Dienstag, 26. Februar 2013

Liebe

Mit „Liebe“ hat Michael Haneke einen emotional zupackenden, aber nicht sentimental anrührenden Film über die Liebe gemacht und dabei von Alter und Tod erzählt. Der Minimalismus seines Filmes ist eine Absage an das Hi-Speed-Kino und für viele Zuschauer vermutlich zu sperrig. Vielleicht kein Meisterwerk, aber großes Kino allemal.

Eine Seltenheit: am Abend nach der OSCAR-Verleihung konnte der Gewinner des Besten Fremdsprachigen Films im Filmclub vorgestellt werden. Natürlich nicht Michael Hanke persönlich, aber immerhin sein Film. „Liebe“ setzte sich mit einer (offen gestanden) unerwarteten Traumnote durch und katapultierte sich auf Platz 1 der noch jungen „Best of“-Liste 2013. Django unchained (with a silent ‚D‘) musste auf Platz 2 ausweichen.
 

Form vor Inhalt 

Filmkritiken beginnen häufig mit einer Inhaltsangabe, erst später werden formale Aspekte gewürdigt. Ich versuche es diesmal andersrum, denn Hanekes Kino ist neben seinen pointierten Sujets und Themen immer auch eine Suche nach dem richtigen, oder besser gesagt: nach dem angemessenen Stil gewesen.
In Liebe steigert Haneke nun sehr entschlossen den schon früher angedeuteten Minimalismus mit langen ungeschnittenen Einstellungen und wenigen, diskreten Schnitten. So einfach wie möglich wollte er den Film machen, so Haneke. Man sieht es mit Irritation, es ist gewöhnungsbedürftig, aber man versteht auch, wenn man aufmerksam hinsieht, dass sich hinter der Forderung nach Einfachheit wohl ein Programm verbirgt.
Einige Beispiele: Dort, wo in anderen Filmen in die finale Bewegung einer Person geschnitten wird, bleibt bei Haneke das Bild häufig noch zwei bis drei Sekunden stehen. Liebe verzichtet zwar nicht auf eine vertraute Szenenauflösung, aber gelegentlich muss man lange warten, bis in einem Dialog die vertrauten und vom Zuschauer wohl auch antizipierten Gegenschüsse beginnen. In einigen Dialogszenen, in denen man förmlich den Gegenschuss auf den Gesprächspartner herbeisehnt, bleibt eben dieser aus oder folgt mit erheblicher Verspätung. Das alles ist nicht nur effizientes Filmemachen, sondern Programm. Wir haben es mit Plansequenzen zu tun.
 

Die Theorie der Plansequenz ist ein programmatischer Bestandteil der Theorien über den Filmrealismus. Der französische Theoretiker André Bazin hat mehrfach darüber geschrieben, vielleicht am deutlichsten in seinem Essay „Montage interdit“ (Montage verboten, 1953/56). Kurz zusammengefasst: die Plansequenz, die lange ungeschnittene Einstellung, zeigt dem Zuschauer mehr als eine besondere Inszenierung des filmischen Raumes, in dem der Blick, das beobachtende Hinsehen, mehr Freiheit besitzt, weil er nicht von der Montage ‚gelenkt‘ wird. Die Plansequenz ermöglicht darüber hinaus auch eine andere, besondere Wahrnehmung der Zeit: im Idealfall sieht man den Ablauf der Handlung im Verhältnis 1:1, nichts wird gerafft, die Illusion von Wirklichkeit nimmt zu. Ja, man meint, womöglich ihr selbst zu begegnen. Der Ablauf der filmischen wie der wirklichen Zeit ist aber immer auch ein Vergehen und das Vergangene ist eben dahin, es ist etwas Unwiderrufliches geschehen (ich vermute mal, dass Bazin heute eher schockiert wäre, wenn er wüsste, dass der Griff zu Rewind-Taste des DVD-Players das gerade eben ‚Vergangene‘ auf der Stelle zurückholt!).

Ein anderer Aspekt der Plansequenz ist die „Mise-en-scène“, das Inszenieren der Geschehnisse innerhalb einer Einstellung, häufig auch gestaffelt in einem von der Kamera tiefenscharf aufgenommenen Raum. Simples Beispiel: während vorne in der Einstellung ein Mann seine Zeitung liest, verlässt ‚hinten‘ seine Frau mit einem Koffer heimlich die Wohnung. Honni soit qui mal y pense. Wer sich Liebe aufmerksam auf diese Eigenschaften hin anschaut, wird einige der beschriebenen Elemente mühelos wiedererkennen.

Ich möchte jetzt aber keine Realismus-Debatte vom Zaun brechen. Filmrealismus ist meiner Meinung nach weder von einer bestimmten Art der Montage noch vom Einsatz bestimmter optischer Mittel abhängig. Und vieles, was in klassischen Filmtheorien als Vorbild angeführt wird, dient eher einem naturalistischen Konzept, das heimlich von filmontologischen Vermutungen angetrieben wird, etwa über das ‚Wesen des Films‘. Aber einiger dieser Überlegungen mussten vorangestellt werden, um zeigen, dass Michael Haneke keineswegs traditionsfrei seine Filme inszeniert, aber auch, um klarzustellen, dass das Erste, was in Hanekes Liebe den Zuschauer berührt (ob angenehm oder unangenehm) nicht die Geschichte ist, sondern die Ästhetik!



Eine Geschichte über das Altwerden – oder über die Liebe?

Liebe beginnt mit einer Rahmenhandlung: in der ersten Szene bricht die Feuerwehr eine Tür auf, Beamte mit Mundschutz gehen durch die gutbürgerliche Wohnung, die Tür zum Schlafzimmer wird aufgebrochen. Auf dem Bett liegt die bereits stark eingefallene Leiche einer alten Frau. Sie ist von Blumen bedeckt. Schnitt auf den Titel: LIEBE.
 

Rückblende: Georges (Jean-Louis Trintignant) und Anne (Emmanuelle Riva), beide pensionierte Musikprofessoren um die 80, besuchen ein Schubert-Konzert (langer Take vom Publikum, kein Schnitt auf die Bühne). Nach der Rückkehr entdecken beide, dass jemand versucht hat, in die Wohnung einzubrechen. Am nächsten Morgen verfällt Anne während des legeren Frühstücks in eine Art katatonischer Starre. Minutenlang reagiert sie weder auf Ansprache noch auf Reize. Als sie ‚zurückkehrt‘, weiß sie nichts von ihrer Absence und will auch von einem Arzt nichts wissen. Dann gießt sie sich eine Tasse Tee ein, der Tee landet indes auf der Untertasse. Erst nach einigen Sekunden realisiert Anne ihre Fehlleistung.
 

Dann beginnt der Verfall. Anne wird wegen einer akuten Gefäßverengung operiert, der Eingriff schlägt fehl und Anne sitzt nun halbseitig gelähmt im Rollstuhl. Georges reagiert mit Gefasstheit auf die Situation und kümmert sich hingebungsvoll um seine Frau. Waschen, Anziehen, Krankengymnastik. Später wird er zwei Krankenpflegerinnen einstellen, sich aber mit einer überwerfen.

Annes innerer Rückzug schreitet voran. Georges findet sie nach seiner Rückkehr vom Einkaufen neben dem Rollstuhl auf dem Boden. Das Fenster ist offen. Anne erklärt, er sei zu früh gekommen. Beide sprechen über die Belastungen, über das aus Annes Sicht Unerträgliche. Anne ist suizidal.
Besuche werden selten. Alexandre, ein früherer Klavierschüler Annes und nun ein erfolgreicher Konzertpianist, besucht das Ehepaar. Anne meistert die Situation, aber die Stimmung ist belastet. Man spricht nicht offen über die Krankheit. Als die Tochter Eva (Isabelle Huppert), die mit ihrer Familie im Ausland lebt, die kranke Mutter besucht, verbreitet sie eher Hektik. Georges lehnt eine Krankenhauseinweisung ab und will Anne weiterhin pflegen.
Anne ist nun bettlägerig, auch ihre Sprache ist verloren gegangen. Der Verlust der Mobilität und der Kommunikation steigert zwangsläufig die zum Teil übergriffig erlebten Pflegesituationen. Nichts geht mehr von allein. Anne ruft nun häufig und ununterbrochen „Hilfe“ (Original: „mal“, frz. für schlecht oder Schmerz). Sie lehnt es ab, zu essen oder zu trinken. Als Georges ihr mit Gewalt Wasser einflößt, spukt sie es aus. Georges ohrfeigt sie.
 

Wo die Sprache endet 

Man kann Liebe als tätiges Handeln, als Liebe durch das Handeln sehen. Man kann Liebe auch einfach als Protokoll des Altwerdens lesen, als unvermeidliche Abfolge von pathologischen Ereignissen mit letalem Ausgang.
Man kann die Erzählweise, die langen Plansequenzen, das langsame, fast quälende Verfließen der Zeit auch ‚realistisch‘ nennen, aber das ist, wie schon angedeutet, ein Etikett, das man an einen Film pappt, weil es Bedeutung herstellt, die unmittelbar verstanden wird.
Ich kann dies nicht ohne Weiteres nachvollziehen, denn Filme – besonders realistische – sind hoch-artifizielle Produkte. Realismus rekurriert nicht auf die photographischen Qualitäten und auch nicht auf die mimetische Abbildung, sondern ist analytisch, deutend, eingreifend, typologisch – eine Erzählweise, die sich unbedingt für das öffnen muss, was jenseits des filmischen Kosmos existiert.

Hanekes filmischer Kosmos in Liebe riegelt sich indes hermetisch ab, so wie es auch Anne und Georges tun. Haneke ist ein Beobachter der Ereignisse, die er selbst kreiert hat.
Liebe ist, und man möge dies beim ersten oder zweiten Betrachten ruhig in Erwägung ziehen, auch und vielleicht zuallererst ein Film über das Sprechen. Haneke, und das gehört zur Geschichte der Töne in dem Film, hat weitgehend auf Filmmusik verzichtet. Alles, was man hört, sind die Geräusche, die auf natürliche Weise in der Wohnung präsent sind. Auch Musik vom CD-Player oder Annes Klavierspiel in einem Flashback von Georges. Und es ist das Sprechen der beiden und der wenigen Personen, die noch in die Wohnung vordringen. Und hier wird deutlich, dass der Verlust, den Anne erleidet, nicht nur ein motorischer ist, sondern das Nicht-Mehr-Verstanden-Werden-Können, das der Andere auch erfährt.
 

Anfangs erleben wir ein eingespieltes Paar. Das sprachliche Miteinander ist eingeübt, beide sind im gehobenen Bildungsbürgertum sozialisiert worden, man weiß, wie man miteinander umzugehen hat: höflich, mit einem Schuss Distanz – sprachliche Gewohnheiten.
Der erste Riss findet nach Annes erster Absence statt: die Sprache stößt an Grenzen, das Konventionelle in ihr reicht nicht mehr aus, um sich mitzuteilen. Anne versteht Georges nicht, Georges verzweifelt an Anne.
Später sieht und vermittelt Anne alles, solange sie sprechen kann, mit erstaunlicher Brutalität. Besonders das Gespräch nach dem vergeblichen Suizidversuch macht deutlich, dass Annes Sinnleere klare Grenzen zieht: sie ist nicht mehr bereit, sich den Kopf ihres Mannes zu zerbrechen. Georges Versuche, ihr das aus seiner Sicht Erforderliche mit viel Empathie zu vermitteln, schlagen fehl.
Der Besuch von Alexandre macht diese Limitierung deutlich: noch einmal rafft sich das Paar auf, noch einmal tragen die sprachlichen Rituale im vertrauten Milieu, aber Alexandres Andeutungen vertiefen den Riss. Und wenn Annes Sprache versiegt, ist die Grenze überschritten: nur ein Wort steht ihr noch zur Verfügung und dieses Wort beschreibt die Not.
 

Haneke lässt seine Hauptfiguren sprechen, wie es sich kein anderer zutrauen würde. Es ist eine fast theaterhafte Sprache, fein ziseliert, immer andeutend, dass hier Bildung und Umgangsformen, Selbstkontrolle und bürgerliche Höflichkeit herrschen. Vertraute Gewohnheiten, auf Grenzüberschreitungen folgt die sofortige Entschuldigung. Georges ist dabei derjenige, der am längsten hinhaltenden Widerstand leistet: bei den Gesprächen mit dem Ehemann der Concierge, beim Kündigungsgespräch mit der Pflegerin. Die Annäherung seiner Tochter lehnt er ab: „Nichts von all dem ist es wert, vorgezeigt zu werden!“
So einen Satz muss man erst einmal vorbringen.
 

Ganz am Ende, bevor Georges seine Frau mit einem Kissen erstickt, scheint das Miteinander-Sprechen scheinbar zu funktionieren. Georges erzählt eine Geschichte aus seiner Jugend, eine traurige, sehr intime. Man spürt die Freude des Sich-Öffnens. Anne zeigt keine Reaktion. Georges tötet sie. Mit der Geschichte hat dies nichts mehr zu tun.
 

Die Geschichte über das Sprechen und den Verlust der Sprache ist ein minimalistisches und existentielles Drama, das gerade wegen der formalen Strenge Hanekes berührt. Isabelle Huppert hat im Bonus-Material der Bluray betont, dass Michael Haneke jedwede unpassende Sentimentalität ablehnt, weil dadurch die Emotion verloren geht. Sie bahnt sich auf brutalere Weise den Weg, so Huppert, weil sie frei von Sentimentalem ist. Wenn wir nach Liebe etwas gelernt haben können, dann ist es die Erkenntnis, die Grenzen unseres Sprechens zu erkennen. Wir müssen uns nicht von Sprachritualen trennen. Aber von Floskeln, wenn es darauf ankommt. Und kurz vor dem Tod kommt es darauf an.

Noten: Mr. Mendez, Klawer = 1, BisDoc = 1,5, Melonie = 2