Dienstag, 26. Februar 2013

Liebe

Mit „Liebe“ hat Michael Haneke einen emotional zupackenden, aber nicht sentimental anrührenden Film über die Liebe gemacht und dabei von Alter und Tod erzählt. Der Minimalismus seines Filmes ist eine Absage an das Hi-Speed-Kino und für viele Zuschauer vermutlich zu sperrig. Vielleicht kein Meisterwerk, aber großes Kino allemal.

Eine Seltenheit: am Abend nach der OSCAR-Verleihung konnte der Gewinner des Besten Fremdsprachigen Films im Filmclub vorgestellt werden. Natürlich nicht Michael Hanke persönlich, aber immerhin sein Film. „Liebe“ setzte sich mit einer (offen gestanden) unerwarteten Traumnote durch und katapultierte sich auf Platz 1 der noch jungen „Best of“-Liste 2013. Django unchained (with a silent ‚D‘) musste auf Platz 2 ausweichen.
 

Form vor Inhalt 

Filmkritiken beginnen häufig mit einer Inhaltsangabe, erst später werden formale Aspekte gewürdigt. Ich versuche es diesmal andersrum, denn Hanekes Kino ist neben seinen pointierten Sujets und Themen immer auch eine Suche nach dem richtigen, oder besser gesagt: nach dem angemessenen Stil gewesen.
In Liebe steigert Haneke nun sehr entschlossen den schon früher angedeuteten Minimalismus mit langen ungeschnittenen Einstellungen und wenigen, diskreten Schnitten. So einfach wie möglich wollte er den Film machen, so Haneke. Man sieht es mit Irritation, es ist gewöhnungsbedürftig, aber man versteht auch, wenn man aufmerksam hinsieht, dass sich hinter der Forderung nach Einfachheit wohl ein Programm verbirgt.
Einige Beispiele: Dort, wo in anderen Filmen in die finale Bewegung einer Person geschnitten wird, bleibt bei Haneke das Bild häufig noch zwei bis drei Sekunden stehen. Liebe verzichtet zwar nicht auf eine vertraute Szenenauflösung, aber gelegentlich muss man lange warten, bis in einem Dialog die vertrauten und vom Zuschauer wohl auch antizipierten Gegenschüsse beginnen. In einigen Dialogszenen, in denen man förmlich den Gegenschuss auf den Gesprächspartner herbeisehnt, bleibt eben dieser aus oder folgt mit erheblicher Verspätung. Das alles ist nicht nur effizientes Filmemachen, sondern Programm. Wir haben es mit Plansequenzen zu tun.
 

Die Theorie der Plansequenz ist ein programmatischer Bestandteil der Theorien über den Filmrealismus. Der französische Theoretiker André Bazin hat mehrfach darüber geschrieben, vielleicht am deutlichsten in seinem Essay „Montage interdit“ (Montage verboten, 1953/56). Kurz zusammengefasst: die Plansequenz, die lange ungeschnittene Einstellung, zeigt dem Zuschauer mehr als eine besondere Inszenierung des filmischen Raumes, in dem der Blick, das beobachtende Hinsehen, mehr Freiheit besitzt, weil er nicht von der Montage ‚gelenkt‘ wird. Die Plansequenz ermöglicht darüber hinaus auch eine andere, besondere Wahrnehmung der Zeit: im Idealfall sieht man den Ablauf der Handlung im Verhältnis 1:1, nichts wird gerafft, die Illusion von Wirklichkeit nimmt zu. Ja, man meint, womöglich ihr selbst zu begegnen. Der Ablauf der filmischen wie der wirklichen Zeit ist aber immer auch ein Vergehen und das Vergangene ist eben dahin, es ist etwas Unwiderrufliches geschehen (ich vermute mal, dass Bazin heute eher schockiert wäre, wenn er wüsste, dass der Griff zu Rewind-Taste des DVD-Players das gerade eben ‚Vergangene‘ auf der Stelle zurückholt!).

Ein anderer Aspekt der Plansequenz ist die „Mise-en-scène“, das Inszenieren der Geschehnisse innerhalb einer Einstellung, häufig auch gestaffelt in einem von der Kamera tiefenscharf aufgenommenen Raum. Simples Beispiel: während vorne in der Einstellung ein Mann seine Zeitung liest, verlässt ‚hinten‘ seine Frau mit einem Koffer heimlich die Wohnung. Honni soit qui mal y pense. Wer sich Liebe aufmerksam auf diese Eigenschaften hin anschaut, wird einige der beschriebenen Elemente mühelos wiedererkennen.

Ich möchte jetzt aber keine Realismus-Debatte vom Zaun brechen. Filmrealismus ist meiner Meinung nach weder von einer bestimmten Art der Montage noch vom Einsatz bestimmter optischer Mittel abhängig. Und vieles, was in klassischen Filmtheorien als Vorbild angeführt wird, dient eher einem naturalistischen Konzept, das heimlich von filmontologischen Vermutungen angetrieben wird, etwa über das ‚Wesen des Films‘. Aber einiger dieser Überlegungen mussten vorangestellt werden, um zeigen, dass Michael Haneke keineswegs traditionsfrei seine Filme inszeniert, aber auch, um klarzustellen, dass das Erste, was in Hanekes Liebe den Zuschauer berührt (ob angenehm oder unangenehm) nicht die Geschichte ist, sondern die Ästhetik!



Eine Geschichte über das Altwerden – oder über die Liebe?

Liebe beginnt mit einer Rahmenhandlung: in der ersten Szene bricht die Feuerwehr eine Tür auf, Beamte mit Mundschutz gehen durch die gutbürgerliche Wohnung, die Tür zum Schlafzimmer wird aufgebrochen. Auf dem Bett liegt die bereits stark eingefallene Leiche einer alten Frau. Sie ist von Blumen bedeckt. Schnitt auf den Titel: LIEBE.
 

Rückblende: Georges (Jean-Louis Trintignant) und Anne (Emmanuelle Riva), beide pensionierte Musikprofessoren um die 80, besuchen ein Schubert-Konzert (langer Take vom Publikum, kein Schnitt auf die Bühne). Nach der Rückkehr entdecken beide, dass jemand versucht hat, in die Wohnung einzubrechen. Am nächsten Morgen verfällt Anne während des legeren Frühstücks in eine Art katatonischer Starre. Minutenlang reagiert sie weder auf Ansprache noch auf Reize. Als sie ‚zurückkehrt‘, weiß sie nichts von ihrer Absence und will auch von einem Arzt nichts wissen. Dann gießt sie sich eine Tasse Tee ein, der Tee landet indes auf der Untertasse. Erst nach einigen Sekunden realisiert Anne ihre Fehlleistung.
 

Dann beginnt der Verfall. Anne wird wegen einer akuten Gefäßverengung operiert, der Eingriff schlägt fehl und Anne sitzt nun halbseitig gelähmt im Rollstuhl. Georges reagiert mit Gefasstheit auf die Situation und kümmert sich hingebungsvoll um seine Frau. Waschen, Anziehen, Krankengymnastik. Später wird er zwei Krankenpflegerinnen einstellen, sich aber mit einer überwerfen.

Annes innerer Rückzug schreitet voran. Georges findet sie nach seiner Rückkehr vom Einkaufen neben dem Rollstuhl auf dem Boden. Das Fenster ist offen. Anne erklärt, er sei zu früh gekommen. Beide sprechen über die Belastungen, über das aus Annes Sicht Unerträgliche. Anne ist suizidal.
Besuche werden selten. Alexandre, ein früherer Klavierschüler Annes und nun ein erfolgreicher Konzertpianist, besucht das Ehepaar. Anne meistert die Situation, aber die Stimmung ist belastet. Man spricht nicht offen über die Krankheit. Als die Tochter Eva (Isabelle Huppert), die mit ihrer Familie im Ausland lebt, die kranke Mutter besucht, verbreitet sie eher Hektik. Georges lehnt eine Krankenhauseinweisung ab und will Anne weiterhin pflegen.
Anne ist nun bettlägerig, auch ihre Sprache ist verloren gegangen. Der Verlust der Mobilität und der Kommunikation steigert zwangsläufig die zum Teil übergriffig erlebten Pflegesituationen. Nichts geht mehr von allein. Anne ruft nun häufig und ununterbrochen „Hilfe“ (Original: „mal“, frz. für schlecht oder Schmerz). Sie lehnt es ab, zu essen oder zu trinken. Als Georges ihr mit Gewalt Wasser einflößt, spukt sie es aus. Georges ohrfeigt sie.
 

Wo die Sprache endet 

Man kann Liebe als tätiges Handeln, als Liebe durch das Handeln sehen. Man kann Liebe auch einfach als Protokoll des Altwerdens lesen, als unvermeidliche Abfolge von pathologischen Ereignissen mit letalem Ausgang.
Man kann die Erzählweise, die langen Plansequenzen, das langsame, fast quälende Verfließen der Zeit auch ‚realistisch‘ nennen, aber das ist, wie schon angedeutet, ein Etikett, das man an einen Film pappt, weil es Bedeutung herstellt, die unmittelbar verstanden wird.
Ich kann dies nicht ohne Weiteres nachvollziehen, denn Filme – besonders realistische – sind hoch-artifizielle Produkte. Realismus rekurriert nicht auf die photographischen Qualitäten und auch nicht auf die mimetische Abbildung, sondern ist analytisch, deutend, eingreifend, typologisch – eine Erzählweise, die sich unbedingt für das öffnen muss, was jenseits des filmischen Kosmos existiert.

Hanekes filmischer Kosmos in Liebe riegelt sich indes hermetisch ab, so wie es auch Anne und Georges tun. Haneke ist ein Beobachter der Ereignisse, die er selbst kreiert hat.
Liebe ist, und man möge dies beim ersten oder zweiten Betrachten ruhig in Erwägung ziehen, auch und vielleicht zuallererst ein Film über das Sprechen. Haneke, und das gehört zur Geschichte der Töne in dem Film, hat weitgehend auf Filmmusik verzichtet. Alles, was man hört, sind die Geräusche, die auf natürliche Weise in der Wohnung präsent sind. Auch Musik vom CD-Player oder Annes Klavierspiel in einem Flashback von Georges. Und es ist das Sprechen der beiden und der wenigen Personen, die noch in die Wohnung vordringen. Und hier wird deutlich, dass der Verlust, den Anne erleidet, nicht nur ein motorischer ist, sondern das Nicht-Mehr-Verstanden-Werden-Können, das der Andere auch erfährt.
 

Anfangs erleben wir ein eingespieltes Paar. Das sprachliche Miteinander ist eingeübt, beide sind im gehobenen Bildungsbürgertum sozialisiert worden, man weiß, wie man miteinander umzugehen hat: höflich, mit einem Schuss Distanz – sprachliche Gewohnheiten.
Der erste Riss findet nach Annes erster Absence statt: die Sprache stößt an Grenzen, das Konventionelle in ihr reicht nicht mehr aus, um sich mitzuteilen. Anne versteht Georges nicht, Georges verzweifelt an Anne.
Später sieht und vermittelt Anne alles, solange sie sprechen kann, mit erstaunlicher Brutalität. Besonders das Gespräch nach dem vergeblichen Suizidversuch macht deutlich, dass Annes Sinnleere klare Grenzen zieht: sie ist nicht mehr bereit, sich den Kopf ihres Mannes zu zerbrechen. Georges Versuche, ihr das aus seiner Sicht Erforderliche mit viel Empathie zu vermitteln, schlagen fehl.
Der Besuch von Alexandre macht diese Limitierung deutlich: noch einmal rafft sich das Paar auf, noch einmal tragen die sprachlichen Rituale im vertrauten Milieu, aber Alexandres Andeutungen vertiefen den Riss. Und wenn Annes Sprache versiegt, ist die Grenze überschritten: nur ein Wort steht ihr noch zur Verfügung und dieses Wort beschreibt die Not.
 

Haneke lässt seine Hauptfiguren sprechen, wie es sich kein anderer zutrauen würde. Es ist eine fast theaterhafte Sprache, fein ziseliert, immer andeutend, dass hier Bildung und Umgangsformen, Selbstkontrolle und bürgerliche Höflichkeit herrschen. Vertraute Gewohnheiten, auf Grenzüberschreitungen folgt die sofortige Entschuldigung. Georges ist dabei derjenige, der am längsten hinhaltenden Widerstand leistet: bei den Gesprächen mit dem Ehemann der Concierge, beim Kündigungsgespräch mit der Pflegerin. Die Annäherung seiner Tochter lehnt er ab: „Nichts von all dem ist es wert, vorgezeigt zu werden!“
So einen Satz muss man erst einmal vorbringen.
 

Ganz am Ende, bevor Georges seine Frau mit einem Kissen erstickt, scheint das Miteinander-Sprechen scheinbar zu funktionieren. Georges erzählt eine Geschichte aus seiner Jugend, eine traurige, sehr intime. Man spürt die Freude des Sich-Öffnens. Anne zeigt keine Reaktion. Georges tötet sie. Mit der Geschichte hat dies nichts mehr zu tun.
 

Die Geschichte über das Sprechen und den Verlust der Sprache ist ein minimalistisches und existentielles Drama, das gerade wegen der formalen Strenge Hanekes berührt. Isabelle Huppert hat im Bonus-Material der Bluray betont, dass Michael Haneke jedwede unpassende Sentimentalität ablehnt, weil dadurch die Emotion verloren geht. Sie bahnt sich auf brutalere Weise den Weg, so Huppert, weil sie frei von Sentimentalem ist. Wenn wir nach Liebe etwas gelernt haben können, dann ist es die Erkenntnis, die Grenzen unseres Sprechens zu erkennen. Wir müssen uns nicht von Sprachritualen trennen. Aber von Floskeln, wenn es darauf ankommt. Und kurz vor dem Tod kommt es darauf an.

Noten: Mr. Mendez, Klawer = 1, BisDoc = 1,5, Melonie = 2

Montag, 25. Februar 2013

Bluray-Review: Looper

Originaltitel: Looper, R.: Rian Johnson, Prod.: USA 2012, Laufzeit: 118 Minuten, FSK: ab 16 Jahren, D: Bruce Willis, Joseph Gordon-Levitt, Pierce Gagnon, Emily Blunt, Jeff Daniels
 

Nach seinem Achtungserfolg „Brick“ (2005) und dem nicht ganz so erfolgreichen „Brothers Bloom“ (2008) konnte Regisseur und Drehbuchautor Rian Johnson für den Sci-Fi-Film „Looper“ erstmals ein großes Budget in die Hand nehmen. Mit Stars wie Bruce Willis und Joseph Gordon-Levitt („The Dark Knight Rises“, „Lincoln“) ist ein kniffeliger Film über die drastischen Folgen von Zeitreisen entstanden, der handfeste Action und alltagstaugliche Metaphysik auf einen gemeinsamen Nenner bringen will. Herausgekommen ist – im wahrsten Sinne des Wortes – ein Paradoxon, das eine Bereicherung des Genres ist.

Bring Dich selbst um!

Im Jahre 2044 befinden sich die Vereinigten Staaten in einem Zustand der Auflösung. Ökonomisch laviert man am Rande des Abgrunds, anthropologisch ist der Zustand der Bevölkerung fragil: jeder zehnte Amerikaner ist aufgrund einer Mutation in der Lage, mit schwachen telekinetischen Kräften Gegenstände schweben zu lassen. Und schlimmer noch: aus der Zukunft schicken Hi-Tech-Mobster mithilfe einer verbotenen Zeitreisentechnologie ihre Opfer zwecks Entsorgung in die Vergangenheit. Das kann eine zivile Gesellschaft schon aus den Angeln heben, besonders dann, wenn man sich selbst liquidieren soll.
Zum Glück verliert „Looper“ dabei nicht den notwendigen Humor. Irgendwann sitzen sich Joseph Simmons (Willis) und Joseph Simmons (Levitt) in einem Drive-In gegenüber. Der eine (Willis) kommt aus der Zukunft, der andere will sein in der Gegenwart materialisiertes älteres Ich am liebsten umbringen, um seinen Job zu erledigen und sein Leben zurückzuerhalten. Willis meint lakonisch: man könne sich endlos und vergeblich über Zeitreisen unterhalten oder mit Streichhölzern stundenlang Diagramme legen, nur bringen würde das nichts. Kaum anders geht es dem Zuschauer, der beim Mitdenken schon recht fix sein muss, damit er sich nicht in den Schlingen der Zeit verfängt. „Looper“ ist ein anstrengender Film.
Simmons ist ein Looper. Looper sind Auftragskiller, die Personen beseitigen, die ihnen ein Verbrechersyndikat unter der Führung des geheimnisvollen Regenmachers aus der 30 Jahre entfernten Zukunft zurückschickt. In der Zukunft sind Auftragsmorde dank neuer Tracking-Technologien nicht mehr ohne Weiteres möglich. Ihr Honorar erhalten die Looper auf denkbar einfache Weise: auf dem Rücken der Opfer sind Silberbarren angebracht. Und gelegentlich liquidiert dann ein Looper gar sich selbst, wenn er  ihm aus der Zukunft geschickt wird. Zeugen müssen auch in der Zukunft dran glauben. Dann gibt es eine Zusatzprämie aus Gold, denn der Looper muss seine Karriere beenden und darf nun 30 Jahre darauf warten, dass ihn sein Schicksal ereilt. Nun eines darf ein Looper nicht tun: den „Closed Loop“ verhindern, indem er sein zukünftiges Ich einfach laufen lässt. Denn das könnte die Zeitschiene ziemlich durcheinander bringen.

Time Travel Movies – das heimliche Erfolgs-Genre

„Looper“ ist auf den ersten Blick Science-Fiction, Sub-Genre: Dystopie. Aber das Genre müsste eigentlich Time Travel heißen, denn seit den 1990er Jahren ist die Zahl der Filme über Zeitreisen geradezu explosionsartig gestiegen. Zu den Klassikern gehören natürlich nach wie vor George Pals „The Time Machine“ (1960), Franklin J. Schaffners „Planet of the Apes“ (1968), Terry Gilliams „Time Bandits“ (1981) und natürlich Robert Zemickis Trilogie „Back to the Future“ (1985 – 1990). Ging es in den älteren Filme teilweise noch recht linear in den Zeitreisen zu, griff in den 1990er Jahren James Camerons „Terminator 2: Judgment Day“ (1991) das Problem der Korrektur von Zeitlinien auf, ein Problem, das man eigentlich erst so richtig in „Star Trek“ mitbekommen hatte: man schickt jemanden in die Vergangenheit, um zukünftige Ereignisse zu verhindern.
Wie kompliziert das Ganze werden kann, wenn man sich in einer Zeitschleife verfängt, zeigte dann „Groundhog Day“ („Und täglich grüßt das Murmeltier“, Harold Ramis 1993), ein Film, den man nicht unterschätzen sollte, da er mit der Zeitschleife ein narratives Motiv durchdeklinierte, das bis heute einen maßgeblichen Einfluss auf die Time Travels behielt. Zeitreisen, so lernte man in dieser durchgeknallten Komödie, sind nicht einfach nur technische Events, sondern durchaus geeignet, um als Fabel eine Handvoll moralischer Dilemmata zu verhandeln. Am nachhaltigsten wurde Gilliams Ansatz im philosophisch angehauchten und durchweg spannenden „Source Code“ (2011) von Duncan Jones variiert. Moralische oder philosophische Themen durchzukauen, schien auch in einem weiteren Time Travel-Film von Terry Gilliam der Fall zu sein: „Twelve Monkeys“ (1995) zeigte indes auch, dass es im Kino nicht nur um Inhalte, sondern auch um Form, Stil und gewisse Innovationszwänge geht. Einfach gesagt: man hat seit „Twelve Monkeys“ (in dem ebenfalls Bruce Willis agiert, dessen jüngeres Film-Ich am Ende den Tod seines älteren Alter Egos erlebt) das Gefühl, dass Time Travels immer labyrinthischer und intellektueller geworden sind und zudem einen stärkeren Science Touch erhalten haben.
Natürlich wurden weiterhin en masse Billigfilme produziert, aber bereits der etwas unterschätzte „Frequency“ (Gregory Hoblit, 2000) deutete an, dass sich der Zuschauer an eine komplexere Narrativik zu gewöhnen hatte. In welche Richtung das geht, demonstrierte „Donnie Darko“ (2000) von Richard Kelly, der auch deswegen Kultstatus erhielt, weil man ihn eben nicht im herkömmlichen Sinne verstehen kann, was im Web millionenfache Deutungsdebatten nach sich zog.
Im TV legte dann „Lost“ nach, im Kino sorgten Ideen aus der Chaostheorie in „The Butterfly Effect“ (Eric Bress / J.M. Gruber, 2004) für den notwendigen wissenschaftlichen Touch. Aber wichtiger schien es aber zu sein, den Zuschauern schier unlösbare Rätsel mit auf den Weg zu geben, indem man non-lineare Elemente in die komplizierten Plots einführte. Mit anderen Worten: nicht nur das, was man in der Gegenwart tat, hatte Folgen für die Zukunft, nein, auch die Adressaten in der Zukunft reagierten auf die neuen Inputs und versuchten nun ihrerseits, auf die eine oder andere Weise auf die Manipulationen der Zeitlinie einzugehen: Time Trouble beim Time Travelling.

Wir sind doch Herr unseres Schicksals

Ähnliches hatte wohl auch Rian Johnson im Sinn. In „Looper“ wird Joseph Simmons (Levitt) tatsächlich mit seinem älteren Ich aus der Zukunft konfrontiert – und er drückt tatsächlich nicht ab und sein ‚Auftrag’ kann flüchten. Von nun an wird er nicht nur von den Killerkommandos des Syndikats, die eine ‚Niederlassung’ in der Gegenwart eingerichtet haben, gejagt, Simmons jagt auch sein Alter Ego (Willis). Der aber will unbedingt herausfinden, wer der geheimnisvolle Regenmacher in der Gegenwart ist. Die einfache Logik: bringt er ihn rechtzeitig um, dann wird er in der Zukunft nicht vom Regenmacher selektiert und auch seine Geliebte, die einen neuen Menschen aus ihm gemacht hat, wird nicht getötet. Das Dilemma ist nur, dass der zukünftige Regenmacher in der Gegenwart ein unschuldiges Kind ist.
Wie bekommt Johnson in seinem Film aber den Overdrive hin, also die vertrackte Verkomplizierung, die offenbar zum festen Baustein der Time Travels geworden ist? Eben nicht ganz einfach: der ältere Simmons weiß natürlich, was der jüngere getan hat und tun wird, aber dieser handelt aufgrund der Konfrontation mit seinem älteren Ich nun ganz anders, was sofort die Zeitlinie verändert: Simmons (Willis) Erinnerungen werden blasser und durch neue überlagert, beide sind in einer non-linearen Schleife gefangen, die immer unberechenbarer wird. Wie das funktioniert, zeigt Johnson an einem Looper, der sein Alter Ego ebenfalls laufen ließ. Er wird vom Syndikat auf einen OP-Tisch gelegt und während ihm schrittweise Arme und Beine amputiert werden, verschwinden natürlich auch in der Zukunft Arme und Beine des Opfers, was rückwirkend dazu führt, dass der älteren Version des Loopers während der Flucht quasi die Gliedmaßen gelöscht werden.
Kompliziert? In der Tat. Und das ist nur die Spitze des Eisberges. Aber „Looper“ wäre lediglich ein kalt konstruierter Thriller über die Zeitmechanik, wenn es dabei nur um ein Puzzle gehen würden, in dem überraschende Verschränkungen von Ursache und Wirkung immer wieder für Verwirrung sorgen würden. In „Looper“ geht es auch um die Moral von der Geschicht’ und die will einen Ausweg aus dem Ganzen. Und der lautet: der Mensch ist letztlich doch der Herr seines Schicksals und nicht das Opfer vorbestimmter Abläufe. Dass dies am Ende zu einem verblüffenden, radikalen Ende führt, gehört durchaus zu den gelungenen Momenten des Films.

Sehenswerter, aber nicht immer mitreißender Genre-Beitrag

Irgendwie ist man hin- und hergerissen: „Looper“ ist ein intelligenter Film, der unbedingte Konzentration abverlangt. Aber wie bereits angedeutet, gehört der Overdrive, das verkomplizierte Narrativ, mittlerweile zu den Bausteinen des Genres und das verlangt – wen wundert’s – nach immer mehr. So gesehen ist „Looper“ ein regelrechter Overkill, den man vielleicht erst beim zweiten oder dritten Mal ‚versteht’. Einige Ungereimtheiten deuten dies schon beim ersten Mal an, vielleicht haben sich die Macher auch in ihrem eigenen Netzwerk verfangen.
Visuell hat der Film einiges zu bieten, besonders dann, wenn man erfährt, dass der geheimnisvolle Regenmacher als Kind bereits über außergewöhnliche kinetische Fähigkeiten verfügt. Interessant ist, dass Johnson und sein Team weitgehend auf CGI verzichtet und die Visual Effects überwiegend ganz altmodisch produziert haben: wer im Bild fliegen soll, hängt halt an Drähten. Also sollte der Zuschauer kein durchgestyltes Sci-Fi à la „Inception“ erwarten: „Looper“ zeigt zwar, dass die Geschichte nicht in der Gegenwart spielt, ist aber beim Set Design ziemlich sparsam. Dem Film schadet dies nicht.
Joseph Gordon-Levitt spielt ‚Bruce Willis’ und dessen stoische Physiognomie, die ja nicht frei von kleinen Manierismen ist, absolut verblüffend und damit gut. Und Bruce Willis? Der ist eben Bruce Willis und tut, was er kann. Und schlecht ist das keineswegs. Auch Emily Blunt als Mutter des Regenmachers legt eine sehenswerte Perfomance hin, sodass „Looper“ auch ein ziemlich guter Ensemble-Film geworden ist. Die eigentliche (und ziemlich faustdicke) Überraschung ist aber der Kinder-Darsteller Pierce Gagnon als Cid. Der Achtjährige hatte in „The Crazies“ (2010) seinen ersten Kinoauftritt und spielt in „Looper“ auf so professionelle und glaubwürdige Weise, dass er die Stars fast alt aussehen lässt.
Und das Fazit? Mich verblüfft bei derartigen Film die Chuzpe, mit der Genrefilme bereit sind, die alte Faustregel des Hollywood-Kinos zu unterlaufen: nämlich nur solche Geschichten zu erzählen, die man auf Anhieb versteht und die durch ihre emotionale Message zu dechiffrieren sind. Die emotionale Seite „Looper“ mitsamt seiner erkennbaren Moralität versteht man erst, wenn man das Puzzle wenigstens ansatzweise verstanden hat.
Und die Zeitreisen? Ehrlich gesagt: das hat mich schon immer ein wenig genervt, weil die Paradoxien selten gelöst werden können und die pseudo-wissenschaftlichen Deutungen eben ‚pseudo’ sind. Stand der Physik heuer ist, dass man dank Einsteins Relativitätstheorie weiß, dass die sogenannte Zeitdilletation durchaus Reisen in die Zukunft ermöglicht, aber alle Hypothesen über Reisen in die andere Richtung sollten vorerst ein Thema der Yellow Press bleiben. Dort ist das Ganze mitsamt der Wurmloch-Hypothesen gut aufgehoben.
Mit anderen Worten: „Looper“ sollte sich der Freund des Genres nicht entgehen lassen, persönlich halte ich Steven Spielbergs „Minority Report“ (2002) nach wie vor für rundum gelungener, auch der erwähnte „Source Code“ ist ein raffinierter Beitrag.

Technik und Bonus

Die Bluray von „Looper“ bietet ein gutes, ausgewogenes Bild, ohne dass Referenzqualität erreicht wird. Der Ton liegt in DTS-HD 5.1. vor und gehört nicht zu den Schwächen des Films. Im Gegenteil. Das üppige Bonusmaterial (80 Minuten) enthält 22 Deleted Scenes, die fast die Hälfte der Laufzeit beanspruchen. Zu den Featurettes gehört auch der Auftritt des obligatorischen Physikers, der alles erklären soll, es aber nicht hinkriegt.
Noten: BigDoc = 2,5

Samstag, 9. Februar 2013

Django Unchained

„Django Unchained“  ist ein Neo-Western und ein Märchen: die Reise eines weißen deutschen Kopfgeldjägers und eines Sklaven, die zu einer Reise von Vater und Sohn wird, einer Reise in ein böses Märchenland, das Candyland heißt, wo ein großer schwarzer Big Daddy (diesen Namen gibt Tarantino im Film aber einer anderen Figur, ausgerechnet einem weißen Sklavenhalter, gespielt von Miami Vice-Ikone Don Johnson) und ein sadistischer weißer Mann warten.

„Django Unchained“  referiert nicht direkt über Dinge, die außerhalb seines filmischen Kosmos liegen. Das tun die wenigsten Filme, aber Filme von Quentin Tarantino tun dies noch weniger – auch dort, wo sich in der Eingangsszene der schwarze Sklave Django fast majestätisch die Pferdedecke von den Schultern gleiten lässt, womit Tarantino den von Peitschenhieben zernarbten Rücken zeigen kann. Hier wird historische Wirklichkeit nachgebildet, aber auch ihre mediale Inszenierung, die uns allen sehr vertraut ist [1].
Um dorthin zulangen, wo man etwas über die Art und Weise erfährt, mit der Tarantino die Welt und ihre Geschichte(n) sieht, muss man vorher herabsteigen in den Kaninchenbau. Dort, wo Tarantino uns klar machen möchte, dass er eigentlich nur von anderen Filmgeschichten erzählt und auch diese ohne andere Filme sowieso nicht möglich gewesen wären. Diese verborgenen Regeln der Tarantino-Filme legen sich dann wie eine Textur über den Film, die den Tarantino-Look einerseits zum schnellen Konsum ausbreitet und bei näherem Hinsehen dem geschulten Nerd einige Einblicke in ein Denken gewährt, das irgendwo zwischen brillantem formalen Können und einer naiven Verspieltheit angesiedelt ist.
Also, dort im Kaninchenbau erhalten wir dann das Versprechen, dass alles gut wird und Tarantino die böse Welt nach seinen Regeln wieder zusammensetzt und dass Rache und Vergeltung einem richtig gut tun können. So hat Quentin Tarantino in
Inglorious Basterds mit vermeintlich naiver Selbstherrlichkeit Hitler und den deutschen Faschismus annihiliert und in „Django Unchained“  erhalten nun die schwarzen Sklaven späte Genugtuung. Während in Inglorious Basterds ein Kino abgefackelt wird, fliegt in „Django Unchained“  ein weißes Herrenhaus in die Luft. Es wird Zeit, dass Tarantino nun einen Film dreht, in dem die Indianer die Weißen von ihrem Kontinent vertreiben – am besten erzählt in jenem mythologischen Westernkosmos zwischen 1865 und 1900, in dem bereits so viele Geschichten über wahre und erdachte Geschichte phantasiert worden sind.

Einführung in das Erwerbsleben

1858: der deutsche Zahnarzt „Doctor King“ Schultz (Christoph Waltz) hält in tiefster Nacht zwei Sklavenhändler auf, die einen Trupp Nigger mit sich führen. In gepflegter, fast schon manierierter Sprache outed sich Schultz als potentieller Käufer eines des Sklaven, der offenbar wichtige Informationen besitzt. Die Sklavenhändler sind wenig geneigt, auf einen Handel einzugehen, und Schultz schießt unter großem Bedauern einen der beiden vom Pferd, während er dem Pferd des anderen einen Kopfschuss verpasst. Dann schließt er mit dem Überlebenden, der mit gebrochenen Beinen unter seinem toten Pferd liegt, eine Transaktion mitsamt Verkaufsurkunde ab. Der Sklave, den Schultz befreit, ist Django (Jamie Foxx).
Beide erreichen danach eine kleine texanische Stadt. Dort ist ein Nigger auf einem Pferd politisch ziemlich inkorrekt. Schultz lässt den Sheriff rufen, dann erklärt er Django, dass der eigentlich kein Zahnarzt, sondern Kopfgeldjäger ist und Django benötigt, um drei Verbrecher zu identifizieren, die er seit längere Zeit jagt. Nach diesem kurzen Arbeitsgespräch erschießt Schultz den Sheriff vor den Augen der entsetzten Stadtbevölkerung und erklärt dem Marshall und dem schnell herbeigeeilten Lynchmob mit großer rhetorischer Virtuosität, dass der ehrenwerte Sheriff in Wirklichkeit ein gesuchter Verbrecher sei und ihm nun 200 Dollar zuständen. Dead or alive. So lautet die Regel.


Der Charme der Monster

Christoph Waltz und Quentin Tarantino sind füreinander gefundenes Fressen. Keiner spielt Tarantino-Filmmonster mit so erlesenem Charme und kultivierter Sprache wie Waltz. Nun sind es bereits zwei erlesene Mistkerle und ein Ende ist nicht abzusehen. In „Inglorious Basterds“ spielte Waltz den SS-Standartenführer Landa mit so ausgesuchtem Charme, dass man wie in keinem anderen Film nicht nur ins schwarze Herz des Faschismus blicken, sondern auch auf emotionale Weise verstehen konnte, warum sich Kultur und Monstrosität eben nicht als unversöhnliche Gegensätze gegenüberstehen. Auch in „Django Unchained“ lässt Tarantino den Deutsch-Österreicher Christoph Waltz einen zynischen Menschenjäger so charmant spielen, dass einem fast warm ums Herz wird. Immerhin wird das Monster diesmal eine moralische Metamorphose durchlaufen. Das ist doch schon mal ein Fortschritt.

Gleich zu Beginn erzählt uns Tarantino die einführende Waltz-Episode in so ausgesucht altmodischen Bildern, dass man versucht ist, dies als Kommentar zu lesen. Kadrierung und Kameraführung und dazu die klassische anmutende Montage der ersten Sequenzen haben fast nichts mit den vielzitierten Spaghetti-Western zu tun, von wenigen Reiß-Zooms mal abgesehen, sondern viel mit der offenen Bildsprache eines John Ford. Das ist natürlich auch dem großartigen Robert Richardson zu verdanken (u.a. bevorzugter Kameramann von Oliver Stone und Martin Scorsese, für Tarantino: Kill Bill – Volume 1 & 2 und Inglorious Basterds). Und da sitzt man im Kino und sieht, wie ein Regisseur in aller Seelenruhe das Kino entschleunigt und einen Erzählraum konstituiert, wie man ihn lange nicht mehr im Mainstream-Kino gesehen hat. Tarantino etabliert bereits zu Beginn die formalen Gesetze seiner Geschichte, dann beginnt er damit, sie zu erzählen. Tarantino hat Stil und man sieht das.

Auch das Musikkonzept ist in „„Django Unchained“ “ interessant: natürlich gibt es wieder einmal nur wenige Original-Kompositionen, dafür eine Collage bekannter Themen (nicht nur aus Western) aus Django, Ein Fressen für die Geier, Brutale Stadt u.a., aber mehr als früher bekommt die Musik nun eine dramaturgische Funktion, die Musik und Bilder zu einem konzertanten Erlebnis zusammenfügen: Dialoge werden nicht zugekleistert, erst recht nicht, wenn Waltz spricht. Dafür gibt es Ouvertüren und Zwischenspiele, ehe am Ende die Tracks wieder ganz konventionell die Bilder paraphrasieren. Gelegentlich wird die Musik auch kontrapunktierend eingesetzt, etwa wenn Richie Havens Freedom mit der Tür ins Haus fällt.

Der Edel-Spaghetti-Western als Bildungs- und Erziehungsroman
Man sieht: „Django Unchained“ ist keineswegs humorlos, aber es ist ein giftiger Humor, den sein Regisseur versprüht. Nicht immer ist das für den Zuschauer leicht nachzuvollziehen, denn wenn der von Don Johnson gespielte weiße Plantagenbesitzer Big Daddy mit seinem kapuzenbewehrten Lynchmob den Wagen von Dr. King Schultz überfällt, muss man schon wissen, dass der Ku-Klux-Klan erst 1865 gegründet wurde, also nach dem amerikanischen Bürgerkrieg. Aber das sind nur Petitessen.  Entscheidend ist, dass Schultz und sein Protegé eine Reise durch ein imaginiertes Amerika antreten, das voller Symbole und Verweise ist.

Man muss schon genau hinschauen, um zu erkennen, dass Tarantino die Hälfte des Films im Stile eines Entwicklungsromans erzählt: Django erhält von dem außergewöhnlich gebildeten Schultz nicht nur eine zynische Einführung in die professionellen Eigenarten seines Business und die Kunst des Schießens, sondern auch einen Crashkurs in Mythologie zwecks moralischer Aufrüstung: Nachdem Schultz Django zugesagt hat, ihm bei der Befreiung seiner Frau Broomhilda zu helfen, erzählt ihm der Zahnarzt aus Düsseldorf einen wilden Mix aus den Nibelungensage und nordischen Mythen, und zwar von Siegfried und seiner Geliebten Brunhilde (nicht Kriemhild!), die der tapfere Mann mit viel List und Kampfesmut aus den Fängen eines gefährlichen Drachen befreien muss. Ein ziemlicher Bullshit, aber als Analogie zur Sklaverei frech montiert, wobei Tarantino noch etwas Blaxploitation untermischt: Djangos Frau heißt ausgerechnet Broomhilda von Shaft. In Tarantinos Diegese ist Djangos Frau die Frau von John Shaft, dem schwarzen Private Eye in dem gleichnamigen Blaxploitation-Kultfilm. Soviel zu den kleinen Spielereien von Quentin Tarantino, aber ähnlich wie in Inglorious Basterds wird auch in „Django Unchained“ der Verweis- und Zitatcharakter unterlaufen – es gibt buchstäblich nichts, was nicht irgendwie Zitat oder Verweis wäre [2]. Man hüte sich also vor übertriebenen Deutungen, es wäre der Weg der Buffs und Nerds, der allerdings nicht aus dem Kaninchenbau hinausführt.

Dieser ‚Entwicklungsroman’, der natürlich ganz nebenbei ein klassisches Buddy-Movie ist und dazu führen wird, dass auch der Mentor sich den Konsequenzen der Reise ins Herz der Finsternis stellen muss, führt Django und seinen Ziehvater nach einer Zeit des gemeinsamen Jagens (und Geldverdienens) zu Einlösung des Versprechens: beide finden heraus, dass sich Broomhilda (Kerry Washington) als Sklavin auf der Plantage Candyland [3] befindet. Um dem Plantagenbesitzer Calvin Candie (grandios gespielt von Leonardo DiCaprio) ein Geschäft schmackhaft zu machen, täuschen Django und Schultz ein Interesse am Kauf eines Mandigo-Kämpfers vor – Django mimt dabei den Kampfsportexperten des Zahnarztes. In Wirklichkeit aber wollen die beiden dem Sklavenhalter en passant Broomhilda abluchsen.

Mit dem Beginn des zweiten Teils des Films endet die Reise durch das imaginierte Amerika zwar nicht, dafür aber der straffe Inszenierungsstil Tarentinos. Die Handlung wird aus den Außen- und die Binnenräume verlegt und der Film zerfasert in alle denkbaren Richtungen – sei es nun der lange, brutale Kampf zweier Sklaven bis zum Tod des Verlierers, sei es ein netter Cameo-Auftritt von Franco Nero, seien es die langen Gespräche Calvin Candies, die es mit seinen Gästen führt. Diese schließen sogar eine Einführung in die Phrenologie ein, mit der Candie anhand eines Sklavenschädels den Gästen die Bereitschaft der schwarzen Rasse zur Unterwürfigkeit erklären will. Dem deutschen Zuschauer könnte angesichts des Bedürfnisses Candies nach einer wissenschaftlichen Erklärung der rassistischen Ideologie ein Licht aufgehen, so er denn seine eigene Geschichte kennt. Und das geht so: Der deutsche Akademiker und Profikiller Schultz, der sich bestens in Mythologien auskennt, trifft hier auf den mit Halbwissen ausgestatteten pseudo-intellektuellen Sklavenhalter – erneut öffnet sich Tarantinos Kosmos für eine Querverbindung, hier für einen Verweis auf die NS-Eugenik: Pseudo-Wissenschaft als Legitimierung des Genozid. Aber das ist bei weitem nicht alles, denn das von Leonardo DiCaprio schrecklich gut gespielte Monster fragt abschließend: „Warum töten sie uns nicht?“ Das hat schon was, denn in Tarantinos Diegese ist dieses Versäumnis natürlich umgehend nachzuholen – wie in Inglorious Basterds. Aber vorläufig hat Schultz dem Ganzen nur seine Bildung, seine List und am Ende seinen Derringer entgegenzusetzen. Wären da nicht der alte Haussklave Stephen und wäre da nicht Django.


Was zur Hölle hat Samuel L. Jackson in dem Film zu suchen?

Stephen ist der verabscheuungswürdigste Neger-Charakter in der Geschichte des Films (Samuel l. Jackson).

Vielleicht stimmt das nicht und in Wirklichkeit trifft dieses vernichtende Urteil auf die Macher von Vom Winde verweht zu, die Hattie McDaniel jene „Mammy“ spielen ließen, die in ihrer ruppigen Art fast wie ein mütterlicher Hausdrache über das weiße Herrenmädchen Scarlett herrschte. Wenn man „Django Unchained“ verstehen will, sollte man sich danach das David O. Selznick mit zehn Oscars überhäuftes Südstaaten-Epos noch einmal anschauen, das (bis in die deutsch Synchronisation) wie ein rassistisches Pamphlet wirkt und Farbige, eben abgesehen von jener „Mammy“, als debile Kretins präsentiert.  
Die Jovialität, mit der 1939 einer Negerin eine Rolle ‚fast auf Augenhöhe’ zugestanden wurde, wird in Tarantinos Film ins Bizarre übersteigert. In „Django Unchained“  ist Candies Haussklave Stephen (Samuel L. Jackson) nicht nur ein Kollaborateur, sondern er ist es, der das Wort ‚Nigger’ häufiger benutzt als jeder Weiße. Stephen ist es denn auch, der Schultz durchschaut und Candie klar macht, dass es bei dem lukrativen Geschäft nicht um einen Kampfsklaven, sondern um die hübsche Sklavin Broomhilda gehen soll, deren Preis an sich so elend ist, dass Candie für ein derartiges Geschäft Schultz und seinen Begleiter nie vorgelassen hätte.
 

Tarantino muss gewaltigen Spaß dabei gehabt haben, diesen ‚Nigger’ als heimlichen Herrscher von Candyland zu präsentieren – jener dominiert dank einer Melange aus jahrzehntelanger Erfahrung und grausamer Intelligenz, die ihn so unentbehrlich machen, dass er in vollem Umfang jedwede Freiheit besitzt, die er sich wünscht – meilenweit über den anderen Niggern stehend und erst recht über dem White Trash, dem Tarantino in vielen Szenen mit vulgär-zynischen Charakterisierungen den Krieg erklärt. Aber Stephen, dessen dramaturgische Funktion zunächst so schwer zu durchschauen ist, ist mehr als ein Kollaborateur – er personifiziert die Infamie, mit der es Rassismus und Faschismus geschafft haben, aus Opfern Mittäter zu machen. Stephens Figurenzeichnung konterkariert auf boshafte Weise die privilegierten jüdischen Sonderkommandos in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern, Männer, die häufig den Verstand verloren oder sich umbrachten und in Auschwitz immerhin einen Aufstand organisierten [4]. Stephen ist so gesehen das schlimmste Monster in „Django Unchained“ .
„Willst Du Deine Frau zu retten, indem Du mein Handwerk lernst? Das ist mein Handwerk: ich töte Menschen und ihre Leichen verkauf’ ich für Geld!“ (Dr. King Schultz zu Django)
 

„Django Unchained“  ist auch eine Geschichte vom Sündenfall und von der moralischen Metamorphose. Zunächst der Sündenfall: Django erlebt sein Waterloo in einer Schlüsselszene des Films. Schultz, Django und Candies Tross sehen sich auf der Plantage um und stoßen auf eine Truppe Weißer, die vor einem Baum stehen, auf den sich der Mandigo-Sklave D’Artagnan (man beachte den Verweis auf Alexandre Dumas, den Schultz später anbringen wird) geflüchtet hat. D’Artagnan will nicht mehr kämpfen, aber Candie rechnet ihm freundlich vor, dass er seinen Kaufpreis noch nicht eingespielt hat: „Weißt Du überhaupt, was Kompensation heißt?“ Der weiße Pöbel geifert vor Lachen. Schultz erträgt das Ganze nicht und will den Sklaven freikaufen, doch Django zeigt Härte und lehnt dies ab. Allein das Verhältnis von Schultz und dem Nigger Django ist schon Provokation genug und Candie lässt D’Artagnan von den Hunden zerfleischen, um Djangos Reaktion zu beobachten. Als Candie fragt, ob Schultz Derartiges nicht gewohnt sei, aber Django offenkundig doch, erwidert dieser: „Ich bin einfach Amerikaner und mehr gewohnt als er!“ Django hält sich an den Plan und lässt alles geschehen.

Nun die moralische Metamorphose: sie findet statt, nachdem der Plan von Schultz und Django aufgrund von Stephens Enthüllung aufgeflogen ist und Schultz mit Waffengewalt eine hohe Summe für Broomhilda abgepresst wird. Man geht um Geschäftlichen über, der Vertrag wird unterzeichnet und besiegelt. Candies Schwester Laura Lee spielt an der Harfe Beethovens „Für Elise“, während Tarantino zwischen der Vertragsabwicklung, Closeups des geschlagenen Schultz, Totalen von Laura Lee und Schultz’ Flashbacks von der Zerfleischung D’Artagnans hin- und herschneidet. Schultz springt auf: „Könnten Sie nicht aufhören, Beethoven zu spielen? Hände weg von der Harfe!“
Es folgt eine Debatte zwischen Schultz und Candie. Schultz erinnert Candie daran, dass dieser seinen zerfetzten Sklaven nach der Hauptfigur in Alexxandre Dumas’ „Die drei Musketiere“ benannt hat. Candie merkt an, dass Schultz wohl meine, dass Dumas die Ereignisse wohl nicht gebilligt hätte: „Dusseliger Franzmann.“ Worauf Schultz erwidert: „Alexandre Dumas war schwarz!“ Indem Schultz den frankophon angehauchten Candie, der nicht einmal Französisch sprechen kann, mit dessen Bildungslosigkeit konfrontiert, provoziert er die Eskalation. Schultz verweigert Candie den Händedruck und erschießt ihn stattdessen: „Tut mir leid. Ich konnte einfach nicht wiederstehen!“ Dann wird er von Candies Bodyguard erschossen und alles mündet in einem Blutbad. So endet die Reise der beiden mit einem multiplen Lernprozess, in dem der zynische Killer zum Humanisten wird und der befreite Sklave zum Killer. Das ist wohl nur bei Tarantino möglich.


„Überall ist Candyland!“ (Stephen)

Mit dem Tod von Waltz kastriert der Film am Ende ein wenig seine erzählerische Potenz – ohne den Mentor bleibt Django nur noch der von Tarantino überstilisiert inszenierte blutige Rachefeldzug à la Django, nur diesmal ohne Maschinengewehr. Alles ziemlich ironiefrei, auch wenn sich Quentin Tarantino als Nebendarsteller spektakulär in die Luft sprengen lässt. Und nachdem Django mit allen abgerechnet hat, lässt sich Tarantino endgültig gehen und gibt dem Affen Zucker: bevor Django mit Broomhilda nicht in den Sonnenuntergang, sondern in die schwarze Nacht davonreitet, lässt ihn Tarantino einige Dressurschritte mit seinem Pferd vorführen. Dann ein Flashback auf Dr. King Schultz: „Weißt Du, wie sie dich nennen werden? Den schnellsten Colt im ganzen Süden!“, und wenn Django und Broomhilda endlich davonreiten, sieht man als Letztes, wie Broomhilda eine Winchester aus dem Halfter zieht. Und nach dem Abspann mit einer Rap-Version des Django-Themas gibt es noch einen Schnitt auf eine Gruppe Sklaven: „Who was that Nigger?“, fragt einer.

Diese Überstilisierung zeigt wieder ganz den infantilen Tarantino, der mit seinen Versatzstücken spielt und aus dem blauäugigen, blonden Franco Nero-Django den schwarzen Jamie Foxx-Django macht, so als würde er dem Publikum sagen wollen: „Seht her! Das kann ich alles machen!“ Hier büßt der Film ein wenig von seiner Kraft ein und es scheint kein Zufall zu sein, dass nach dem Verschwinden von Waltz die Manierismen von Tarantino ungebrochen zum Vorschein kommen.
Aber über weite Strecken nimmt Tarantino das ernst, was den guten Corbucci-Western und den anderen von intellektuellen Filmfreunden auserwählten Edel-Spaghetti-Western in den 1970er Jahren nachgesagt wurde: nämlich dass sich hinter den schmuddeligen Bilder mehr verbirgt als das, was der Spaghetti-Western dem Augenschein nach ist. Tarantino hat diesen Filmmythos beim Wort genommen, seine Message sogar ausdrücklich beim Namen genannt [5] und dabei auch als Stilist alles richtig gemacht: er zelebriert brillante Mainstream-Unterhaltung und schiebt uns ganz nebenbei Bilder unter, die wir nicht so schnell loswerden. 

Und neben dem Zitieren der Vorbilder wird diesmal auch richtiges Erzählkino im Stile großer Western-Epen präsentiert. Mit „Django Unchained“ legt Quentin Tarantino eine trash-gefilterte politische Aussage vor, die auf das Wesen des Rassismus abzielt und weniger auf historische Genauigkeit. Das kann man ruhig einmal mit Spielbergs historisch weitgehend exakter und auch glaubwürdiger Fiktion in Lincoln abgleichen. Was beide Filme nicht erzählen: In den Jahren nach der Sklavenbefreiung war der eigentliche Gewinner dann doch der Ku-Klux-Klan und nicht der schnellste Colt im ganzen Süden. Als die Farbigen wählen durften, begannen die Massaker, allein in den Wochen vor den Präsidentschaftswahlen 1968 wurden beispielsweise in Louisiana 2000 Menschen umgebracht. Deshalb darf man nie vergessen, dass Tarantinos Films eine affektive Geschichtsrevision ist, keine faktische, und als solche ist sie selbst ein Stück Ideologie und keineswegs ideologiekritisch. „Django Unchained“  ist dennoch einer der wichtigsten Filme des neuen Jahres.

Noten: Mr. Mendez = 2, Klawer, BigDoc, Melonie = 1,5

Pressespiegel:
„Der Italo-Western war ein so beliebtes Genre, weil die Grausamkeit Figuren traf, von denen man sagen konnte, sie hätten es verdient. Das ist in „„Django Unchained“ “ genauso. Die Welt wäre zu retten gewesen, heißt das, und wenn die Geschichte anders verlief, kann einer wie Tarantino das im Kino wieder rückgängig machen. Er hat das schon einmal getan“ (Verena Lueken in: Frankfurter Allgemeine)
 

„...dies ist gerade angesichts des mitunter selbstgefälligen Liberalismus des Obama-Amerikas alles hochpolitisch - und wird in den USA auch so debattiert. Das ändert nichts daran, dass Tarantino vor allem dem weißen Amerika den Spiegel vorhält und vorführt, was die Weißen den Schwarzen einst antaten“ (Rüdiger Suchsland in: Telepolis). 


[1] Nicht nur die amerikanischen, sondern auch die deutschen Zuschauer sind auf entsprechende Weise durch „Roots“ medien-sozialisiert worden.
[2] Auf diesen Gedanken hat Benedikt Steierer in „Inglorious Basterds als kontroverser Metafilm“ hingewiesen: www.medienobservationen.lmu.de
[3] Hier passt es ausgezeichnet in Tarantinos Trash-Konzept, dass es ein literarisches Candyland gibt, nämlich in der Bizzaro Fiction von Carlton Mellick III, der so bahnbrechenden „Avant-Punk“-Bücher wie „Die Kannibalen von Candyland“ geschrieben hat.
[4] Medial verarbeitet in
The Grey Zone (2001) von Tim Blake Nelson.
[5] „Sie (die Deutschen) sind alle gezwungen worden, sich bis zur Bewusstlosigkeit immer und immer und immer wieder mit der Schuld ihres Volkes auseinanderzusetzen. Den Amerikanern ist es gelungen, irgendwie darüber hinwegzugleiten" (Quentin Tarantino).

O.: „Django Unchained“ , USA 2012; Regie: Quentin Tarantino, Drehbuch: Quentin Tarantino; Kamera: Robert Richardson, Schnitt: Fred Raskin; Länge: 165 Minuten, Altersfreigabe: ab 16, D.: Jamie Foxx, Christoph Waltz, Leonardo DoCaprio, Kerry Washington, Samuel L. Jackson, Don Johnson, Franco Nero, Walton Goggins, Quentin Tarantino, Tom Savini.