Dienstag, 25. August 2015

Fear The Walking Dead

Es ist schon erstaunlich, wie reibungslos gewisse Automatismen greifen: obwohl in der Pilot-Folge von „Fear The Walking“ kaum Zombies und erst recht keine Gore-Effekte zu sehen sind, wurde der Folge „Pilot“ sogleich eine Altersfreigabe ab 18 Jahren aufs Auge gedrückt. Vielleicht ist das ja Teil des Marketings.

Das Spin-Off der Untoten-Serie „The Walking Dead“ dürfte als Serien-Neustart wohl das Sommer-Highlight werden. Über 10 Mio. Zuschauer waren in den USA am Start, AMC platzierte sich damit nicht nur in den Top Five der erfolgreichsten Serien-Premieren auf Platz 1, sondern ist in diesem Ranking gleich dreimal mit eigenen Produkten vertreten. Zuletzt hatte „Better Call Saul“ die Pool Position.

Bei der Konzipierung des Spin-Offs dürften die hart umworbenen 18- bis 49-Jährigen im Fokus gestanden haben. Die jüngeren, zahlungskräftigen Zuschauer bilden in dieser Zielgruppe den demografisch relevanten Kern. Sie drücken nicht nur an der Kinokasse die meisten Dollar ab. Wer also genau analysiert hat, welche Zuschauer sich am stärksten an das erfolgreiche Original gebunden haben, sollte als Autor im „Writer’s Room“ keine Probleme mit der Grobplanung des Personals bekommen haben. Klar, Erwachsene stellen die Hauptfiguren, aber daneben gibt es junge Gesichter – viele junge Gesichter. Teenager-Dystopien sind en vogue.

In „Fear The Walking Dead“ (FTWD) ist es ein Junkie aus gutem Hause, der den ersten Zombie sieht. Nick (Frank Dillane, „Sense 8“) ist noch ziemlich „zu“, als er morgens in einer maroden Kirche nicht nur nach seinen Junkie-Kollegen, sondern auch nach seiner Freundin sucht. Dass diese ihm nicht fröhlich lächelnd mit einer Tüte voller Brötchen gegenübertritt, dürfte wohl allen klar sein, die sich ein wenig mit der Dramaturgie von „The Walking Dead“ (TWD) auskennen. Natürlich sitzt die Gute beim Frühstück, aber das ist ziemlich unappetitlich anzuschauen, und was Nick sonst noch sieht, treibt ihn so entsetzt aus dem Gotteshaus, dass er prompt vor ein Auto läuft.

Bereits in „John Carpenter’s Prince of Darkness“ war eine Kirche der Ausgangspunkt allen Übels. In FTWD werden Nicks Eltern Madison (Kim Dickens, „Treme“, „Sons of Anarchy“, „House of Cards“) und Travis (Cliff Curtis, „Body of Proof“), die beide an der gleichen Schule arbeiten, die Kirche noch einmal aufsuchen, aber außer viel Blut gibt es dort nichts mehr, was zur Aufklärung beitragen kann. Und Nick liegt derweil in L.A. in einem Krankenhaus und verschweigt zunächst einmal beharrlich, was er gesehen hat. Ihm ist nicht klar, ob das „Zeug“, das er genommen hat, ihm nicht einige saftige Halluzinationen beschert hat.


Auf den ersten Blick ein konventioneller Auftakt

Die erste Episode von „Fear The Walking Dead“ wurde von Robert Kirkman, dem Schöpfer der Comic-Serie „The Walking Dead“, und Showrunner Dave Erickson („Sons of Anarchy“) geschrieben. Regie führte der Serienprofi Adam Davidson (u.a. „Treme“, „Fringe“, „True Blood“, „Dexter“, „Lost“). Regisseure werden, wie es im US-TV häufig der Fall ist, nur für eine Episode angeheuert und reichen den Stab dann weiter. In FTWD hat Davidson immerhin drei Episoden zu verantworten.

Was Davidson in „Pilot“ in gediegenen wackelfreien Bildern zeigt, haben sich indes Kirkman & Erickson ausgedacht. Allerdings ohne Zugriff auf eine clever durchkonstruierte Comicserie. „Fear The Walking Dead“ ist ein Unikat. 
Kirkman & Erickson erzählen die Geschichte einer keineswegs normalen Patchwork-Family aus dem amerikanischen Mittelstand, die (natürlich) mit respektlosen Problemkindern zu kämpfen hat. Madison ist die Mutter von Nick und Alicia (Alycia Debnam-Carey, „The 100“), die im Gegensatz zu ihrem Bruder für bürgerliche Dignität steht, während Travis sich mit einem zornigen Sohn aus erster Ehe herumschlagen muss, Chris (Lorenzo James Henrie), der seinen Vater für die Scheidung verantwortlich macht und nur kurz in „Pilot“ zu sehen ist. Womöglich wird er das Ende von Folge 2 nicht erleben.

Das alles könnte auch der arg konventionelle Auftakt einer biederen Familienserie sein, die auf den ersten Blick so uninspiriert und klischeehaft agiert, dass man ein frühes Serienaus mangels Quote befürchten muss. Letzteres erscheint ausgeschlossen, und da sind ja noch die Zombies, die in den Köpfen der Zuschauer herumspuken.
Aber nur dort. In der Diegese von FTWD gibt es nämlich keine pop-kulturellen Referenzen, keine Medienerfahrungen, die das Handeln der Protagonisten steuern. Auch Nick hat wohl noch nie einen Zombiefilm gesehen, George A. Romero ist ein Fremdwort für ihn und „The Walking Dead“ wurde in Los Angeles wohl noch nicht im Fernsehen gezeigt. Zombies, so viel steht fest, erkennen sie nicht mal, wenn sie ihnen bei der Mahlzeit zuschauen. In den Köpfen der Zuschauer rumort es dagegen kräftig. Das nennt man Suspense.
In der ersten Folge besteht die Spannung also darin, dass die Hauptfiguren fest die Augen verschließen und nicht verstehen wollen, was sie sehen. Nur der Schul-Außenseiter Tobias ahnt, was da wohl auf alle zukommt und trägt bereits ein Küchenmesser mit sich herum. Und wenn an der Schule, an der Madison und Travis arbeiten, in einem Verkehrsvideo ein Mann gezeigt wird, der Cops anfällt und trotz unzähliger Schüsse der Cops immer wieder aufsteht, dann halten die Teens dies für einen „Fake“. Das ist zwar nicht ganz so hirnrissig wie die Dämlichkeit, die man anfangs in „The Strain“ zu sehen bekommt, aber beileibe noch nicht originell genug, um in freudiger Erwartung auf die nächste Episode von FTWD zu warten. Es ist aber stringent genug, um die Story nachvollziehbar weiterzuentwickeln.


Vorschusslorbeeren sind überflüssig, „Thumbs down“ aber auch

Ob der ruhige Serienauftakt das kommende Erzähltempo andeutet und ob die Figuren für die 6-teilige Staffel genug Erzählstoff bieten, wird zu sehen sein. Immerhin bietet der Auftakt etwas von dem sarkastisch-metaphernreichen Humor des Originals, etwa wenn Travis in seiner Schulklasse Jack Londons Kurzgeschichte „To Build a Fire“ deutet: sie lehre uns, was man tun muss, um in extremen Situationen nicht zu sterben. Aber er weiß auch: „Nature always wins“. Dass hätte auch Rick nicht besser formulieren können.
Robert Kirkman hatte bereits im Vorfeld angedeutet, dass das Spin-Off zunächst „slow“ sein würde. Erzählt wird zunächst das, was Rick Grimes im Krankenhaus verschlafen hat: die Geschichte des Outbreaks, die schleichende Überwältigung der Gesellschaft durch Untote, von denen man ja weiß, dass sie nicht nur durch Beißen für Nachwuchs sorgen, sondern ein Virus in sich tragen, dass auch alle anderen besitzen. Wer stirbt, erhebt sich nach kurzer Zeit und geht reflexhaft auf Nahrungssuche.



Einen Serienstart nach nur einer Episode zu bewerten, ist an sich unsinnig. Dennoch ist es ein spannendes Geschäft, ein Deuten der Erwartungen. An einem Vergleich mit dem Original kommt „Fear The Walking Dead“ also nicht vorbei. Nicht weil die neue Serie ein Spin-Off ist, sondern weil das Original wie ein Monolith in der Serienlandschaft steht und bereits TV-Geschichte geschrieben hat.
 Und dieser Vergleich kann nicht gut ausgehen.
Wer sich an den Auftakt von TWD erinnert, wird nämlich nicht vergessen haben, dass Frank Darabont seine Serie wie großes Kino angelegt hat. Eine Geschichte, die mit einem harmlosen Smalltalk über Eheprobleme beginnt und den Helden nach knapp einer Stunde mitten nach Atlanta führt, wo er neben einem Zombie im Panzer sitzt, während draußen Hunderte von Untoten sein Pferd auffressen. Das war pointiert, die Hauptfigur war charismatisch, ebenso wie die Figuren, die in der Folgeepisode eingeführt wurden. Die erste Season von TWD war wie ein Fausthieb und es war keine geringe Leistung, nach Darabonts Ausscheiden das Niveau auf einem annähernd vergleichbaren Level zu halten. Mit „Fear The Walking Dead“ muss man dagegen Geduld haben. Vorschusslorbeeren sind genauso überflüssig wie ein zu frühes Senken des Daumens.

Etwas Gutes gibt es auf jeden Fall zu berichten: Die Bildqualität, die Amazon beim Serienstart servierte, war referenzverdächtig. Die Mär vom „gewollt schlechten Look“ dürfte auserzählt sein. Offenbar hat AMC in sein Premium-Produkt kräftig investiert, er wurde mit adäquater Technik produziert und nur ganz Hartleibige dürften daran verzweifeln, dass die Bilder scharf sind, die Kontraste stimmen und die Schwarzwerte exzellent sind. Nun muss man nur abwarten, was die Presswerke mit diesem Produkt anfangen. Vielleicht werden wieder zu viele Episoden auf einen Datenträger gepresst und die „Dirty Look“-Apologeten können kräftig durchatmen.

Kräftig investiert hat wohl auch Amazon. Das Premium-Produkt wurde nicht in den kostenpflichtigen Bereich abgeschoben, sondern ist gratis im PRIME-Bereich zu sehen. Deutsch synchronisiert oder als OV, bereits einen Tag nach der US-Ausstrahlung. Damit hat AMAZON nicht nur Netflix aus dem Rennen geworfen, sondern auch FOX. Dass der Streaming-Anbieter mit „Fear The Walking Dead“ erfolgreich Werbung in eigener Sache betreiben wird, ist mit Sicherheit keine Risiko-Prognose.

Nach dem Ende der ersten Season folgt eine ausführliche Besprechung.

Fear The Walking Dead – USA 2015 – 6 Folgen – Idee / Showrunner: Robert Kirkman, Dave Erickson – D.: Kim Dickens, Cliff Curtis, Frank Dillane u.a. – Altersfreigabe: ab 18 Jahren

Montag, 10. August 2015

Unbroken

Angelina Jolies zweite Regiearbeit galt lange Zeit als Oscar-Kandidat. Die Geschichte des Olympiateilnehmers Louis Zamperini, der während des Zweiten Weltkriegs in der US-Air Force diente, in japanische Gefangenschaft geriet und dort „ungebrochen“ systematischer Folter widerstand, ist purer Kinostoff. Dennoch wurde aus „Unbroken“, besonders in Deutschland, ein handfester Skandalfilm.

Dezember 2014: „Unbroken“ ist der dritterfolgreichste Film an den amerikanischen Kinokassen. Die Macher gehören zum Who is Who des US-Kinos. Das Drehbuch haben u.a. Joel und Ethan Coen geschrieben, die erlesenen Bilder bringen Kamera-Genie Roger Deakins (u.a. „The Shawshank Redemption“, „Fargo“, „No Country for Old Men“, „Skyfall“) eine Nominierung für die Academy Awards ein. Und den Soundtrack besorgte der mehrfach preisgekrönte französische Komponist Alexandre Desplat („The Grand Budapest Hotel“, „The Imitation Game“). Was kann da schon schief gehen? Eine Menge. Zumindest für einige Kritiker. „Unbroken“ hat einen Teil der Prügel einstecken müssen, die eigentlich „American Sniper“ verdient hat.


Die Kamera ist der Held

1943: Mit einem Cold Open springt „Unbroken“ in einen Bombenangriff der Air Force auf die von den Japanern gehaltene Insel Nauru. Mit an Bord ist der Bombenschütze Louis Zamperini (Jack O’Connell), der nach dem Abwurf in schwindelnder Höhe verzweifelt versucht, die defekten Bombenklappen zu schließen. Das Flugzeug wird von der Flak mehrfach getroffen, die Landung auf der Basis ist ein kleines Wunder.
 Der zweite Einsatz der Crew, eine Rettungsmission, wird endgültig zum Desaster. Das schon vor Start bruchreife Flugzeug muss nach dem Ausfall mehrerer Motoren mitten auf dem Pazifik notwassern. Nur drei Crewmen überleben den Crash: Zamperini, der Crewman Mac (Finn Wittrock) und der Pilot Phil (Domhnall Gleeson, „Ex Machina“). 47 Tage lang treiben die Drei in Schlauchbooten auf dem Meer. Und bald kommen auch die Haie.

In „Unbroken“ ist zu Beginn die Kamera der eigentliche Held. Roger Deakins gelingen nicht nur dramatische, sondern auch präzise und stimmungsadäquate Bilder. Dies gilt erst recht für die Flashbacks, in denen Angelina Jolie im ersten Filmdrittel die Backstory Zamperinis erzählt. Der junge Louis (von C.J. Valleroy großartig gespielt) ist das Kind einer gutbürgerlichen italienischen Familie, aber im Gegensatz zu seinem Bruder Pete (Alex Russell) ist er ein Streuner, der klaut und raucht und wegen seiner italienischen Wurzeln auch mal Prügel von anderen Straßenkindern bezieht. Erst als ihn Pete an den Langlauf heranführt, entwickelt Louis zum ersten Mal Ehrgeiz und Disziplin.

Deakins Kamera fängt dies stilistisch überragend mit souveräner Kadrierung und eleganten Perspektiven ein, die mehr als nur ein wenig an die großen Kinofilme der 1960er Jahre erinnern. Es sind aber eher intime als monumentale Bilder, wenn Zamperini bei den Olympischen Sommerspielen 1936 in Berlin beim 5000 m-Lauf zwar nur Achter wird, aber die letzte Runde als Erster unter 60 Sekunden läuft. Angelina Jolie wollte einen klassischen Film machen – das ist ihr gelungen.

Den älteren Louis Zamperini spielt Jack O’Connell als Anti-Helden. Und das gelingt Jack O’Connell, der
als Rookie mit „Unbroken“ wohl den Durchbruch geschafft hat, überzeugend. Während er mit seinen Kameraden im Pazifik treibt, übernimmt er eher zurückhaltend die Rolle des Anführers. Als Mac heimlich die gemeinsamen Vorräte isst, reagiert er eher unschlüssig – ein Held sieht anders aus.
Angelina Jolie nimmt sich in diesen Sequenzen sehr viel Zeit. Der Film beginnt sein Erzähltempo auffällig zu drosseln. Das erbärmliche Dahinvegetieren in den Schlauchbooten wird mit akribischer Detailversessenheit und beinahe dokumentarisch geschildert: Fische werden gefangen, die Männer müssen das rohe Fleisch zunächst aber auskotzen, Regen wird mit Planen aufgefangen, Zamperini erzählt Geschichten, damit sich keine Agonie breit macht. Aber dann stirbt Mac an Entkräftung, nachdem die Drei den Angriff eines japanischen Tieffliegers zuvor noch knapp überlebt haben. „Unbroken“ wendet sich im Mittelteil trotz dieser Einlagen vom Timing vertrauter Actionmuster ab und nimmt eine konsequent naturalistische und beinahe schon zwanghaft penible Perspektive ein. Nicht jeder wird das spannend finden.

Als Louis und Phil nach 47 Tagen von einem japanischen Kriegsschiff aufgelesen werden, beginnt für Zamperini die Höllentour durch verschiedene Kriegsgefangenenlager. War der Film bereits zuvor schon langsam, so steigert sich der Inszenierungsstil von Angelina Jolie nun zu einem beinahe monotonen Bildfluss, der auf dramaturgische Spannungsmomente verzichtet. Nebenfiguren wie Phil verlieren sich in der Geschichte, neue Figuren werden weder ausgebaut noch erhalten sie eine Bedeutung, die über kurze One-Liner hinausgeht.
Im Fokus steht nun die Beziehung zwischen Zamperini und dem sadistischen Korporal Mutsuhiro „The Bird“ Watanabe (gespielt von dem japanischen Rock- und Hip-Hop-Musiker Takamasa Ishihara, Künstername: „Miyavi“). Trotz seines niederen Rangs ist Watanabe der Kommandant des Lagers und der berühmte Langläufer Zamperini wird zu seinem Lieblingsfeind. Es setzt Schläge und als der Amerikaner es ablehnt, für einen Radiosender in Tokio Propagandatexte zu sprechen, lässt ihn Watanabe von den Mitinsassen der Reihe nach mit der Faust ins Gesicht schlagen. Es sind mehr als 200 Männer im Lager.


"If I can take it, I can make it"

Also auf keinen Fall „Die Brücke am Kwai“. Eher ein dokumentarisch protokolliertes Dahinsiechen. Unterbrochen von sadistischen Einfällen Watanabes. Am Ende arbeiten die Gefangenen dem Tode nah auf Kohleschiffen und sind davon überzeigt, bei Kriegsende hingerichtet zu werden.
Zugegeben: „Unbroken“ ist ein dramaturgisches Rätsel. Der Film zerfällt in zwei Teile und nicht immer ist klar, wohin Angelina Jolies Reise führen soll. Nach einer klassisch anmutenden ersten Stunde, die großes Kino bietet, folgt eine naturalistische und detailverliebte Studie des barbarischen Lagerlebens, frei von psychologischen und dramaturgischen Elementen. „Unbroken“ bietet allen Konventionen zum Trotz nicht einmal einen finalen Showdown zwischen dem Helden und dem Schurken. Den hat es tatsächlich auch nicht gegeben.

Angelina Jolies „Unbroken“ folgt dabei über weite Strecken der Biografie „Unbroken. A World War II Story of Survival, Resilience, and Redemption“ (dts. „Unbeugsam. Eine wahre Geschichte von Widerstandskraft und Überlebenskampf“) von Laura Hillenbrand, ein Buch, das zum internationalen Bestseller wurde. Bereits mit ihrem Buch über das Wunderpferd Seabiscuit („Seabiscuit: An American Legend“, 2001, dts. „Seabiscuit. Mit dem Willen zum Erfolg“) hatte die am Chronischen Erschöpfungssymptom leidende Autorin offenbar ihr Thema gefunden.
Nach dem willenstarken Pferd nun also der willenstarke amerikanische Held? 

In einer Buchkritik der Süddeutschen Zeitung wurde die Autorin zwar als historisch präzise Chronistin bezeichnet, aber die Rezensentin konnte sich einen Seitenhieb nicht verkneifen: „Ohnehin besteht Hillenbrands Therapie offenbar darin, vom Krankenbett aus regelmäßig über notorische Abenteurer zu publizieren. Sie telefoniert, recherchiert, archiviert, kann ihre Kronzeugen aber nie treffen.“ Kolportage für tough guys?

„Unbroken“ wurde also bereits als Buch zum Politikum. Wahrgenommen wird nun der Film von Teilen der Kritik erst recht als heroische Verklärungsorgie, die – obwohl historisch weitgehend authentisch – einen moralisch überlegenen Ami vorführt, der von einem sadistischen Aufseher fast zu Tode gequält wird und dennoch immer wieder aufsteht, nicht nachgibt und seinen Widersacher durch pute Physis und Charakterstärke beinahe in einen Nervenzusammenbruch treibt. 

Die Schlüsselszene sieht man auf einigen Filmplakaten: Jack O’Connell stemmt als Louis Zamperini (für einige Kritiker in Jesus-Pose) einen tonnenschweren Balken hoch über seinen Kopf – lässt er ihn fallen, wird er auf der Stelle erschossen. Natürlich lässt er ihn nicht fallen, wird aber dennoch brutal von dem emotional bewegten Watanabe zusammengeschlagen.
"If I can take it, I can make it." 


Ein Film im falschen politischen Milieu

Ein amerikanischer Soldat, der von einem Asiaten gefoltert wird? Das geht natürlich nicht nach Abu Ghuraib und erst recht nicht nach der Veröffentlichung des CIA-Folterreports durch den US-Geheimdienstausschuss kurz vor der Premiere von „Unbroken“. Und so folgert die TAZ in ihrer Filmkritik: „Dass kein namhafter Kritiker die offensichtliche Problematik von „Unbroken“ thematisierte, ist eine Bankrotterklärung der US-amerikanischen Filmkritik“ (1).

Herber Tobak. Ganz abwegig ist das allerdings nicht. Filme sind auch unabhängig von den Intentionen ihrer Macher ideologische Vehikel. Die Geschichten über Kriegsgefangenen sind ein Topos, der nicht nur Historisches nacherzählt, sondern auch verborgene und ambivalente Wünsche der Zuschauer ausdrückt. 
Ein Beispiel: 1959 erzählte Fritz Umgelters Straßenfeger „Soweit die Füße tragen“ nicht durchgehend authentisch die Geschichte eines deutschen Kriegsgefangenen, dem die Flucht aus einem sibirischen Lager gelang. Mehrere Folgen lang sah man, wie sich der deutsche Landser Clemens Forell (Heinz Weiss) überwiegend zu Fuß von Ostsibirien in den Iran durchschlug. Halb Deutschland saß vor dem Fernseher. „Soweit die Füße tragen“ war eine prägende mediale Erfahrung, erzählte sie doch auch von einem deutschen Soldaten, der ganz offensichtlich kein Nazi war. Es war die Zeit, in der deutsche Staatsanwälte eher zögerlich gegen deutsche Kriegsverbrecher zu ermitteln begannen. Umgelters Film wurde daher wohl  als sauberes Geschichtsbild rezipiert. Angelina Jolies Film wird nun ebenfalls so etwas wie Geschichtsrevisionismus untergeschoben. Man sieht also, dass die Subtexte und das politisches Klima für die Deutung von Filmen oft entscheidender sind als die historischen Fakten.

Amerikanische Veteranenverbände liefen gegen diese Lesart Sturm und beharrten darauf, dass trotz Nagisa Oshimas „Merry Christmas, Mr. Lawrence“ (1983) die hohe Sterberate und die permanenten Misshandlungen amerikanischer Soldaten in japanischen Gefangenenlagern weiterhin einer Aufarbeitung bedürften.
Delikat werden derartige Referenzen, wenn man weiß, dass in Oshimas Film sowohl Homosexualität als auch interkulturelle Dissonanzen eine bedeutende Rolle spielen. Und in Jolies Film, dem wie Oshimas brutalem Film ästhetische Erlesenheit im Bildaufbau bescheinigt wurde, spielen ähnliche Motive eine diskrete Rolle, ganz zu schweigen davon, dass auch in „Merry Christmas, Mr. Lawrence“ zwei Musik-Ikonen (David Bowie und Ryuichi Sakamoto) in den Hauptrollen zu sehen waren. In „Unbroken“ erkennen Kritiker in dem ätherischen Miyavi nun etwas Vergleichbares, aber in das Aussehen des Darstellers wurde nun eine versteckte Homophobie der Regisseurin hineingedeutet.
Die Darstellung Watanabes in „Unbroken“ gibt dies aber nicht so recht her. Das mag auch daran liegen, dass im Film die Figur des sadistischen Japaners (der in Wirklichkeit bulliger aussah und sich als einer der meistgesuchten Kriegsverbrecher jahrelang in Japan verstecken musste) in ihrer Hassliebe psychologisch etwas indifferent und eindimensional bleibt. Das macht offen für beliebige Deutungen.

Summa summarum ist „Unbroken“ kein großer, aber ein beachtlicher Film geworden. Während ich „American Sniper“ als unerträglichen Propagandafilm wahrgenommen habe, ist Angelina Jolies Film ein brillant gefilmtes und inhaltlich erträgliches Biopic über einen durchweg interessanten Menschen – eine historische Episode, die sehenswert ist. 
Schaut man genau hin, dann ist das vermeintliche Heldenepos nicht zu entdecken. Jack O’Connells Version von Louis Zamperini ist eher die eines Mannes, der trotz seiner physischen Robustheit ein Mensch voller Zweifel bleibt. „Er hielt mich immer für besser als ich es bin“, erinnert sich der Olympionike in einer Schlüsselszene des Films an seinen Bruder.

Was darüber hinaus in „Unbroken“ so alles erkannt wird, ist weniger Ideologiekritik als vielmehr selbst Ideologie. Da kommt es schon zu reichlich verstiegenen Kritikerideen. Dabei wurde Angelina Jolie, deren Vita als Schauspielerin und aktive Menschenrechtsaktivistin solche Verdachtsmomente eigentlich ad absurdum führen sollte, angelastet, dass sie neben dem „reaktionären Heldenkitsch“ (Andreas Borcholte, SPIEGEL) dem Zuschauer auch noch verschwiegen hat, dass sich der Agnostiker Louis Zamperini nach Kriegsende einer fundamentalchristlichen Bewegung anschloss. Klar, das reicht. Erstaunlich, dass so oft mit Schaum vor dem Mund geschrieben wird.
Möglicherweise könnte alles noch spannend werden. Auch für die Kritiker. Unbestätigten Quellen zufolge hat Universal den ursprünglichen Cut des Films völlig umgeschnitten, um aus der dunkleren und deutlich differenzierteren Arthouse-Version der Regisseurin einen kassentauglichen Film (2) zu machen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Director’s Cut für eine Überraschung sorgt.

Unbroken - USA 2014 - Regie: Angelina Jolie. Buch: Joel und Ethan Coen, Richard LaGravanese, William Nicholson (nach dem Buch „Unbroken. A World War II Story of Survival, Resilience, and Redemption“ von Laura Hillenbrand). Kamera: Roger Deakins. Musik: Alexandre Desplat. D.: Jack O'Connell, Domnhall Gleason, Takamasa Ishihara. Laufzeit: 137 Minuten. FSK: ab 12 Jahren.


(1) http://www.taz.de/!5023804/
(2) http://pagesix.com/2014/11/29/jolies-unbroken-directors-cut-too-arthouse-for-universal/

Noten: BigDoc = 2,5

Samstag, 1. August 2015

Pride

Ganz in der Tradition von Mike Leigh, Stephen Frears und Ken Loach erzählt der Theater- und Filmregisseur Matthew Warchus in „Pride“ von einer seltsamen Begegnung der dritten Art: Schwule und Lesben unterstützen einen Streik stockkonservativer Bergarbeiter und überwinden in Stein gemeißelte Vorurteile. Zu schön, um wahr zu sein? Mitnichten. Der zweite Film von Matthew Warchus basiert auf einer wahren Begebenheit.

Manchmal hilft das Kennenlernen. Ähnlich wie bei uns, wo Flüchtlinge, die man nicht kennt, als überdimensional gefährlich wahrgenommen werden, konnten sich auch die Bergarbeiter im walisischen Onllwyn nicht vorstellen, ausgerechnet von Schwulen und Lesben Hilfe zu bekommen. Man kannte sich nicht und Vorurteile ersetzen in solchen Fällen lebendige Erfahrungen.
„Pride“ versetzt uns ins Jahr 1984. In Großbritannien streiken die Bergbauarbeiter gegen geplante Zechenschließungen und einschneidenden Jobabbau. Dann geschieht etwas Unerwartetes: Während der Londoner „Gay Pride“-Demo erkennt eine Handvoll schwuler und lesbischer Aktivisten in den politisch bekämpften und von Teilen der Medien ausgegrenzten Bergarbeitern so etwas wie Seelenverwandte. Sie beginnen Geld zu sammeln, nicht ganz ohne Widerstand in den eigenen Reihen, aber dann gelingt es ihnen nicht, das Geld an den Mann zu bringen. Wertkonservativ ausgerichtet und mehr als ein bisschen homophob, lehnen die Gewerkschaften die Unterstützung aus dem anderen Lager ab. Also beschließt die Truppe um die Aktivisten Mike (Joseph Gilgun) und Mark (Ben Schnetzer), unterstützt unter anderem von dem schüchternen Joe (George McKay), der radikalen Lesbe Steph (Fays Marsay) und dem charismatischen Jonathan (Dominic West, „The Wire“), die nicht geringe Summe direkt vor Ort abzuliefern. Mit einem klapprigen Bus brechen sie nach Südwales auf. Der unerbetene Besuch aus London stößt bei den ungläubigen Bergarbeitern und ihren Familien zunächst nicht auf Begeisterung.


„Enemy within“

Der sogenannte „Coal Strike“ richtete sich in erster Linie gegen die Privatisierung und Schließung der Kohlezechen, war aber auch eine Reaktion auf technologischen Veränderungen bei der Energieversorgung (Öl statt Kohle) und beschreibt somit auch den beginnenden industriellen Wandel einer Gesellschaft, in der traditionelle Arbeitsbereiche wie der Kohleabbau offenbar keine Zukunft mehr hatten. Die Pläne der Thatcher-Administration sollten kurzfristig zum Abbau von 20.000 Jobs führen, die Folgen der geplanten Privatisierung waren nicht absehbar. Die englischen Gewerkschaften gingen dagegen auf die Barrikaden. Bereits kurz nach Beginn des Streiks kam es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Mit Toten und Schwerverletzten.
Der britische Bergarbeiterstreik dauerte ein Jahr. Nach seinem Ende im Jahr 1985 war die Bedeutung der englischen Gewerkschaftsbewegung deutlich geringer geworden. Dies war auch das politische Schlüsselziel der neo-liberalen Regierung von Margaret Thatcher, die als Premierministerin bereits lange zuvor die Gewerkschaften als „Enemy within“ (Feind im Inneren) bezeichnet hatte, mobile Einsatztruppen der Polizei gegen die Gewerkschaftler und Arbeiter in Stellung brachte und dank der Employment Acts legale Streiks kriminalisieren konnte. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, was eine deutsche Bundeskanzlerin mit ähnlichen Worten und Taten hierzulande auslösen würde: wohl einen bundesweiten Flächenbrand.

„Pride“ erzählt mitreißend eine Episode, die sich tatsächlich während des „Coal Strike“ ereignet hat. Der britische Schauspieler und Autor Stephen Beresford hat sich gleich mit seinem ersten Filmdrehbuch große Meriten verdient. Natürlich gestattete sich Beresford einige künstlerische Freiheiten, seine Geschichte rekonstruiert den Kern der Ereignisse aber recht authentisch (zu beachten ist das ausgezeichnete Bonus-Material der DVD). „Pride“ ist aber keineswegs ein Agit-Prop-Film, sondern eine gut geölte Sozialkomödie, ein Film von der Art, wie ihn möglicherweise nur die Briten hinbekommen. Charmant, aber präzise in der Milieuzeichnung. Unsentimental, aber mit lebensnahem Humor. Und Beresford brachte auch das Kunststück fertig, eine Reihe komplexer Haupt- und Nebenhandlungssträngen so geschickt miteinander zu verknüpfen, dass man nie den roten Faden aus den Augen verliert.

Das ist auch nötig, denn In Onllwyn prallen zwei Welten aufeinander. Die urbanen Schwulen und Lesben treffen auf eine traditionelle Arbeiterkultur, die sehr konservativ ist, aber – von Ausnahmen abgesehen – nicht boshaft und aggressiv auf die Fremden reagiert. „Pride“ zeigt, wie unterschiedliche Milieus sich arrangieren können und dabei solidarische Ressourcen mobilisieren, wie man sie heutzutage kaum noch antrifft. Trotzdem: Einige Bergarbeiter wollen mit den „Perversen“ aus der Großstadt zunächst lieber nichts zu tun haben. Schließlich gewinnen die Repräsentanten der „Lesbians an Gays Support the Miners“ (LGSM) doch die Herzen der kleinen Gemeinde, in der viele Familien seit Generationen für die Minengesellschaften arbeiten. Weniger durch politische Parolen als vielmehr durch ihr unbekümmertes und cooles Auftreten. Immer mehr Onllwyner können sich für die Unterstützer erwärmen, allen voran der wieder einmal groß aufspielende Bill Nighy als etwas schüchterner Gewerkschaftssekretär oder Imelda Staunton in der Rolle der energischen Hefina.


Solidarität unter Fremden

Vorurteile durch eigene Erfahrungen zu ersetzen und Mut zur Begegnung sind die Grundlagen gelebter Solidarität. Das mag pathetisch klingen, aber so in etwa lässt sich die Botschaft von „Pride“ auf einen verlässlichen Punkt bringen. Matthew Warchus fängt dies in seiner zweiten Regiearbeit mit großartiger Leichtigkeit und staubtrockenem Humor ein, etwa wenn mutig gewordene Bergarbeiterfrauen mit den neuen Freunden eine Hardcore-Schwulenbar stürmen oder Jonathan mit seinen Disco-Tanzkünsten die etwas steifen Männer verblüfft, die anschließend von ihm sogar einige Tipps erhalten, mit denen sie die Gunst der Damenwelt erobern. So macht man sich Freunde.

Überhaupt spielt Musik eine Schlüsselrolle in „Pride“. Der Soundtrack von „Pride“ ähnelt einer Revival-Tour durch die 1980er Jahre. Von den Queen mit „I want to Break Free“ über Bronski Beat, Frankie goes to Hollywood, die Pet Shop Boys und Pete Seegers „Solidarity Forever“ bis hin zum berühmten Protestsong „Bread and Roses“ werden musikalisch alle Register gezogen, ohne dass der Verdacht aufkommt, dass es sich bei dem Film um eine nette Retro-Komödie handelt.

„Pride“ ist vielmehr das leichtfüßige Protokoll einer beinahe vergessenen Geschichte in der großen Geschichte, einer Zeit, der die Digitalisierung noch fremd war, aber die Globalisierung bereits ahnen konnte. Ein bemerkenswerter Ensemblefilm, der durch die facettenreich dargestellten Geschichten der vielen Figuren sehr viel Glaubwürdigkeit erreicht. Unterschiedliche Menschen treffen sich, nähern sich vorsichtig an und machen die Erfahrung, dass trotz aller Andersartigkeit für alle im Boot Platz ist. Bemerkenswert ist daher nicht nur der Erfolg der LGSM-Aktivisten, sondern auch die Bereitschaft der Alteingesessenen, für sich selbst einen neuen und offenen Blick auf die „Anderen“ zuzulassen.
Das gelingt Warchus, indem er viele kleine Geschichte am Rande miterzählt. „Pride“ ist daher – es überrascht eigentlich kaum - auch in den Nebenrollen spannend besetzt. Zum Beispiel durch die toll spielende Jessica Gunning, die mit viel Herz die engagierte Hausfrau Sian James verkörpert. Die reale Sian James überwand nach dem Streik soziale Schranken, begann ein Studium und zog 2005 als Abgeordnete der Labour Party ins britische Unterhaus ein, wo sie sich unter anderem für die Gleichberechtigung von Menschen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung einsetzte. Auch hier lohnt ein Blick ins Bonusmaterial.
Als dann irgendwann die konservative Yellow Press eine mediale Hetzjagd auf die LGSM beginnt („Perverts support the Pits“ – Perverse unterstützen die Grubenarbeiter), reagieren die Attackierten auf ihre Weise: Man organisiert das Benefizkonzert „Pits and Perverts“ – treffsicherer kann ein Kommentar kaum ausfallen. Die im Film dabei geschlossenen Freundschaften waren im realen Leben übrigens von langer Dauer.

Eine gleiche Gesinnung in einer homogenen Gruppe muss noch lange nicht den Geist der Solidarität widerspiegeln. Sie kann auch zur Abschottung führen. Solidarität richtet sich dagegen immer an die Schwachen, die Hilfsbedürftigen. Jene, die bei uns Flüchtlingsheime abfackeln oder in Ungarn und schließlich auch im einst so liberalen Dänemark eine offene Fremdenfeindlichkeit propagieren, werden „Pride“ nicht verstehen. Man darf nicht hoffen, dass sie eine jesidische Familie zum Grillfest einladen. Oder?

„Pride“ gewann beim Cannes Film Festival 2014 die „Queer Palm“.


Noten: Melonie, BigDoc, Klawer = 2


Pride – Regie: Matthew Warchus – Buch: Stephen Beresford – D.: Ben Schnetzer, Joseph Gilgun, Dominic West, George McKay, Andrew Scott, Paddy Considine, Imelda Staunton, Bill Nighy, Jessica Gunning – Laufzeit: 120 Minuten – FSK: Ab 6 Jahren.