mißlang ihr Vorhaben, weil aufklärerischer Impetus allein nicht reicht, um Filme zum direkten Medium der Politik zu machen. Aber das politische Scheitern von "The Candidate" zeigt in der Rückschau durchaus, daß der Film als ästhetisches Instrument der Diagnose ausreichend sensitiv war, gerade weil die perfekte Beeinflussung der Wähler und die geschickte Manipulation der Werbe- und Nachrichtenmedien, deren Darstellung in "The Candidate" noch ganz auf dem Stand der Zeit war, auf den heutigen Betrachter nur noch so wirkt, als stecke das Ganze noch in den Kinderschuhen.“

Tim Robbins war 20 Jahre später schon ein Stückchen weiter: seine provozierende Politsatire über einen rechtskonservativen Populisten verließ sich nicht mehr auf moralische Reflexionen, sondern zeigte auch in seiner stilistischen Qualität die unauflösliche Vermischung aus Verlogenheit, Medienmanipulation und Missbrauch des Inventars moderner Pop-Kultur. Eine Dekonstruktion, die die politische Kultur auch als Reflex auf die allgegenwärtige Medienästhetik und ihr manipulatives Potential absteckte: „Der zeitliche Sprung von der Wochenschauästhetik der Wahlkampfwerbung in "The Candidate" zu den faschistoiden Videoclips in "Bob Roberts" steckt … den medialen Erfahrungshorizont des Zuschauers ab. Die ästhetische Transformation, die in diesem Sprung stattgefunden hat, ist deswegen so aufschlußreich, weil es Robbins gelingt, ein Psychogramm des konservativen Wählers zu entwickeln, dessen Ängste mit einfachen Mitteln der Video- und Popkultur an die Schwelle zur reaktionären Gewalt getrieben werden.“ 
Schlicht und einfach formuliert: Robbins hat auf seine Weise einen ahnungsvollen Vorentwurf der Neuen Rechten in den USA geliefert, der auch heute noch davon zu überzeugen vermag, dass der politische Filme keine stinkende Leiche ist.

Distanz und Understatement
Ähnliche Qualitäten hat George Clooneys „The Ides of March“ nicht anzubieten. Der Film will einfach nur ehrlich sein. Das ist in diesen Zeiten nicht wenig, aber in gewisser Weise hat der Film damit auch ein wenig die Waffen gesenkt. Dies dürfte erst recht nicht durch die etwas unterkühlte Erzeilweise aufgehoben werden, mit der Clooney seine Protagonisten ins Bild setzt: in langen sparsam geschnittenen Einstellungen ist „The Ides of March“ überwiegend ein Dialogfilm, der zwar einige Thrillmomente bereithält, aber auf vordergründige Spannungselemente verzichtet.
Es ist Distanz und keineswegs Coolness, die Clooney anbietet und irgendwie wirken seine Figuren in den häufig offenen Räumen so verloren wie die Figuren in Pakulas „The Parallax View“. Dass man mit diesem emotionalen Understatement kein breites Publikum erreicht, kann vermutet werden, ist aber keineswegs ein Nachteil.
Aus meiner Sicht passt der Film sehr überzeugend in Clooneys Portfolio, das nicht nur durch seine Filme und Regiearbeiten, sondern auch durch sein politisches und soziales Engagement abgesteckt wird. Das ist natürlich kein Kriterium für eine Kritik. Dennoch sollte man im Zweifelsfall gründlich darüber nachdenken, ob man „The Ides of March“ daran messen sollte, was er zu leisten imstande ist, anstatt für sich herauszufinden, was uns fehlen würde, wenn es ihn nicht gäbe. Wenn jemand dies für einen faulen Kompromiss hält, dann kann ich nur erwidern: Richtig, es ist ein Kompromiss. Nicht mehr und nicht weniger.
Ein Kritiker warf dem Film Redundanz vor, weil Clooney wohl nur ein politisch gebildetes Publikum erreichen kann, das ohnehin wisse, wo es lang geht. Das mag stimmen, bedeutet aber noch lange nicht, dass eine gelungene Variation des Themas konsequenzlos bleibt und kein Vergnügen mehr bereitet.

Company Men
Großbritannien / USA 2010 - Originaltitel: The Company Men - Regie: John Wells - Darsteller: Ben Affleck, Tommy Lee Jones, Chris Cooper, Kevin Costner, Rosemarie DeWitt, Maria Bello, Craig T. Nelson - FSK: ohne Altersbeschränkung - Länge: 105 min.

Man kann den Inhalt auch so erzählen: der Vice President des Bostoner Multi GTX räumt auf dem Höhepunkt der amerikanischen Rezession auf einer Presskonferenz für Börsenanalysten ein, dass der Schiffbau des Unternehmens für das nächste Geschäftsjahr keine Gewinnerwartungen ankündigen kann. Nach seiner Rückkehr erfährt er, dass seine Offenheit ein Brandbeschleuniger für das längst beschlossene Downsizing gewesen ist. Der traditionelle Unternehmenszweig von GTX wird zerschlagen, Hunderte werden entlassen. Gleichzeitig verstärkt der Multi seine Anstrengungen, den Shareholder Value des börsennotierten Unternehmens zu erhöhen, um sich gegen feindliche Übernahmebemühungen abzusichern. Einer erneuten Entlassungswelle fallen diesmal auch prominente Köpfe der Führungsetage zum Opfer. Am Ende kommt es dennoch zu einem Börsendeal, bei dem der Mehrheitseigner von GTX einen dreistelligen Millionenbetrag einstreicht, während sein ältester und mittlerweile gefeuerter Mitstreiter ohne eigenes Zutun ebenfalls Multimillionär wird.

Gut, das hört sich an, als wäre Upton Sinclair aus dem Grabe gestiegen, um mit scharfen und grob konturierten Pinselstrichen eine harsche Kapitalismuskritik auf die Leinwand zu werfen. Und wenn man der Programmatik des längst vergessenen sozialistischen Realismus folgt, dann müsste in den Figuren nicht nur die historisch korrekte Darstellung der Wirklichkeit transportieren, sondern auch etwas von dem revolutionären Geist verkörpern, der eine umwälzende Veränderung der Verhältnisse wenigstens ankündigt.

Doch hoppla, wie sind in Hollywood und dort werden Geschichten anders erzählt. Wenn dort Mitglieder der Führungskaste abstürzen, dann enden sie wie in „There will be Blood“ im Wahnsinn oder müssen ihren Porsche verkaufen. Was nun schlimmer ist, kann sich jeder selbst ausmalen.
Wells führt dies an drei Figuren vor. Da ist zunächst der aufstrebende Starverkäufer Bobby Walker (Ben Affleck), der unmittelbar vor seiner Entlassung noch mit seinem neuen Bahnrekord auf dem Golfparcours prahlt. Gut ausgebildet, optimistisch und erfolgsverwöhnt ist es für ihn nur eine Frage der Seite, bis er wieder einen 100.000-Dollar-Job findet, natürlich mit Boni. Und da ist Phil Woodward (Chris Cooper), der sich in 30 Jahren vom Arbeiter in das obere Management hochgearbeitet hat und gramgebeugt ein Opfer der zweiten Entlassungswelle wird, aber dann doch davon Abstand nimmt, alle mit der Kalaschnikow umzulegen. Und als letzte exemplarische Figur sehen wir Tommy Lee Jones als Gene McClary, den zweiten Mann des Unternehmens, der letztendlich auch gefeuert wird und griesgrämig von den Zeiten träumt, in denen er noch ‚richtige‘ Schiffe bauen durfte, anstatt sich um die aktuellen Börsennotierungen kümmern zu müssen. Allerdings mag er auch die 5000-Dollar-Suiten, die der Beruf so mit sich bringt und darf sich darüber hinaus auch mit eben jener Personalchefin sexuell vergnügen, die ihn mit äußerstem Bedauern seine Kündigung ausgehändigt hat.

Völlig legale Wirtschaftskriminalität
Satire? Kolportage?
Mitnichten. In John Wells („The West Wing“) Wirtschaftskrimi „The Company Men“ geht es nicht darum, uns für die Figuren zu erwärmen. Und das das kriminelle Element ist nicht daran festzumachen, dass sich irgendein Firmenboss ganz legal eine goldene Nase verdient, sondern dass sich erfolgsverwöhnte Macher unangreifbar halten und plötzlich mit ihrem relativen Wert konfrontiert werden. Wobei das Wörtchen ‚relativ‘ im Fall nach unten keine Grenzen kennt und die Protagonisten nicht einmal gelernt haben, was diesen freien Fall bremsen könnte. Bis auf Woodward, der sich später das Leben nehmen wird, sind sie irgendwie asozial, und das im einem Sinne, der sie selbst völlig besinnungslos macht.

John Wells meint es also ziemlich ernst und so erzählt mit besonderer Freude am Detail überwiegend vom Abstieg Walkers, der seine Büro-Habseligkeiten in einem Schuhkarton mitnimmt und in einer Reintegrationsmaßnahme für Manager lernen soll, erneut seinen Individualismus und seinen Erfolgshunger zu stärken. An Anfang glaubt Walker noch, einen 70.000-Dollar in Arkansas ablehnen zu können, dann klammert er sich an seine Mitglied-schaft im Golfclub, während seine Frau schon pragmatisch das häusliche Downsizing betreibt. Und schließlich ist der Porsche dran. Aber das ist längst nicht das Ende, denn im weiteren Verlauf des langen ungebremsten Falls zieht er mit seiner Familie bei seinen Schwiegereltern ein und verdingt sich als Hilfsarbeiter bei seinem ungeliebten Schwager Jack Dolan (Kevin Costner), der als stocksolider Bauhandwerker ein kleines Unternehmen leitet. Hier rächt sich das Leben gründlich an ihm, denn Walker hat bald Schwielen an den Händen, ohne etwas Rechtes zu leisten, während ihm Dolan aus familiärer Solidarität am Ende der Woche einen Bonus von 200 Dollar in die Lohntüte stopft.

Ein konditionierter Anti-Held
Natürlich sieht das nach einer sozialen Rosskur aus, die vordergründig betrachtet den Helden am einfachen ehrlichen Leben des Handwerkes genesen lassen soll. Und tatsächlich schliddert Wells nur ganz haarscharf an diesem Klischee vorbei, etwa dann, wenn er zeigt, dass Walker durch harte körperliche Arbeit und das veränderte soziale Milieu seiner Familie und besonders seinen Kindern wieder nähert kommt. Da darf auch mal ruhig ein Baumhaus gebaut werden.
Aber wer genau hinschaut, der sieht etwas anderes: Walker ist und bleibt ein Anti-Held, der zwar einige Sympathiepunkte sammeln darf, weil er auf fasst unschuldige Weise sehr naiv ist, aber weiterhin mit eisernem Tunnelblick verrät, dass er seiner ökonomischen Konditionierung nicht entrinnen kann. Als sein Schwager Überstunden macht, weil er seinen Mitarbeitern diese nicht bezahlen kann, packt Walker ungerührt seine Sachen und geht nach Hause. Erst als er einen Job findet, spendiert er seinem Schwager großzügig ein paar Überstunden – er kann es sich nun leisten!
Es sind diese Nuancen, die mir an Wells‘ Film so gefallen haben. Jene Mischung aus fehlender Empathie und nie gelernter Solidarität, die aus einer Figur wie Bobby Walker eine depravierte Person macht, die einfach nicht anders kann, als so zu funktionieren, wie sie es gelernt hat. Und wenn am Ende Phil Woodward beerdigt worden ist und Gene McClary seine Millionen in ein marodes Schiffbau-Unternehmen investiert, ist auch Walker zusammen mit einigen seiner arbeitslosen Kollegen mit an Bord, um das Unternehmen flott zu machen. Wie ein Stehaufmännchen spult er in der Schlusseinstellung sein erlerntes Repertoire ab.
In der überaus erfolgreichen TV-Serie „The Walking Dead“ heißen die wie ferngelenkt umherstreunenden Zombies übrigens nicht Zombies, sondern ‚Walker‘. Man muss schon einige Zeit nachdenken, um zu erkennen, dass John Wells keinen aussöhnenden Film gemacht hat, sondern eine bitterböse gallige Satire.

Noten: BigDoc, Melonie, Mr. Mendez = 2,5, Klawer = 3

Pressespiegel

The Ides of March

Schon oft gab es Filme über das Strippenziehen im Hintergrund amerikanischer Polit-Größen: Satiren, Skandal-Dramen, immer wieder Thriller. Dagegen fällt George Clooneys Backstage-Blick hinter die Polit-Bühne vergleichsweise nüchtern aus – umso erschreckender!... Ein dicht gesponnenes, souverän inszeniertes Polit-Drama.“ (Walli Müller, Bayern 3)
 

„Clooney … ist (er) nun allerdings nicht in der Lage, seinen Figuren für ihren Glauben an Politik mehr als ein paar Stichworte (Loyalität, Bürgerrechte, Demokrat sein) mitzugeben. Sein Präsidentschaftskandidat ist ein charismatischer Strahlemann, Eigenschaften hat er keine, Ideale, auch vorgebliche: Fehlanzeige. Die eigentlichen Inhalte von Politik sind vollkommen austauschbar. Der Zynismus, der den Protagonisten Stephen letztlich übermannt, hat von Anfang an gewonnen.“ (Frédéric Jaeger, critic.de)

„Das Kandidatengeschubse um Öffentlichkeit und mediale Präsenz, die kalte Pragmatik bei der Wahl der Machtgefährten, das alles fügt sich bei Clooney zu einem shakespeareschen Königsdrama mit zwei sehr eindeutigen Botschaften. Erstens: Das Volk muss besser sein als seine Regierung. Und zweitens: Das Kino des George Clooney glaubt an die aufklärerische Kraft des Politfilms in der Tradition von Alan J. Pakula oder Sydney Pollack. Das mag vielleicht altmodisch sein, ist aber auch ungeheuer redlich.“ (DIE ZEIT, ohne Autorenangabe).
 

„The Ides of March ist die Adaption eines Theaterstücks und war bereits vor Jahren zum Dreh angesetzt – das Projekt habe aber nicht zur Stimmung des Obama-Aufbruchs gepasst, sagt der Regisseur. Wenn der Film jetzt ins Kino kommt, drückt sich darin sicherlich die Enttäuschung der Hollywoodlinken über den Opportunismus des amtierenden Präsidenten, seine Rückzüge in der Sozial-, Bildungs- und Wirtschaftspolitik aus. Eine Enttäuschung, die Clooneys Freund Matt Damon unmissverständlich formuliert hat: Obama habe sein Mandat verfehlt, auf »audacity«, auf Mut, sei nicht mehr zu hoffen. Die Konstruktion des Plots in The Ides of March, die unoriginelle Fokussierung auf einen libidinösen Fehltritt des Spitzenpolitikers, entschärft den Befund freilich wieder: Es braucht heute gar keine Skandale mehr, um den Demokraten den Schneid abzukaufen – Obama hat sein Programm auch ohne eine Monica im Hinterzimmer geopfert. So funktioniert der Film unterm Strich wie eine etwas kriminellere Version der Serie »The West Wing« – unterhaltend, informiert, mit einer feinen schauspielerischen Ensembleleistung und atmosphärischen Schauplätzen, aber ohne echte Sprengkraft.“ (Sabine Horst, epd-film)
 

„Clooney scheint nach seiner etwas locker geratenen Football-Komödie Leatherheads nun also doch willens und in der Lage, als Nachfolger seines langjährigen Mentors Steven Soderbergh die Tradition politisch unbequemer, komplexer Ensemblefilme auf höchstem Niveau fortzuführen. Die Kontakte zu ähnlich mutigen Schauspielern, Produzenten und Autoren hat er, das inszenatorische Können sowieso, da werden die ganz großen Preise nicht fernbleiben. Man spekuliert bereits, ob The Ides of March dieses Jahr den Oscar als bester Film gewinnen kann. Das ist nebensächlich. Wichtig ist, dass er ihn verdient hätte.“ (Daniel Bickermann, SCHNITT)
 

Company Men

„Der Held des Krisenfilms rettet nicht die Welt und verhindert auch nicht die Auswirkungen einer Finanzkrise. Sein Triumph ist nur durch die individuelle Anpassung an eine neue Situation möglich. Bobbys neue Einstellung besiegt die Krise nicht, aber degradiert sie zum Diskurs und ordnet sie damit dem wieder gestärkten Ego unter. Die Odyssee des Helden ist seine Entwicklung vom überzeugten Diener des Systems zum geläuterten Zyniker – nicht mehr als eine vorläufige Überlebenstaktik in der nach oben neu vermessenen Zone der Verwundbarkeit.“
(Till Kaditzke, critic.de) 



„Mach dich frei von Besitz, dann wirst du frei! So lautet die Botschaft sowohl in der Arbeitslosen-Schnurre "Larry Crowne", die nicht zufällig zu großen Teilen auf einem Garagenflohmarkt spielt, als auch in der "Wall Street"-Fortsetzung vom vergangenen Jahr. Die böse Welt der Spekulationen und Renditesteigerungen wird einfach mit einem puscheligen Nachbarschafts- und Familienkosmos vertauscht, der Raubtier-Kapitalismus verwandelt sich so in einen Streichelzoo. Auch "The Company Men" folgt streckenweise dieser Logik.“ (Christian Buß, SPIEGEL online)


„Was Regisseur John Wells seinem Publikum … jedoch sagen wollte, bleibt sein wohlgehütetes Geheimnis. Wahrscheinlich gar nichts, außer »Ich will einen Preis!«. Aus jeder Pore seines Werks dringen anbiedernde und gefällige Oscar-Ambitionen, die zu nichts führen als schön anzuschauender Prestigeunterhaltung, die sich furchtbar engagiert und problembewusst gibt, sich aber eigentlich sehr darin gefällt, offene Türen einzurennen und das angeschlagene Ego des Mittelstandes mit men-schelnden Durchhalteparolen aufzupeppeln… Das größte Problem sind jedoch die Bilder der großen Kameralegende Roger Deakins, der sonst für die Coen-Brüder und Sam Mendes fotographiert. Nicht dass Deakins hier versagen würde. Ganz im Gegenteil: seine Bilder sind von einer solch aufgeräumten Perfektion, dass sich die Frage stellt, ob es wirklich der richtige Weg sein kann, die zermürbende und entwürdigende Erfahrung, »wegrationalisiert« zu werden, mit so viel Pathos in solch wohl-kadrierten Tableaux einzufangen.“ (Robert Cherkowski, SCHNITT)


„Wells, der erfolgreiche Fernsehserien wie „The West Wing“ und „Emergency Room“ produziert und insgesamt 55 Emmys dafür eingeheimst hat, kann sich bei seinem Debüt als Spielfilmregisseur immerhin auf das visuelle Gespür des Kameramanns Roger Deakins stützen. Dessen Fotografie zählt zu den Pluspunkten des Films, der in einem herbstlich entlaubten, dann winterlichen Boston siedelt. Der Lieblingskameramann der Coen-Brüder hat die passenden Bilder für das kühl-funktionale Bürolabyrinth der Firma gefunden, für das auf Stil getrimmte Ambiente der Einfamilienhäuser und die nach Sägespänen riechende Welt des Baugewerbes, in der Walker zwischenzeitlich Zuflucht findet.“
(Jens Hinrichsen, WELT online)

Sonntag, 1. Januar 2012

Top Twenty 2011


Mit 56 gesichteten Filmen fiel das Kinojahr doch mager aus – dies entspricht einem Film pro Kalenderwoche – und nur 1x waren mehr als die Hälfte der Filmclub-Mitglieder im Kino. Dafür konnten sechs Filme aus den Top Twenty per Bluray vorgestellt werden, was schon ein kleiner Techniksprung ist.
Die inhaltliche Qualität der Top-Filme kann sich sehen lassen: das französische Flüchtlingsdrama „Welcome“ von Phillippe Lioret gelangte gleich zu Beginn des Jahres auf Platz 1. „Welcome“ ist ausführlich reszensiert worden, deshalb nur der Hinweis, dass dies wohl für lange Zeit der einzige Film bleiben wird, der vor den Mitgliedern eines europäischen Parlaments aufgeführt wurde. In der zweiten Jahreshälfte stieß dann Susanne Biers „In a Better World“ auf den geteilten 1. Platz. Zu Recht, denn Biers Drama rührt an moralische Grundfragen, und zwar mit einer emotionalen Wucht, die keinen kalt lassen kann.
Auf Platz und 3 und 4 landeten zwei Independent Movies, was ich persönlich doch sehr erfreulich finde, weil dies Filme sind, die im Kino weitgehend keine Chance haben und bestenfalls mal auf ARTE oder 3sat gezeigt werden.
Steven Spielberg hat mit „Tim und Struppi“ endlich einen 3 D-Film vorgelegt, der wirklich etwas aus dem Raum macht und kein billiges Jahrmarktsspektakel ist. Den 5. Platz hat er sich redlich verdient. Auch Christopher Nolans „Inception“ ist wie Spielbergs Film formal bahnbrechend und zudem ein Meilenstein in der Geschichte des Sci-Fi-Genres. Das zeigt die Häufigkeit, mit der dieser Film in anderen Genrekritiken zitiert wird. Meist ein Anzeichen, dass da ein Klassiker heranwächst. Zwei Blockbuster, die jeden Cent wert waren.
Mit „Inception" beginnt ein Block von mehreren Filme, die sich alle den 6. Platz geteilt haben. Fassen wir zusammen: Nach dem emotional überzeugenden „Crazy Heart“ möchte ich den Blick auf Stephen Frears „Immer Drama um Tamara“ lenken, denn diese flotte Komödie spielt in einer anderen Liga als das, was wir hierzulande als Komödie vorgesetzt bekommen – und es zeigt, dass das britische Kino bei uns immer gut ankommt, s.a. Platz 14 für Ken Loachs „Looking for Eric“. Mit „The Fighter“ schaffte es wieder einmal ein Boxfilm in die Top Ten: David O. Russells Film kann es auch dank exzellenter Darsteller wie Christian Bale und Mark Wahlberg mit „The Wrestler“ aufnehmen und hat zudem die historische Authentizität als Pluspunkt zu verbuchen. Der letzte Film auf dem geteilten 6. Platz ist „Harry Potter 7.1.“, um es mal im Webjargon auf den Punkt zu bringen. Gut, hier könnte man auch gleich Teil 2 dranhängen.
Aus den Filmen ab Platz 11 möchte ich besonders Lars Kraumes „Die kommenden Tage“ hervorheben: gelungenes deutsches Genrekino, nicht ohne Ecken und Kanten, aber mutig und möglicherweise in ein paar Jahren aktueller als einem lieb sein kann.

Kommen wir zu den Flops, den Grausamkeiten, die uns das Kino in den vergangenen 12 Monaten vorgesetzt hat.

Platz 1 nimmt ziemlich ungefährdet ein Film ein, der nur gedreht wurde, weil er als Trailer des Grindhouse Double-Feature von Tarentino/Rodriguez große Popularität erlangte. Dieser Mythos wurde durch die bestialisch schlechte Verfilmung zur Gänze demontiert. Der SPIEGEL nannte den Film „unerträglich“. Dem ist nichts hinzuzufügen. Auf Platz 2 landete ein Film, den ich für einen der besten Sci-Fi-Filme des vergangenen Jahrzehnts halte: „Splice – Das Genexperiment“. Die Geschichte eines Gen-Monsters, das zunächst beim Zuschauer süße Beschützerinstinkte auslöst, um dann nach der Reifungsphase als multi-sexuelles Wesen mit Papa und Mama..., na ja, das Folgende erspare ich mir. Dem Rest des Filmclubs, der sich nur schwer aus der Erstarrung lösen konnte, war dies eindeutig zu viel. Thumbs down! Interessant ist auch der Absturz des Starschreibers Paul Haggis, dem wir einige gute Filme verdanken. Die todlangweiligen „72 Stunden“ waren auch durch die Darsteller nicht zu retten – Kino von der Stange. Und nicht mal gut gemacht.
Aber auch andere Größen des Kinos landeten in unserer Flop-Liste: ich verweise nur auf den exzellenten „Source Code“ von Duncan Jones („Moon“). Ein Film, der für das Verständnis des Plots explizite Kenntnisse der Quantenphysik voraussetzt, kann in unserem an sich hart gesottenen Club leider keine Punkte machen. Dass ich diesen Film nachdrücklich empfehle, ist ein anderes Thema.
Üblicherweise präsentiere ich nur die 10 schlimmsten Flops, aber diesmal mache wegen der Prominenz der Opfer eine Ausnahme: auf Platz 11 und 12 liefen mit Martin Scorseses „Shutter Island“ und Oliver Stones „Wall Street“-Sequel zwei Regisseure ein, die uns schon bessere Zeiten gesehen haben. Pech gehabt.

Abschließend möchte ich noch einen Blick auf die Rubrik "Close but no cigar" werfen. Hier landen Filme, die nur von zwei Clubmitgliedern gesehen wurden. Platz 1 belegt hier der neue Film von Terrence Malick "The Tree of Life", den ich (Schande über mich) wegen seiner Länge und der außergewöhnlichen Erzählweise nicht im Club vorgestellt habe. Mir schwante Böses. Klawer und ich gaben dem Film, der hier ausführlich besprochen wurde, eine 1,5.
Sehr gut hat uns beiden auch "Ein Sommer in New York - The Visitor" von Thomas McCarthy gefallen - ein sensibles Migrationsdrama, das eine glatte 2 erhielt. Auf Platz 3 landete der von Melonie und mir gesichtete "Ondine - Das Mädchen aus dem Meer" von Neil Jordan. Note: 2,25.


Die bemerkenswerteste Serie des vergangenen Jahres war für Mr. Mendez und mich "The Walking Dead". Und da ich in den "Best of" eigentlich nicht auf Serien eingehe, möchte ich den Regelbruch gleich richtig genießen und meinen privaten Favoriten nennen: "Mad Men", den man dank ZDF neo hierzulande sehen darf, hat mittlerweile eine Subtilität in der Themenwahl und Figurenzeichnung erreicht, die mir immer wieder die Schuhe auszieht. Gleich dahinter rangiert "Breaking Bad" - dank ARTE! Und die auf lange Sicht gehaltvollste Serie verdanken wir 3sat: "In Treatment". Aber selbst 3sat wagt es nur selten, diese Reise in das Seelenleben vor Mitternacht zu senden.
Ich erwähne die Sender auch deshalb mit Nachdruck, weil Kurt Beck (SPD) gerade vor einigen Wochen forderte, dass die Öffentlich-Rechtlichen doch besser ihre Nischenkanäle einstampfen sollten, um sich neben ARTE und 3sat mehr auf PHOENIX zu konzentrieren: http://www.dwdl.de/nachrichten/34113/ard__zdf_beck_will_einstellung_der_digitalsender/
Mal abgesehen davon, dass dadurch zahlreiche Arbeitsplätze verloren gehen würden, wäre dies ein Supergau für die elende Serienlandschaft in diesem Lande. Wenn man erlebt, wie einige Sender angesichts der heiligen Kuh 'Quote' mit ihrer Kundschaft umgehen, dann kann man nur hoffen, dass diese hanebüchene Idee schnell in der Versenkung verschwindet. Schlimm genug, dass "The Shield" und "The Wire" im deutschen Mainstream-TV nicht zu platzieren waren, so wäre der Beck'sche Vorschlag der endgültige Genickbruch für jenes Phänomen, dass mittlerweile zu Recht "Quality TV" genannt wird.

Allen treuen Lesers dieses Blogs wünsche ich filmreiches Neues Jahr 2012!