Freitag, 25. Dezember 2015

Homeland Season 5: Showtime in Deutschland

In der vierten Staffel hatte die bipolare CIA-Agentin Carrie Mathison als „Drone Queen“ die moralische Schlagseite ihres Brötchengebers als ihre eigene erlebt und danach das Handtuch geworfen. In der neuen Season hat sie einen neuen Job gefunden – in Deutschland. Und nicht länger bei der Agency. Mit der 5. Staffel erreicht der kontrovers diskutierte Polit-Thriller von Showtime  einen vorderen Platz unter den Top-Serien des zurückliegenden Jahres: Raised up from the ashes.

Carrie (Claire Danes), die bei der CIA keine Zukunft mehr hatte, arbeitet nun als Sicherheitsberaterin für die deutsche Düring Foundation, die von dem steinreichen Otto Düring (Sebastian Koch) geleitet wird. Ihr Verhältnis zu ihrem Mentor Saul Berenson (Mandy Patinkin) ist zerrüttet: Saul macht seinen Schützling dafür verantwortlich, dass er bei der Besetzung einer Führungsposition übergangen wurde. Nun ist er Chief der CIA-Europaabteilung und muss sich erneut mit dem zwielichtigen Dar Adal (F. Murray Abraham) herumschlagen, der für die im Dunklen operierenden Black Ops verantwortlich ist und sich dabei mehr auf den Berliner Station Chief Allison Carr (brillant gespielt von Miranda Otto) verlässt als auf Saul. Das hat fatale Konsequenzen, als der IS in Berlin zuschlagen will. Terror, Intrige und Verrat: allein Carrie kann sich auf ihre Intuition verlassen und bald ist sie wieder mittendrin in all dem, was sie hinter sich lassen wollte.

„All that suffering, and nothing changes“

Wie immer ist die Main Title Sequence von „Homeland“ eine brillante Interpretation der Seelenlandschaft der Heldin und eine symbolisch aufgeladene Vorschau auf die kommenden Ereignisse. Sean Callery hat den Score mit einer traurig-melancholischen jazzigen Trompete unterlegt. Man sieht, wie schon in Season 4, am Anfang die Löwenmaske, im Off ist eine Frauenstimme zu hören: „Europa ist für Millionen, die aus den Kriegsgebieten im Nahen Osten...“ Der Satz wird verschluckt, Cut auf ein Tablet, das IS-Ziele in Syrien und im Irak zeigt: man sieht Carrie, die im Auto durch Berlin fährt, während im Off eine andere Frauenstimme zu hören ist: „Angela Merkel will weitere 30.000 Flüchtlinge in Deutschland ...“ Dann Carrie im Off: „Christ, I really thought I left all this behind.“

Flüchtlingskrise, IS-Terror, Edgar Snowden und Whistleblowing („the battlefield is online...“), der neue alte Feind Russland – neben den Bildern der politischen Topics, die in knapp 40 Sekunden die Themenfelder der neuen Season wie zerrissene Notizzettel an eine virtuelle Wand tackern, kippt der Rest der Sequenz ins Persönliche. Das ist in „Homeland“ allerdings niemals etwas Privates gewesen ist. 

„All that suffering, and nothing changes“: Carries Lamento im Off wird Sauls nicht weniger resignatives „I actually convinced myself were gonna change the world“ und Peter Quinns (Rupert Friend) kaum weniger deprimierendes „Carrie will never be free“ entgegengehalten. Und Ende als finales Statement die Conclusio von Carries neuer Flamme Jonas Hollander (Alexander Fehling): „So many people, so much blood on your hands.“
Das ist düster und es erzählt beinahe alles, was man danach zu sehen bekommt.
Die neue Main Title Sequence von „Homeland“ nimmt es dabei ästhetisch ganz locker mit den Opening Credits von „True Detective“ oder „House of Cards“ auf und gehört zum Besten, was ich in den letzten Jahren gesehen und gehört habe. Komprimiert und pointiert ist zu sehen, dass „Homeland“ nie nur ein Polit-Thriller war, sondern auch ein psychologisches Drama. Der neue Vorspann zeigt das Thema und kündigt auch das Ende an: Alle sind Verlierer und man kann sich nicht vorstellen, dass es nach dieser Season irgendwie weitergehen kann mit all diesen beschädigten und kaputten Figuren.

Genre-Klischees und präzise Momentaufnahmen

Carrie in Berlin – daran muss man sich gewöhnen. Aber es macht Sinn, denn der Kampf gegen den Terror wird schon längst in Europa ausgetragen. In der ersten Episode geht es darum, dass der Journalistin Laura Sutton (Sarah Sololovic) gehackte Dokumente der CIA zugespielt werden Damit könnte sie die illegalen Schnüffelaktionen von BND und CIA beweisen. Doch bald sind auch die Russen hinter den Dokumenten her und was als vielversprechende innerdeutsche Affäre beginnt, entwickelt sich rasch zu einem globalen Spionage-Thriller, in dem es um einen Terroranschlag des IS in Berlin, den Sturz des syrischen Despoten Baschar al-Assad durch die CIA, die Interessen des israelischen Mossad und – natürlich – auch um den Klassiker aller Spy Movies geht: den Verräter in den eigenen Reihen.

„Homeland“ bewegt sich dabei zwischen saftigen Genre-Klischees und beängstigend präzisen Momentaufnahmen. Dass die Russen alles tun, um den IS-Anschlag gelingen zu lassen, ist von bizarrer Logik, das strategische Ziel ist bitter-böse: Nur so könne man den dekadenten Westen aufrütteln, um ihn zum bedingungslosen Kampf gegen den Islamismus zu motivieren. 
Mit solchen steilen Thesen hat die Serie bereits in der Vergangenheit heftige Kritik provoziert, doch bei „Homeland“ ist die Ambivalenz Programm. Die Macher um die Showrunner Howard Gordon und Alex Gansa („24“) haben bereits in den vergangenen Staffeln regelmäßig divergierende Positionen in Stellung gebracht und dem Zuschauer klare Positionen verweigert. 

Das wird auch in der ersten Episode offensichtlich, als Carries Buddy Peter Quinn nach zweijähriger Special Ops-Arbeit gegen den IS seinen Bossen in Langley das Scheitern der amerikanischen Strategie um die Ohren haut: „Tell me what the strategy is and I’ll tell you if it’s working. That right there is the problem. They have a strategy. What do you think the beheadings, the crucifixions, the revival of slavery are about? It’s all in The Book. The only book they ever read, all the time, they never stop. To usher in a world without infidels - that’s their strategy and it’s been that way since the 7th century. You really think a few Special Forces teams are going to put a dent in that?“

Ist das islamophob oder realistisch? Und was tut die CIA in dieser Gemengelage in Berlin? Nun, sie killt. Saul Berenson hat im Auftrag der Agency eine Todesliste zusammengestellt, auf der zahlreiche IS-Aktivisten und –Sympathisanten stehen, eine Liste, die von Peter Quinn akribisch abgearbeitet wird. Mitten in Berlin. Fiktion? „Homeland“ ist vor diesem Hintergrund alles Mögliche vorzuwerfen – eine blühende Phantasie allerdings nicht, zumindest nicht in dem genannten Punkt (1).

Narrativ ist die Geschichte ein Mixtur aus kruden Ideen und erschreckend realistischen Mutmaßungen.
Die 5. Staffel ist mit Ausnahme der letzten Episode lange vor den Anschlägen in Paris fertig gestellt worden. Die „German Angst“, die sich angeblich wieder bei uns breit macht, dürfte die neue Staffel jedenfalls ziemlich beflügeln, wenn sie davon erzählt, dass eine IS-Terrorzelle in der Bundeshauptstadt einen Anschlag mit dem chemischen Kampfstoff Sarin plant.
Die dramatischen Ereignisse finden ihren Höhepunkt in den beiden letzten Episoden, in der die Terroristen den Berliner Hauptbahnhof attackieren – IS-Follower, die sich nicht etwa als Flüchtlinge getarnt in Deutschland eingeschlichen haben, sondern mitten unter uns als deutsche Staatsbürger mit Migrationshintergrund lebten und auf zahlreiche Sympathisanten in der muslimischen Gemeinde Berlins, aber auch an der Hochschule der Stadt zurückgreifen können. Das dürfte Ängste auslösen. Der permanente Vorwurf der Islamophobie, dem „Homeland“ seit jeher ausgesetzt ist, dürfte angesichts der aktuellen Ereignisse in Frankreich und Belgien schwächer ausfallen. Er wird in der Serie zudem sarkastisch kommentiert, denn es ist ausgerechnet ein bekennender libanesischer Atheist. Ein Akademiker mit deutschem Pass, der sich an Israel und Deutschland rächen will und den IS mit der erforderlichen Technik für den Anschlag versorgt.

Ein kompaktes Comeback

„Homeland“ in Deutschland: Da stellt sich natürlich die Frage, was amerikanischen Scriptwritern zu unserem Land so einfällt. Natürlich sind im Cast deutsche Schauspieler in mehr oder weniger wichtigen Rollen zu finden: neben Sebastian Koch und Alexander Fehling sind auch Nina Hoss als BND-Agentin Astrid und Martin Wuttke als lokaler BND-Chef Adler mit von der Partie, sogar Jörg Hartmann ist in einer Mini-Nebenrolle zu sehen.

Im Übrigen staunt man, was sich die Autoren zu Deutschland einfallen ließen: Deutsche Polizisten, die friedlich demonstrierende Bürgerrechtler zusammenknüppeln (allerdings nur kurz in einem TV-Einspieler zu sehen), BND-Agenten, die unter den Augen der örtlichen CIA-Vertreter einen Zeugen der Agency am helllichten Tag kidnappen und Martin Wuttke als BND-Leiter Adler, der die CIA-Schnüffler auf die Bundesregierung ansetzt, weil man das ja wegen der strengen Gesetze nicht selbst tun dürfe. Hier ist die Phantasie wohl aus dem Ruder gelaufen und das Schaf wurde zum Wolf gemacht.

Auch wenn nicht immer alles stimmig im Deutschland-Bild der Serienmacher ist, so ist „Homeland“ ein kompaktes Comeback gelungen. Die ätzenden Fragen landen treffsicher im Ziel: Sind Whistleblower naive Idealisten oder die letzte Bastion vor dem Fall der Bürgerrechte? Hat sich der Kampf gegen den Terror zu einer wahnwitzigen Karussellfahrt entwickelt, in der beide Seiten nur Leichenberge anhäufen? 
Antworten bleibt "Homeland" schuldig. Wenn die Scriptwriter am Ende allerdings dafür sorgen, dass der IS in Berlin scheitert, dann liegt das weniger an der Schlagkraft der CIA, sondern an den Gewissensqualen eines muslimischen Terroristen. Auch eine Antwort.

Und der Rest? „Homeland“ ist erneut ein psychologisches Drama, in dem es keine Gewinner gibt. Nur Verlierer und Opfer, die auf der Strecke bleiben. Carrie wird nichts von dem behalten, was ihr lieb und teuer ist. Saul Berenson wird im Laufe der Staffel immer mehr zur heimlichen Hauptfigur, die – doppelt und dreifach betrogen, von Freunden und Feinden – am Ende blutige Rache sucht und findet. Und die wirkliche Hauptfigur ist Peter Quinn, an dem im makabren Höhepunkt der Staffel die Terroristen die Wirkung des Nervengifts Sarin testen. Er ist noch mehr als Carrie ein Wanderer zwischen den Fronten – bedingungslos loyal zu Carrie, gnadenlos als Killer, seelisch bereits tot. 

Natürlich hat man oft das Gefühl, das alles bereits gesehen zu haben, aber die Intensität und Glaubwürdigkeit, mit der die neue Staffel ihre Geschichte erzählt, spiegelt in ihrer Atemlosigkeit in 12 Episoden wider, wie sich der momentane Zeitgeist anfühlt. Alle laufen wie besessen im Hamsterrad. Es dreht sich immer schneller und doch weiß keiner, was am nächsten Tag passieren wird.

(1) 2001 kündigte der US-Justizminister John Ashcroft an, dass die US-Regierung plant, Auftragsmorde im Ausland zu legalisieren und Mitarbeiter zu rekrutieren, die direkten Zugang zu Terrorzellen besitzen.
Erinnert sei auch an die Affäre Darkazanli, die zu Ermittlungen der Hamburger Staatsanwaltschaft und später auch der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe führte: angeblich haben die CIA oder Blackwater geplant, den als mutmaßlichen Al-Qaida geltenden Deutsch-Syrer zu liquidieren. Und über die rustikalen Auslassungen der ehemaligen Chefs der NSA und CIA, Michael Hayden, der die sogenannten „Kill Lists“ dementierte, aber einräumte, dass die Dienste gegnerische Kombattanten töten würde, hat der SPIEGEL mehrfach berichtet.


Noten: BigDoc = 1,5

Homeland - USA 2015 - Network: Showtime - 12 Episoden - Executive Producers: Howard Gordon, Alex Gansa - D.: Claire Danes, Rupert Friend, Mandy Patinkin, Alexander Fehling, F. Murray Abraham, Miranda Otto, Sebastian Koch, Martin Wuttke, Nina Hoss, Mark Ivanir, René Ifrah, Sarah Sokolovic.


Mittwoch, 2. Dezember 2015

True Detective 2 – Der Vorhof der Hölle

Bevor die Hauptfiguren herausfinden, was wahrhaftige Detektive sind, müssen sie durch die Hölle gehen. Polarisiert hat bereits Nic Pizzolattos erste Staffel. Wer sie geliebt hat, wird von der zweiten entweder restlos enttäuscht oder völlig begeistert sein. Dazwischen existiert keine Grauzone, in der man es sich bequem machen kann. Und wer die philosophiegetränkten Geschichten schon beim ersten Mal nicht gemocht hat, wird sich nun erst recht bestätigt fühlen. Nicht ganz zu Unrecht, denn der Showrunner hat mit der neuen Serie die Latte vermutlich zu hoch aufgelegt. 

Direkt ins Herz des Bösen

Die erste Staffel von „True Detective“ war das Serienereignis des Jahres 2014. Selbst das kongeniale „Fargo“ musste sich gewaltig strecken, um der prall mit Bedeutungen abgefüllten Serie von Nic Pizzolatto auf Augenhöhe begegnen zu können (...gewann allerdings die meisten Preise). „True Detective“ war und ist ein Solitär: Zu wortgewaltig waren Matthew McConaughey und Woddy Harrelson – angesiedelt zwischen Existenzfragen, philosophischem Nihilismus und einer bildgewaltigen Mythologie, die direkt ins Louisianas schwarzes Herz des Bösen führte.

Der Hype um die zweite Staffel, die erneut als Mini-Serie mit abgeschlossener Handlung realisiert wurde, fiel bereits im Vorfeld unrealistisch aus. Es war nicht zu erwarten, dass man einen Geniestreich beliebig oft wiederholen kann. Es kam, was viele befürchtet hatten: viele Kritiker und Zuschauer wandten sich im vergangenen Sommer enttäuscht ab.
Regisseur Cary Fukunaga fehlte in der Fortsetzung, agierte aber ebenso wie die beiden Hauptdarsteller der 1. Staffel, Matthew McConaughey und Woddy Harrelson, als Executive Producer. Pizzolatto schrieb für TD 2 alle Drehbücher. In der zweiten Staffelhälfte ließ er sich von Scott Lasser unterstützen. 
Bereits nach den ersten Folgen war aber das Dilemma nicht mehr wegzudiskutieren: die zweite Staffel wollte aus den großen Schuhen ihres Vorgängers heraustreten, anders sein und doch originell bleiben. Ersteres ist gelungen, aber die Originalität wurde teuer erkauft. Schlicht und einfach auf den Punkt gebracht: Die Geschichte der zweiten Season ist völlig überladen und lässt sich eigentlich nur anschauen, wenn man gleichzeitig eine Gebrauchsanleitung in der Hand hält oder sich alle Folgen ohne große Unterbrechung in einem Rutsch anschaut.

Worum geht es?
„True Detective 2“ spielt in Vinci, einer fiktiven Kleinstadt, in der es „mehr Arbeitsplätze als Einwohner gibt“. Vinci liegt im Nirgendwo zwischen Los Angeles und San Diego, die hochindustrialisierte Topografie des kleine Nests in Südkalifornien wird durch Highways und Freeways mit diesen Metropolen verbunden. Dieses Netzwerk frisst sich wie ein Krebsgeschwür in die Landschaft. Und es soll größer werden. Der Ex-Gangster Frank Semyon (Vince Vaughn) hat im großen Stil in ein Projekt investiert, das weiträumige Parzellen für den weiteren Ausbau des Straßensystems aufgekauft hat. Ein lukratives Investment, für das man notfalls auch die Böden vergiftet, um billiger an das Land zu kommen. 
Denn unter der mäandernden Oberfläche der Schnellstraßen wuchert ein ganz anderes Krebsgeschwür: Industrie und Handel, die Verwaltung, die Polizei und die herrschende Elite von Vinci sind über zahllose Querverbindungen mit dem organisierten Verbrechen verknüpft, das schon längst seine Finger im Spiel hat. Und als Semyons Mittelsmann Ben Caspere ermordet wird, sind plötzlich auch seine Millionen futsch. Das Kartell teilt ihm lapidar mit, das Geld nie erhalten zu haben.

Korrupt sind fast alle in Vinci. Die Oberschicht feiert Orgien mit Nutten, die zuvor unter Drogen gesetzt werden. Es wird gesoffen und gekokst und alle wollen dazugehören. Den Sumpf möglichst nicht aufräumen sollen nun die Cops Raymond „Ray“ Velcoro (Colin Farrell) vom Vinci Police Department, Antigone „Ani“ Bezzeridis (Rachel McAdams), die für den Sheriff von Ventura ermittelt, und der Highway Patrol Officer Paul Wooddrugh (Taylor Kitsch), der Casperes Leiche auf einem Parkplatz gefunden hat.
Um diese Figuren herum baut Pizzolatto ein undurchsichtiges Geflecht aus weiteren Figuren auf, die nicht nur in den Big Deal involviert sind, sondern auch noch folgenschwere Crime Plots abarbeiten müssen, die weit in die 1990er Jahre zurückreichen. 

 

Melodram und Kitsch: Die Gefühle in True Detective

Über diesen Geschichten liegt eine gewaltige Tristesse, die sich langsam wie ein schleichendes Gift in die verborgenen Motive und Ängste der vier Hauptfiguren hineingräbt. Was sie verbindet: Sie leben nicht gerne, eigentlich müssten sie tot sein, um ihren Frieden zu finden. Sie wurden in ihrer Jugend sexuell missbraucht und misshandelt (Frank, Antigone) oder sind schwer traumatisiert wie Ray und Paul.
Rays Ehe ist gescheitert, er kämpft verzweifelt um das Sorgerecht für seinen Sohn und weiß nicht, ob er dessen biologischer Vater ist. Gleichzeitig steht er auf Franks Lohnliste und erledigt für ihn dirty jobs. Vor Jahren hat Ray nach der Vergewaltigung seiner Frau von Frank einen Tipp bekommen, aber er hat danach den Falschen umgebracht. Das erfährt er, als alles fast schon zu spät ist. Auch Antigone schlägt sich mit Dämonen der Vergangenheit herum, auch sie wurde in ihrer Jugend missbraucht, ihre New-Age-Familiengeschichte ist ein Grab voller dunkler Geheimnisse. Paul dagegen leidet an einem nie völlig aufgeklärten Kriegstrauma und einer ambivalenten sexuellen Orientierung. Antigone und der Irak-Veteran sind die einzigen in Vinci, die nicht durch und durch moralisch verkommen sind.

„True Detective 2“ orientierte sich zwar unübersehbar am Film Noir, an Vorbildern wie David Lynchs „Mulholland Drive“ oder Roman Polanskis „Chinatown“. Aber nicht nur. Von der Kritik bislang fast völlig übersehen wird der Einfluss des Melodrams. Dessen komplexe Symbolsprache, die oft herkömmliche dramaturgische Gesetze ignoriert, taucht in TD 2 unübersehbar auf und geht auch in Pizzolattos Serie zulasten der erzählerischen Konsistenz. Alle Hauptfiguren sind auf unterschiedliche Weise auf der Suche nach unbedingter Liebe, Loyalität und Freundschaft, während der Rest der Welt von nackter Gier angetreiben wird. Pizzolattos Schlüsselfiguren sind in diesem Vorhof der Hölle auf eine beinahe auswegslose Weise schwer depressiv und beinahe handlungsunfähig. Dass sie sich trotz unterschiedlicher Motive in der Mitte der Staffel darauf einigen können, den Mordfall gemeinsam aufzuklären, macht sie zwar zu „True Detectives“, aber ihr Scheitern und ihr Untergang kündigt sich schon lange vor der letzten Episode an.

Diese Melange der Gefühle und der Sehnsucht in den Griff zu bekommen, ist nicht einfach. Gleich an der nächsten Ecke lauern das Klischee und der Kitsch. Beides sollte nicht reflexhaft als negativ betrachtet werden, immerhin reden wir von den ökonomisch erfolgreichsten Stilformeln des Kino. Ich empfehle in diesem Zusammenhang Georg Seeßlens vermutlich nur noch antiquarisch zu erhaltenden Theorieklassiker
Kino der Gefühle - Geschichte und Mythologie des Film-Melodrams" (1980). Seeßlens 35 Jahre alter Text macht deutlich, warum die Figuren in einem Melodram sogar über Banales in einer seltsam überhöhten affektiv aufgeladenen Sprache reden. So reden sie auch in TD 2 und Seeßlens Satz „Die melodramatische Weltsicht ist der des Kitsches verwandt, behält sich aber die Möglichkeit des Wahnsinns vor" erklärt allemal den Stil Pizzolattos besser als vieles, was ich bislang über diese Serie gelesen habe. Die Folgen für die Storyline sind nicht zu übersehen: Symbolische Strukturierung der Handlung, Komplexität statt Einfachheit, Emotion statt Diskurs. Dennoch: Der Literaturdozent Pizzolatto dürfte schon gewusst haben, was er seinen Figuren in den Mund gelegt hat.
 
Offenbar glaubte Pizzolatto aber, den überkonstruierten Plot zu meistern. Marcus Müntefering bezweifelt dies und schreibt in seiner lesenswerten Review: In der 1. Staffel wurde die letztlich ziemlich überschaubare Story durch eine komplexe Erzählstrategie verkompliziert, TD2 hingegen wird linear erzählt. Dafür ist dieses Mal die Story so komplex, dass es beinahe unmöglich ist, zwischendurch den Überblick zu behalten. Pizzolatto verliert den eigentlichen Fall immer wieder aus den Augen, der Zuschauer den Überblick – und zeitweise das Interesse."
Das Ergebnis ist eine Two-Shot-Serie. Ich habe diesen Begriff erfunden, um Pizzolattos Narrativ besser erklären zu können. Ein „Two Shot“ ist eigentlich eine klassische Filmeinstellung, in der zwei markante Personen zu sehen sind (typisch: die beiden Killer in „Pulp Fiction“, aber z.B. auch die Helden in TD 1) – in meiner Kritik zielt „Two Shot“ aber auf den Zuschauer ab. Er benötigt nämlich mindestens ‚zwei Schüsse’, um die Geschichte in TD 2 einigermaßen in den Griff zu bekommen. Pizzolatto erzählt sie hyperkomplex aus den unterschiedlichen Perspektiven seiner vier Hauptfiguren, die mit gut zwei Dutzend weiterer Nebenfiguren verbunden sind. Von den unwichtigen Nebenfiguren soll erst gar nicht die Rede sein. 
Der erste Schuss der Zuschauers: 1x das Ganze anschauen, die Stimmung aufnehmen und sich hoffnungslos verirren, danach nach einem guten Episode Guide suchen, alles ausdrucken und mit dem Text in der Hand (ca. 20 Seiten pro Episode) die Serie noch einmal anschauen und simultan die Interpretationen studieren. Das ist kein Witz. Das ist „True Detective“ (Season 2).

Stilistisch überragend

Nic Pizzolattos zweite Staffel ist in jeder Hinsicht stilistisch ein Hingucker. Die Main Title Sequence wurde erneut vom Design Studio Elastic um Creative Director Patrick Clair kreiert. Das Team hat 2014 einen Emmy für das Main Title Design der ersten Season gewonnen und zog nun für TD 2 kein neues Kaninchen aus dem Zylinder, sondern bediente sich äußerst kreativ der bekannten Stilmittel. Elastic hat neue Standards definiert. Andere Serienmacher kupfern bereits kräftig ab.

Die Filmmusik besorgte erneut T Bone Burnett, der sich diesmal stärker an elektronischen Motiven orientierte und einen wirklich beeindruckenden, fast hämmernden Score entwickelte. Das Opening Theme ist Leonard Cohens „Nevermind“ aus seinem 2014 erschienenen Album „Popular Problems“. Wer genau hinhört, wird bemerken, dass sich der Text mit jeder neuen Episode ändert. Auch die Musik sorgt in „True Detective 2“ für kryptische Bedeutungsebenen – einen wichtigen Anteil daran hat auch die Liedermacherin Lera Lynn, die einen Großteil der diegetischen Musik komponierte und spielte (also jener Musik, die in einer fiktiven Geschichte u.a. von handelnden Figuren gespielt wird). Selbstverständlich muss man sich die Songtexte besorgen, sonst versteht man die Szenen nicht...

Auch narrativ funktioniert Pizzolattos Serie auf hohem Niveau. Alle Episoden beginnen mit einem ausgefeilten Cold Open und einem proleptischen Mini-Cliffhanger. Das bedeutet: ein direkter Sprung in eine Szene oder die Einführung eines Motivs, die beide nicht ad hoc den Bezug zum vorherigen Handlungsverlauf aufdecken, aber Kommendes andeuten (auch symbolisch). 
In Pizzolattos Serie gibt es zudem auch die eine oder andere Eröffnungsszene, die psychologische Deutungen einer Figur anbietet, ohne dabei alle Geheimnisse zu lüften. Dies ist spätestens seit Breaking Bad, das diese Erzähltechnik enorm verfeinert hat, zum Standard von Qualitätsserien geworden, und in TD 2 führt dies zu einigen wirklich bemerkenswerten Innenansichten.

Auch darstellerisch zeigt TD 2 eine Performance, die man outstanding nennen kann. Vince Vaughn, der ständig zerknautschte Colin Farrell, Rachel McAdams und besonders Taylor Kitsch spielen eindrucksvoll gegen das hart am Pulp entlang driftenden Script an, das im Laufe der Zeit immer mehr in einem Meer der Tränen und in metaphysischen Tiraden versinkt. Sie können aber nicht verhindern, dass aus den Figuren manierierte Kunstgebilde werden – und das hat nun rein gar nichts mit der hard-boiled-Diktion des Noir oder Neo-Noir zu tun, umso mehr aber mit dem entschlossenen Willen Pizzolattos, ein bis ins kleinste Detail durchkomponiertes Jahrhundertwerk vorzulegen.


Hieronymus Bosch der Serienkultur

Nino Frank schrieb 1946 in „The Crime Adventure Story: A New Kind of Detective Film“, dass es im Film Noir eher nicht um die Lösung des Falls geht, sondern um die psychologischen Eigenschaften der Figuren. Sie sind häufig in die Verbrechen verwickelt, die sie aufzuklären haben, und sie bewegen sich in einer Grauzone der Moral, wenn sie dies tun.
 

„My ethics are my own“, war der Wahlspruch eines der ersten literarischen hard-boiled Detectives, nämlich dem von Carroll John Daly erschaffenen Race Williams. Das könnte so oder ähnlich auch Ray Velcoro behaupten, aber er ist bereits der dekadente Nachfahre der Sam Spades und Philip Marlowes, sein Weg aus der Korruption und zurück zu einem Codex ist mit Schnapsflaschen gepflastert und der Weg zurück zur Wahrheit ist dann auch nur eine Art, am Ende möglichst rechtschaffen zu sterben.

Genau davon erzählt „True Detective 2“. Es geht nicht nur um einen Gangster, der um sein Geld betrogen wurde. Es geht auch nicht um drei Cops, die mehr oder weniger zufällig in die Lösung eines mysteriösen Mordfalls verstrickt werden. Es geht um den Untergang, das Scheitern, die vergebliche Sehnsucht und das richtige Sterben. Es verwundert deshalb nicht, dass der von Vince Vaughn großartig gespielte Gangster ein bemerkenswert gebildeter Mann ist, der Tiefsinniges zu erzählen weiß und im nächsten Moment mit kalter Brutalität seine Gegner liquidiert. Er ist sozusagen auf dem Rust Cohle-Trip, nur brutaler. 
Alle Protagonisten werden in der Stadt Vinci so oder ähnlich zu existenziellen Grenzgängern, deren bereits beschlossener Untergang nur von einigen kleinen Siegen kurzfristig aufgehalten wird. TD 2 ist Tristesse pur. Am Ende sind fast alle tot, es gibt keine Hoffnung.

Dass die Hauptfiguren in TD 2 allesamt moralisch und existenziell gebrochene Figuren sind, die an ihrer eigenen Lebensschuld zu zerbrechen drohen, legt einen undurchdringlichen Schleier der Dunkelheit über die Geschichte, die in ihrer völligen Hoffungs- und Aussichtslosigkeit nur zu ertragen ist, wenn man als Zuschauer grundsätzlich an eine depressive Weltsicht gewöhnt ist.
Wenn es einen Bezug zur ersten Staffel gibt, dann ist es folgender: Das Böse – und das ist durchaus bei Pizzolatto in einem metaphysischen Sinn zu verstehen – gewinnt immer, auch wenn der eine oder andere Bösewicht auf der Strecke bleibt.
War es in TD 1 die satanische Geheimgesellschaft, die in Louisiana pädophil motivierte Mordrituale organisierte und  verschleppte Kinder einer jenseitigen Instanz opferte (was immerhin ein reales Vorbild hatte), so existiert in TD 2 ebenfalls eine Geheimgesellschaft aus mächtigen Familien, die seit Jahrzehnten dem absoluten Nihilismus frönt.
In TD 1 scheitern die Helden daran, die eigentlichen Strippenzieher zu entlarven, lediglich ein grobschlächtiger Handlanger geht am Ende drauf. In TD 2 gibt es am Ende nur die vage Hoffnung, dass man die Verantwortlichen vielleicht irgendwann zur Rechenschaft ziehen kann. In beiden Staffel liegt ein okkulter Wahnsinn über dem Ganzen, nur sehen die Helden in TD 1 am Ende wenigstens ein helles Licht.

In TD 1 verknüpfte Nic Pizzolatto die Story Arc mit raffinierten Rückblenden und intelligenten Bezügen zur Weird Fiction eines H.P. Lovecraft, was mit einem grandiosen Finale endet (trotzdem hält sich bis heute die von Kritikern und Zuschauern geteilte Auffassung, dass Pizzolatto und Regisseur Fukunaga die letzte Episode vor die Wand gefahren haben), in TD 2 entstand ein Amalgam aus Film Noir und Melodram, dessen Ende nur sprachlos macht.

Pizzolatto hat die Verknüpfungen in TD 2 bedeutungsschwanger verrätselt und dabei eine Reihe von Ködern und Codierungen ausgebreitet, die entweder in die Irre führen oder zu einer symbolischen Überfrachtung führen. Gerade Letzteres hat natürlich einige Interpreten auf den Plan gerufen, die akribisch jedes nur so geringe Detail ausgeleuchtet und interpretiert haben, so als könne TD 2 uns eine tiefere Wahrheit vermitteln. Das dürfte zunehmend schwer fallen, denn in TD 2 werden anfänglich intelligente Gedanken immer häufiger durch aufgeblasene Aphorismen, banale Scheinweisheiten und stoische Oneliner ersetzt. Völlig ironiefrei und ohne den leisesten Ansatz von Humor. Dass dies aber auch noch so erzählt wird, dass man der Geschichte nicht einmal folgen kann, ist eine Todsünde.
 

Pizzolatto hat etwas geschaffen, das ich Mega Noir nenne. Eine hyper-komplizierte Alternativwelt, in der die Figuren nicht den Gesetzen der Plausibilität gehorchen, sondern den Regeln des finstersten Genres der Film- und TV-Geschichte. Sie hängen wie Marionetten an den Spielregeln des Film Noir, allerdings aufgeblasen mit dem Pathos des Melodrams - eine Mixtur, die nicht ohne Weiteres funktioniert. Sie hängen an dem Ariadnefaden ihres Schöpfers, allerdings dürfen sie den Weg aus dem Labyrinth nur halbherzig finden. Pizzolatto führt sie allesamt, die Figuren und die Zuschauer, in ein elegant gefilmtes Zwischenreich, das womöglich der Vorhof der Hölle ist – oder bloß ein besonders gemeiner Traum. Das Ergebnis ist grenzenlose Tristesse, vollständige Ausweglosigkeit und der Verlust jeglicher Hoffnung. Nic Pizzolatto ist nach „True Detective 2“ endgültig zum Hieronymus Bosch der Serienkultur geworden.

Löst man sich von der Unzugänglichkeit der Story und der melodramatischen Sprache, findet man in True Detective 2 immerhin eine elegant zelebrierte Schein- und Kunstwelt, die spätestens nach der vierten Episode atmosphärisch keinen Wunsch offen lässt. Retten kann dies Pizzolattos Geschichte leider nicht.
Das „Kunststück“ hätte gelingen können, wenn der Showrunner und Autor minimalistisch vorgegangen wäre: fokussiert, straight erzählend, einfach statt barock, ironisch statt pathetisch. So aber wirkt „True Detective 2“, als hätten sich David Lynch und Philip K. Dick getroffen, sich grinsend etwas Undefinierbares eingeworfen, dann das Script geschrieben und anschließend völlig stoned auf William S. Burroughs gewartet. Dessen „Cut-up“-Technik bestand darin, die Manuskriptseiten in kleine Zettel zu zerschneiden und nach dem Zufallsprinzip  neu anzuordnen.


Die Kritik wurde am 3. Dezember überarbeitet.

Noten: BigDoc = 3,5
 

True Detective (Season 2) – USA 2015 – Showrunner, Buch: Nic Pizzolatto – Regie: Justin Lin u.a. – Musik: T Bone Burnett – Opener: „Nevermind“ von Leonard Cohen – Main Title Design: Patrick Clair u.a. (Elastic) – D.: Vince Vaughn, Colin Farrell, Rachel McAdams, Taylor Kitsch, Ritchie Coster, Afemo Omilami, David Morse u.a.

Wendezeit in Deutschland - „Als wir träumten“

Deutschland vor einem Vierteljahrhundert: In „Als wir träumten“ erzählt Andreas Dresen von Jugendlichen, die nach der Wende die neue Freiheit feiern und bei der Suche nach dem großen Glück scheitern. Wuchtige Bilder aus Deutschland mitten in einer Zeit der Wende.

Der Anfang nimmt das Ende vorweg. Dani trifft seinen alten Kumpel Mark in einem heruntergekommenen Kino. Mark war der lauteste in der alten Gang, nun ist er drogensüchtig und völlig am Ende. Den Stoff bezieht er von Pitbull. Dabei wollten alle doch immer zusammenhalten. Wie konnte s so weit kommen? Noch einmal werden alte Geschichten heraufbeschworen und Bilder tauchen auf, Bilder aus einer Zeit, in der fünf Freunde glaubten, dass ihnen die Welt gehört.
Dani (Merlin Rose) ist der einzige aus der alten Gang, dem man den Sprung aus dem maroden Leipziger Stadtteil zutraut. Er ist vielleicht der Klügste von allen, auf jeden Fall der Sensibelste. Rico (Julius Nitschkoff) hätte es auch schaffen können, aber der talentierte Boxer verliert nicht nur einen wichtigen Kampf, sondern danach auch die Nerven. Paul (Frederic Haselon) ist der Stille, der von Mädchen träumt, aber die geringsten Chancen hat. Der ungehobelte Pitbull (Marcel Heuperman) ist eher fürs Grobe zuständig, am Ende ist er Dealer und für Marks Tod verantwortlich. Und Mark (Joel Basman)? Immer am lautesten: durchgeknallt, euphorisch, überdreht auch ohne Drogen. Er verbrennt an seiner puren Energie.
Zusammen ziehen die Fünf durch Leipzig, randalieren, hängen ab, feiern sich rauschhaft, wenn sie in geklauten Autos durch ihr Revier fahren. Mittendrin ist auch Katja, das „Sternchen“ (Ruby O. Fee), die schönste Frau im Arbeiterviertel Reudnitz, von allen geliebt, besonders aber von Dani. Auch „Sternchens“ Träume platzen, sie wird in Reudnitz stranden und ihren Platz im Milieu finden, zwar selbstbewusst, aber auch sie ist gescheitert.
Aber vor dem tragischen Ende gibt es noch Hoffung in Andreas Dresens neuem Film. Und Träume haben alle in der Gang. Greifbar werden sie, als man die Vision eines eigenen Techno-Clubs in die Tat umsetzt. Es will improvisiert. Mit Musik, mit Getränken, mit Licht. Eigentlich ist der Club ein mieses Kellerloch, aber interessant genug. Denn schon bald tauchen Neo-Nazis im „Eastside“ auf. Sie melden brutal ihren Herrschaftsanspruch an und wollen im Club Drogen verkaufen. Der Anfang vom Ende.

Geschichte – ein Experiment mit offenem Ausgang

„Als wir träumten“ basiert auf dem gleichnamigen Roman von Clemens Meyer, der 2006 auch wegen seiner autobiografischen Bezüge als exemplarischer Wenderoman gefeiert wurde. Die Adaption besorgte Wolfgang Kohlhaase, der bislang dreimal mit Dresen zusammenarbeitete. Der 84-jährige Autor und Regisseur gilt als einer der wichtigsten Scriptwriter des deutschen Films und ist bekannt für seine präzisen Milieustudien. Für die atmosphärischen Bilder sorgte Michael Hammon, der als Kameramann bereits seit Jahren ein Teil der Dresen-Crew ist. Zusammen gelang dem Trio eine außergewöhnliche Coming-of-Age-Geschichte, die ihre Stärke weniger aus einem realistischen Erzählansatz zieht, sondern aus der furiosen stilistischen Umsetzung. Ein politischer Film ist „Als wir träumten“ nämlich nicht.

Und das, obwohl Andreas Dresen (u.a. „Halbe Treppe“, „Wolke 9“, „Halt auf freier Strecke“) und sein Team die Geschichte der Gang in Rückblenden erzählen und damit eine historische Aufarbeitung andeuten. Jugend in der DDR: die Flashbacks führen zurück in die Zeit, als alle noch dreizehn sind, Pioniere mit rotem Halstuch. „Immer aktiv sein. Immer mit dem Kollektiv vorneweg. So wird man ein guter Soldat“, wird ihnen in der Schule eingebläut. Siebzehn sind sie, als die Geschichte der DDR auserzählt ist. 
Immer wieder blendet der Film zurück in diese Zeit, in der sich Katja und Dani trotz rebellischer Ansätze weitgehend systemkonform verhalten. Aus der zeitlichen Verschränkung der frühen Sozialisation mit den exzessiven nächtlichen Sauf- und Drogentrips nach dem Mauerfall entsteht so eine dichte Milieustudie, immer unterlegt mit hämmernder Musik und metaphorisch gegliedert durch Zwischentitel wie „Mord in Deutschland“ oder „Straßenköter“. Sie erinnert auch wegen der Settings beinahe an die deutsche Nachkriegszeit. Von blühenden Landschaften keine Spur, Deutschland sieht im Leipzig der frühen 1990er Jahre eher aus wie eine abbruchreife Trümmerkulisse. Unter solchen Bedingungen ist Geschichte ein Experiment mit offenem Ausgang, ein Niemandsland, in dem alles möglich zu sein scheint. 


Als Genrefilm ein Meisterwerk

„Als wir träumten“ interessiert sich weniger für einen floskelhaften Geschichtsschulfunk, sondern für die Authentizität des Lebensgefühls, das die Protagonisten in einer ergebnisoffenen Zeit zwischen Aufbruch und Niedergang entwickeln. Wilde Träume zwischen Swinger-Clubs, Diskotheken und gammeligen Boxhallen, rauschhafte Kamerafahrten im nächtlichen Leipzig.
Warum die fünf Freunde und ihr „Sternchen“ das wurden, was sie sind, erzählt Dresen nicht. Auch die Rückblenden in die Jugendjahre der Clique bieten keine politischen oder psychologischen Handreichungen an. Die Kids wirken in ihrer Sprachlosigkeit so, als wären sie in die Wendezeit hinein Geworfenene, die einen mysteriösen existenziellen Riss erlebt haben. Irgendwie bleibt der aber im Nebel stecken. Wolfgang Kohlhaase wurde prompt dafür kritisiert, dass sein Entwurf nicht immer dem entspräche, was andere in Leipzig nach der Wende erlebt haben.
An der Erzählperipherie deutet „Als wir träumten“ immerhin behutsam und auch etwas provokativ an, dass der Kollaps der DDR etwas mit dem Pyrrhussieg einer Ideologie zu tun hatte, der nicht nur den Traum von Freiheit, sondern auch die eigenen humanistischen Ideale beiseite schob. Diesen werden hartnäckig von einigen Lehrern vertreten, die daran glauben, dass in ihren Erziehungsnischen ein Aufbruch in bessere Zeiten möglich ist. Ihre Visionen scheitern an einer mediokren repressiven Realität. Diese leisen Töne sollte man in Dresen ekstatischen Film nicht übersehen, analytisch macht dies den Film noch lange nicht.



Als „Weltklassekino“ bezeichnet die FAZ den Film, „schnell und ruppig“ sollte er werden, so Dresen. „Als wir träumten“ mag vielleicht nicht für jeden politisch korrekt sein, aber als kleiner schmutziger Genrefilm bietet er stilistisch mehr als das, was man sonst von deutschen Filmen erwarten darf. Ein kleines stilistisches Meisterwerk, das bis Mitte 2015 nicht einmal 100.000 Zuschauer in den Kinos sehen wollten.

Noten: BigDoc = 1,5, Melonie = 2, Klawer = 2,5

Als wir träumten - Frankreich/Deutschland 2015 – Laufzeit: 117 Min – Regie: Andreas Dresen – Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase (nach dem gleichnamigen Roman von Clemens Meyer) – FSK: ab 12 Jahren - Darsteller: Merlin Rose, Julius Nitschkoff, Marcel Heuperman, Joel Basman, Frederic Haselon, Ruby O. Fee, Chiron Elias Krase, Luna Rösner, Tom von Heymann, Nico Ramon Kleemann.



Mittwoch, 18. November 2015

Big Eyes

Wenn man aufmerksam ist, kann man bei jedem Stadtbummel große Augen sehen. Auf Plakaten, in der Werbung. Erst neulich sah ich im Vorbeifahren an einer Litfasssäule ein Foto mit „Big Eyes“, ähnlich wie jene, die von der amerikanischen Künstlerin Margaret Keane seit über 60 Jahren gemalt werden. Tim Burtons „Big Eyes“ erzählt nicht nur von ihrer Vorgeschichte, sondern auch von einem Kunstskandal – und vom Identitätsverlust einer Künstlerin, die ihre Kunst spürt, aber nicht erklären kann.

Margaret Keanes Mann Walter kann erklären. so ziemlich alles. Das muss er auch. Immerhin behauptet er, dass die Bilder von ihm stammen. Und dass er die Kinder mit den überdimensionalen Augen deshalb malt, weil er als Künstler an die vielen Kindern erinnern möchte, die in all den vielen Kriege millionenfaches Leiden erfahren haben. So etwas befriedigt die Kunstwelt und das trendige Gerede sichert ihm dann auch einen begehrten Ausstellungsplatz bei der New Yorker Weltausstellung 1964.
Dort zeigt das Bild „Tomorrow Forever“ eine Armee großäugiger Kinder aus allen Ethnien der Welt, eine Potenzierung des Motivs, die auch den Gigantismus des Möchtegern-Künstlers demonstriert. Gemalt hat dieses Bild nämlich seine Frau Margaret. Viel alle anderen auch. Niemand weiß davon, nicht einmal ihre Tochter. Erst als Margaret beschließt, mit dem Betrug an die Öffentlichkeit zu gehen, bricht das Kartenhaus der Lügen zusammen.

Tim Burton erzählt in „Big Eyes“ die authentische Geschichte eines berühmten Kunstskandals. Burton macht daraus eine leichtfüßige Komödie. In den 1950ern lernt Walter (Christoph Waltz) die alleinerziehende Mutter Margaret (Amy Adams) und ihre Tochter Jane (Madeleine Arthur) auf einem Trödelmarkt kennen, wo Margaret für einen Dollar Portraits malt. Er selbst versucht banale Genrebilder zu verkaufen. Der charmante Walter überzeugt die introvertierte Malerin davon, sich nicht unter Wert zu verkaufen. Bald wird geheiratet und Walter entwickelt außergewöhnliche Qualitäten als Verkäufer von Bildern – allerdings nur der seiner Frau. Als man ihn zufällig für den Schöpfer dieser Werke hält, versteht er, dass in der von Männern dominierten Kunstwelt Frauen keine Chance haben. Er bleibt bei der Lüge. Margaret malt von nun an heimlich, selbst ihre Tochter bekommt nichts mit, und aus Walter Keane wird innerhalb weniger Jahre ein Star der Kunstszene San Franciscos.


Schriller Wandel der Kunstwelt

Christoph Waltz spielt den Selfmade-Betrüger mit dem typischen Waltz-Touch -  zunächst durchaus ernsthaft an Margaret interessiert, ein Charmeur mit romantischer Ader, nett, aber auch gerissen. Aus den 5-Dollar-Noten, die er nach Hause bringt, werden größere Scheine. Als er in einem kultigen Club den prominenten Impressario Enrico Banducci (Jon Polito) nach einem Streit attackiert, ist dies keineswegs das gesellschaftliche Aus. Der Skandal ist irgendwie chic, die Szene ist begeistert, die beiden Streithähne wittern das Geschäft und geben dem Affen Zucker. Walter entwickelt nach dieser Lektion seine Talente zur Perfektion, ein geschickter Manipulator, der einen Raum beherrscht, sobald er ihn betritt. Er zieht die Yellow Press auf seine Seite, findet Förderer und Fans. Der Kolumnist Dick Nolan (Danny Huston) nennt ihn einen B-Promi. Immerhin. Der erste Schritt ist getan, bald folgen Ruhm und Big Money. Und Walter beginnt sich mit seiner Rolle zu identifizieren. 
Natürlich ist diese Geschichte für Christoph Waltz ein gefundenes Fressen. „Big Eyes“ wird über weite Strecken eine One-Man-Show, in der Waltz mit einem Schuss Overacting alle Facetten eines schrägen, aber nicht ungefährlichen Mannes präsentiert.
Dass er dabei seine Partnerin nicht an die Wand spielt, liegt daran, dass Amy Adams (
„Man of Steel“, „American Hustle“) der perfekte Cast für die Rolle der Margaret Keane ist. Während Waltz das spielt, was man von ihm erwartet und beinahe zum Selbstzitat wird, agiert Adams nuanciert und unauffällig. Ihre Überwältigung durch einen dominanten Mann verwandelt sich nur langsam in Irritation, dann in Traurigkeit. Adams tupft dies so pointiert und sparsam hin wie es eine minimalistische Künstlerin auf ihrer Leinwand tun würde.
Nur ist Margaret keine Minimalistin, wenn sie den Pinsel in der Hand hält. Die expressiven Bilder hart am Rande des Kitsch drücken aus, was sie fühlt, ohne dass sie wortreich erklären kann, warum sie so und nicht anders malt. Für den theoretischen Überbau sorgt Walter, und das in einer Zeit, die sich radikal von den bürgerlichen Kunstbegriffen entfernt. Aus dem Künstleratelier werden Factorys, Andy Warhol wird 1962 aus Suppendosen Kunstwerke machen und zwei Jahre später Schreibt Susan Sontag ihre „Notes on Camp“. 
In dieser Welt des schrillen Wandels reagiert die Kunstwelt geradezu hysterisch auf Sensationen und solche, die es sein wollen. Nur der Kritiker John Canaday (Terence Stamp) sieht in Keanes Bildern das Trashige, das für alle anderen hip ist. Eine Welt, in der Margaret Keane deplatziert wirkt. Ihr Mann bewegt sich in ihr wie ein Fisch im Wasser. Langsam schleichen sich in diese Beziehung Dissonanzen ein. Als Margaret entdeckt, dass Walter überhaupt nicht malen kann und seine eigenen Bildchen bei einem anderen Maler gekauft hat, begreift sie, dass ihr die eigene Identität trotz oder gerade wegen des enormen kommerziellen Erfolgs aus den Händen gleitet. Amy Adams spielt dies atemberaubend authentisch und dafür gab es zu Recht für sie den Golden Globe Award für die Beste Schauspielerin in der Kategorie „Komödie“. 


Keine Tragikomödie

Zu großen Augen scheint Tim Burton eine spezielle Beziehung zu haben. Bereits in „Frankenweenie“ sah man sie, auch Madeleine Arthur passt mit ihren großen Augen perfekt in den Film. Auch sonst ist „Big Eyes“ ein typischer Burton-Film geworden - mit opulenten Settings und satten Farben, allerdings nicht ganz so schräg wie in früheren Filmen. Einige geometrisch angeordnete Einstellungen des großartigen französischen Kameramanns Bruno Delbonnel („Die fabelhafte Welt der Amélie“, „Harry Potter und der Halbblutprinz“, „Inside Llewyn Davis“) erinnern sogar an die Tableaux Vivants von Wes Anderson, sind aber kein reines Stilmittel, sondern Ausdruck der emotionalen Verfasstheit der beiden Hauptfiguren.

Tim Burton schreckt in seinem Film allerdings vor dem großen Drama zurück. Nur einmal, kurz bevor Margaret mit ihrer Tochter ihren Mann verlässt, bekommt die von Waltz gespielte Figur dämonische und gewalttätige Züge. Dies trifft auch den Kern, denn „Big Eyes“ ist auch das Portrait einer gewaltigen narzisstischen Störung. 

Aber Burton wäre nicht Burton, wenn er eine bedrohliche Dunkelheit in seinen Filmen zulassen würde. In „Big Eyes“ rudert er zurück, der Film wird nicht zur Tragikomödie. Wenn in der Schlussszene Margaret und Walter vor Gericht über die Urheberrechte streiten (was tatsächlich über 20 Jahren nach der Trennung der beiden geschah), inszeniert dies Burton als Farce, in der Christoph Waltz völlig aus dem Ruder läuft. Das kann man in dieser Szene auch vom Film behaupten. Überzeugen kann dies leider nicht so ganz, auch wenn der Richter schließlich eine originelle Entscheidung trifft, mit der Walter nicht rechnen konnte.
 

„Big Eyes“ steht in der Tradition jener Filme wie „Edward mit den Scherenhänden“ oder „Ed Wood“, in denen skurrile und weltfremde Figuren mit der Welt aneinander geraten und sich einen Platz für ihre Träume erkämpfen müssen. In „Ed Wood“ erzählte Burton die authentische Geschichte eines dilettantischen Filmemachers mit dem Ruf, der schlechteste aller Zeiten zu sein. Dort sagt Vincent D’Onofrio als Orson Welles am Ende zu Wood, dass Visionen es wert sind, um sie zu kämpfen. Lange Zeit geschieht dies in „Big Eyes“ nur an der Staffelei, aber dann, wenn es erforderlich ist, handelt Margaret Keane mit einer Entschlossenheit, die anderen Burton-Figuren oft fehlt. 
Die reale Margaret Keane malt immer noch, ihr Mann hat bis zu seinem Tode behauptet, dass die Bilder von ihm sind. Die Realität ist nicht nur in diesem Fall deprimierender als das Kino Tim Burtons.

Noten: Melonie = 1,5, Klawer, BigDoc = 2

Big Eyes – USA 2014 –Regie: Tim Burton – Drehbuch: Scott Alexander, Larry Karaszewski – Kamera: Bruno Delbonnel – Laufzeit: 105 Minuten – FSK = ohne Altersbeschränkung - D.: Amy Adams, Christoph Waltz, Danny Huston, Madeline Arthur, Terence Stamp, Jon Polito.

Dienstag, 10. November 2015

Spectre

007 meets 08/15: beinahe pflichtschuldig liefert Sam Mendes nach dem exorbitanten „Skyfall“ mit dem 24. Film der James-Bond-Reihe lediglich einen durchschnittlichen und an den traditionellen Erzählmustern des Franchise orientierten Thriller ab. Das kann man sich ansehen, man muss es aber nicht.

Das „Must see“ ist für Bond-Filme die Messlatte. In den drei Filmen, in denen Daniel Craig mit enormer physischer Wucht und psychischer Labilität dem britischen Top-Agenten mit der Lizenz zum Töten ein neues Gesicht gab, wurde das Franchise neu aufgestellt. Das war sehenswert. Im vierten Film geht es schablonenhafter zu.
„Spectre“ kehrt mit seiner Plotstruktur zu den Anfängen zurück und Craigs Bond erinnert unübersehbar an den zynischen Sean Connery - der allerdings hätte sich wohl kaum so weitgehend seelisch entblättert, wie es Daniel Craig zuletzt tat. Der alte Bond war im libidinösen Dauerbetrieb, der neue ist weniger lasziv und schläft mittlerweile auch mit Frauen reiferen Alters. Neu ist, dass die Kamera nicht mehr zeigen will, dass Bond einen erkennbaren Spaß an der Sache hat. 

 

Vorwärts in die Vergangenheit

In „Skyfall“ musste man um Bonds Diensttauglichkeit bangen, das hatte etwas, das war neu – Bond zeigte seine Verletzlichkeit, wurde im MI6 beinahe zum Branchen-Dino mit minimaler Halbwertszeit. In „Spectre“ ist er wieder ganz der Alte, obwohl Daniel Graigs Gesicht mittlerweile doch sehr zerfurcht aussieht. In Sam Mendes’ zweiter Interpretation des Bond-Narrativs schießt und prügelt sich 007 weitgehend grübelfrei und omnipotent wie in alten Zeiten durch die Handlung. Mal im Helikopter, dann in einer schnellen Autoverfolgungsjagd im nächtlichen Rom, die Kameramann Hoyte von Hoytema („Her“, „Interstellar“) nicht als Crashsequenz sondern als elegantes Ballett zeigt, in dem Bonds Aston Martin DB10 wie ein gefährliches Raubtier durch die Nacht gleitet.
Bond ist auch sonst pausenlos in Bewegung: Wie in einer Schnitzeljagd werden weltweit die einzelnen Stationen abgearbeitet, die Bond dem neuen und alten Erzschurken Ernst Stavro Blofeld einen Schritt näher bringen sollen. Auch das erinnert an alte Zeiten. 

Mit dem Katzenfreund Blofeld und S.P.E.C.T.R.E. hatte bereits der alte Bond zu kämpfen, nun, da in der neuen Zeitlinie alles auf Null gesetzt wurde, wird auch der neue Bond mit der globalen Terrororganisation konfrontiert, die ein Krake auf einem Siegelring ikonisch auf den Punkt bringt. Und obwohl die Settings bei der Hatz nach dem Schurken abwechslungsreiche und damit auch pittoreske Reize zu bieten haben und mal die schneebedeckten österreichischen Alpen, dann trostlose Wüsten zeigen, zwischen London, Rom und Mexico-City pendeln und dabei rund um den Globus führen, hat man bereits nach einer Stunde das Gefühl, all dies schon einmal gesehen zu haben. Früher hat man das im Kino erwartet: Mit Bond um die Welt reisen. Zugegeben: Das sieht immer noch gut aus, ein Must-see ist es nicht mehr. „Spectre“ ist nicht nur aufgrund seines Location-Hoppings ein traditionsbewusster 007-Film voller Konventionen geworden, höflich formuliert. Ungnädiger könnte man feststellen, dass „Spectre“ der langweiligste aller Filme mit Daniel Craig ist. Er sieht so aus, als hätte Regisseur Sam Mendes beschlossen, noch einmal den klassischen Bond-Film der 1960er und 1970er Jahre aufleben zu lassen. Das funktioniert nicht mehr.

Dabei hat der Film ein Thema. Früher waren die Schurken einfach nur größenwahnsinnig und wollten die Weltherrschaft. Heute sind sie größenwahnsinnig, wollen die Weltherrschaft, erkennen nun aber die Zeichen der Zeit. Franz Oberhauser, den Christoph Waltz hart an der Grenze zur Selbstparodie als charmanten Soziopathen gibt, hat den Zeitgeist erkannt: wahre Herrschaft ist die Kontrolle über Menschen und deren Daten. 

Daten werden ja gerne mit dem Synonym „Beschnüffelung“ kurzgeschlossen. „Spectre“ will noch mehr: Das Oberhaupt der Organisation möchte alles über jeden zu jeder Zeit wissen, am besten live auf dem Monitor. Selbst in logistische Vorleistung gehen? Nein, natürlich nicht. Vielmehr sollen einige handverlesene Terroranschläge die Dienste provozieren, sich zwecks Gefahrenabwehr zusammenzuschließen und dabei alle ihre Daten auf den Tisch legen. Wirklich alle! Natürlich muss man ein besonders argloses Gemüt besitzen, um nicht spätestens nach einer halben Stunde zu ahnen, dass der Initiator des Ganzen natürlich zu Spectre gehört. Dabei kann man sich ganz auf seine Intuition verlassen.

Dass man aus dem Strippenzieher kein großes Geheimnis macht, hört sich spannungsarm an, ist es auch. Auch das Thema wirkt ausgelutscht. Weltherrschaft durch Datenkontrolle - das ist bereits in Roger Spottiswoodes „Tomorrow never dies“ (1997) erzählt worden, vor 18 Jahren hatte das mehr mit Science Fiction zu tun. Heute sind wir weiter, aber nicht klüger.
Bedeutungslos wird etwas allerdings dann, wenn es durch ständige Wiederholung seiner Reizpunkte beraubt wird. Das Genrekino hat sich das Thema, Marvel-Universum inklusive, völlig einverleibt - bis an die Grenze des Überdrusses und vermutlich ohne Folgen für den kritischen Verstand. Nicht nur hierzulande, wo die Realität geradezu aufreizend die Kinofiktionen überholt hat und das allgegenwärtige Beschnüffeln achselzuckend mit einem „Ich habe ja nichts zu verbergen“-Kommentar abgetan wird, dürften die Aktivitäten des neuen „Joint Intelligence Service“ in „Spectre“ vom Zuschauer höchstens als narratives Hintergrundrauschen erlebt werden. Wer es etwas realistischer und damit zynischer haben will, sollte sich daher lieber die neue Staffel von „Homeland“ anschauen. Immerhin, und das gibt der Sache zumindest einen gewissen Reiz, wollen die Spectre-Nerds, die bereits die britischen Dienste unterwandert haben, nicht nur MI5 und MI6 fusionieren, sondern auch die Doppelnull-Agenten abschaffen. Und das verschafft James Bond immerhin den Charmefaktor eines analogen Fossils.


Déjà-vu: Bond und die Schurken

Aber nicht nur mit der Umsetzung dieser Topics haben die Drehbuchautoren John Logan und die Script-Veteranen Neal Purvis und Robert Wade den Film nur knapp am Klischee vorbeilaviert. Auch andere Nachlässigkeiten überraschen, immerhin hat das Trio „Skyfall“ geschrieben, Purvis und Wade sind seit „The World Is Not Enough“ (Die Welt ist nicht genug, 1997) dabei. In „Spectre“ greifen sie tief in den Fundus des Vertrauten, originell ist das nicht. Zu den zahlreichen Déjà-vu’s gehören daher auch die Hierarchien der Schurken.
Im neuen Bond-Spektakel gibt es neben dem Alpha-Schurken Franz Oberhauser auch einen Beta-Schurken, gespielt von Andrew Scott. Der hat bereits als Gegenspieler von Sherlock Holmes in der TV-Serie „Sherlock“ demonstriert, dass die Fiesen heute so ticken, als seien sie bei einem x-beliebigen Hedgefond ausgeliehen worden. „Spectre“ folgt allerdings neuen Pfaden, wenn der Beta am Ende nicht von Bond erledigt wird, vielmehr von „M“, der damit auch hausintern regelt, was längst überfällig war. Nicht nur damit bekommt Ralph Fiennes mehr Raum im Film, sondern auch Moneypenny (Naomie Harris) und „Q“ (Ben Whishaw) erhalten einige Schlüsselszenen. Ein Pluspunkt auf der Habenseite.

Die Zeiten, in denen die Handlanger des Oberschurken mit einer tödlichen Melone glänzen konnten, sind allerdings vorbei. Der von Harold Sakata gespielte Oddjob verblüffte in „Goldfinger“ (1964) noch mit seiner stählernen Krempe das Publikum. Sakata war Wrestler, den Mann fürs Handfeste gibt diesmal ebenfalls ein Wrestler, nämlich der als „Batista“ bekannte Dave Batista. Als Mr. Hinx wird er allerdings arg schablonenhaft eingesetzt. Er darf bei einer Spectre-Konferenz, in die sich Bond heimlich eingeschlichen hat, ein unfähiges Mitglied der Organisation umbringen (in welcher Spectre-Konferenz werden eigentlich nicht unfähige Mitarbeiter entsorgt?), dann kann er in einem Zug Bond nach Herzenslust verprügeln, bevor er sein gerechtes Ende findet (erinnern wir uns da nicht an „From Russia with Love“ und den grandiosen Hünen Robert Shaw, der zusammen mit Sean Connery ein ganzes Zugabteil zerlegte?). Anders gesagt: In „Spectre“ wird reichlich zitiert.

Und Oberhauser? Christoph Waltz rundet die Déjà-vu’s mit einer saloppen Reminiszenz an den guten alten Joseph Wiseman ab, der als Dr. No mit großem Gehabe 007 durch sein Headquarter führte, um anschließend den Agenten seiner Majestät genussvoll umzubringen. Klappte nicht, wissen wir doch alles schon, in Mendes’ Film wird es neu aufgelegt: da taucht Bond (wie anno 1962) gar mit weiblicher Begleitung an den Pforten des Oberschurken auf, liefert brav seine Waffe ab, gesteht dem Hausherrn, dass er ihn zu töten wünscht, wird ein wenig im Spectre-Heiligtum herumgeführt und landet wie bestellt auf dem Folterstuhl, wo ihm Oberhauser aka Blofeld mit ausgesuchter Höflichkeit die bevorstehenden Details der ausgeklügelten Folter mitteilt. In
Goldfinger“ sollte es noch per Laser ans Gemächt von 007 gehen - schöne Metapher -, in „Spectre“ soll Bonds Gedächtnis neurochirurgisch gelöscht werden.
Aber w
eiß denn keiner dieser hochbegabten Bond-Schurken, dass 007 irgendwo ein Gadget am Leibe trägt, dass den ehrenwerten Houdini vor Neid erblassen ließe?
Nein, Bond-Schurken sehen keine Bond-Filme, sie machen immer wieder den gleiche Fehler - 007 soll nicht einfach nur umgebracht werden, nein, man nimmt sich (wie früher) die Zeit für ausgeklügelten Sadismus. In „Goldfinger“ fragte 007 vor der Prozedur mit dem Laserstrahl, ob er zum Reden gebracht werden soll, worauf der legendäre Gert Fröbe den nicht weniger legendären Oneliner „Nein, Mr. Bond. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sterben!“ raushaute. In „Spectre“ erklärt Oberhauser redselig, dass es die gemeinsam verbrachte Kindheit war, die ihn zu dem machte, was er nun ist. Der ganze Hustle also nur, weil ein kleines Kind neidisch auf den Stiefbruder war? Immerhin ist Oberhausers Wahl der Waffen ein
nettes Apercu, das offen lässt, ob er Bond foltern oder lediglich therapieren will.

Bond und die Gadgets und die Frauen und der Rest

Zu den ernsthaften Ermüdungserscheinungen eines Genres gehört das Durchkreuzen von Erwartungen, und zwar dann, wenn dies pausenlos wiederholt wird. An sich ist das anfänglich eine nette Sache, aber der spärliche Humor in „Spectre“  besteht wieder einmal darin, dass „Q“ offenbar einen eisernen Sparkurs verfolgt. Er gibt Bond eine Uhr (hübsches Product Placement, es ist nicht das einzige) und auf die Frage, was der Zeitmesser so alles kann, erklärt er lapidar, dass die Uhr die Zeit anzeigen könne. 

Und überhaupt die Gadgets. Mitten im Gefecht feststellen zu müssen, dass die Bewaffnung im piekfeinen Aston Martin nur teilweise funktioniert, mag zwar den einen oder anderen Lacher einbringen, in seiner vermeintlich ironischen Selbstbezüglichkeit zeigt „Spectre“ aber nichts Neues. Klar, die Gags sitzen, man grinst etwas anzüglich. Aber da nicht zum ersten Mal in einem Bondfilm mit Daniel Graig die alten Topics auf die Schippe genommen werden, wirkt das nunmehr etwas anstrengend.

Eine interessantere Facette des Films ist dann aber die Art und Weise, wie Bonds angeknackste Libido auf den Prüfstand gestellt wird. Aus dem eleganten Womanizer, der ohne allzu intensive Gefühle Frauen mit frivolen Namen wie „Holly Goodhead“ oder „Pussy Galore“ vernaschte und dabei aus dem eigenem Narzissmus keine große Sache machte, wurde spätestens nach „Casino Royale“ (2006) ein mit seiner Virilität und seinem Selbstbild hadernder Mann.
Von Ursula Andress’ spektakulären Auftritt als Honey Rider in „Dr. No“ bis zu Eva Green als Vesper Lynd in „Casino Royale“ hat 007 einen weiten Weg zurückgelegt. Aus dem „sexistischen, frauenfeindlichen Dinosaurier“ (Judi Dench als „M“ über Bond) mit einem Faible für Pin-Up-Girls ist ein erotisch mäandernder Mann geworden, der in „Spectre“ mit der 51-jährigen Monica Belucci ins Bett steigt. Belucci, die am Anfang ihrer Karriere ein Sex-Symbol gewesen ist, spielt die Frau jenes mysteriösen Schurken, den Bond in der Eröffnungssequenz liquidiert.
Während Monica Belucci damit zum ältesten Bond-Girl aller Zeiten wird und danach rasch aus dem Film verschwindet, ist Bonds neuer weiblicher Sidekick in „Spectre“ eine Frau, die dem Doppelnull-Agenten auf Augenhöhe begegnet: Madeleine Swann (großartig gespielt von Léa Seydoux, u.a. „Grand Budapest Hotel“) ist die Tochter von
Mr. White (Jesper Christensen), der als „Blasser König“ auf der Abschussliste von Spectre steht und Bond als Vermächtnis das Schicksal seines Kindes anvertraut. Madeleine kann, so scheint’s, aber gut auf sich selbst aufpassen. Kämpfen, Schießen – kein Problem. Allein dass sie dem einst zwanghaften Erotomanen „Ich liebe Dich“ ins Gesicht sagen darf, gibt „Spectre“ dann doch ein bemerkenswertes Alleinstellungsmerkmal.

Geschüttelt, aber nicht gerührt

Nach vier Filmen mit Daniel Craig ist die neue Storyline um 007 eigentlich auserzählt. „Casino Royale“, „Quantum of Solace“, „Skyfall“ und nun auch „Spectre“ haben aus einem eleganten Comic-Helden einen deprimierten Agenten gemacht, der in der Realität angekommen ist. Auch in der eigenen. Bond hat nun eine Geschichte, aber eine, bei der eine Menge auf der Strecke geblieben ist. Zu viele Tote, zu viele Gespenster aus der eigenen Vergangenheit. Daniel Craig als 007 war und ist nach vier Filmen erst recht keiner mehr, dem ein „Geschüttelt, aber nicht gerührt“ die Welt besser machen könnte. 


„Skyfall“ wäre der passende Schlusspunkt gewesen, „Spectre“ will dagegen dem Publikum den alten Bond ein stückweit zurückgeben, ohne alles zuvor Erzählte zu annulieren. Aber das geht nicht ohne Weiteres. Bond-Filme sind längst keine Procedurals mehr, also abgeschlossene und beliebig austauschbare Episodenfilme. Sie werden horizontal erzählt und eigentlich wäre die weitere Entwicklung von 007 in einer Serie besser aufgehoben. Das wird nicht geschehen, denn Daniel Craig hat trotz der hysterischen Spekulationen um seinen Ausstieg einen Vertrag unterschrieben, der einen weiteren Film vorsieht. Zuletzt verriet er in einem Magazin: „Ich werde solange weitermachen, wie ich körperlich in der Lage dazu bin.“

Auch wenn „Spectre“ eher zu den Anfängen von 007 zurückkehrt und dabei etwas sprunghaft wirkt, ist Sam Mendes' Film kein Flop. Im Gegenteil: der Mix aus klassischem Bond der 1960er und 1970er und dem Zeitgeist des neuen Jahrhunderts ist griffig und unterhaltsam, auch wenn über weite Strecken Wein in alten Schläuchen serviert wird. Geschenkt. Denn eigentlich möchte man Bond nicht aus den Augen verlieren – er gehört zur Inventarliste des Kinos. Und er spiegelt in eng gesteckten Grenzen immer auch ein Stück Zeitgeist wider. Der neue Bond ist zudem längst nicht mehr so blauäugig wie einer seiner Vorgänger, nämlich Timothy Dalton, der 1987 in „The Living Daylights“ noch zwanglos mit afghanischen Mudschaheddin zusammenarbeitete. Der Bond der 21. Jahrhunderts hätte da so seine Zweifel. Er sucht nach seiner Identität, traut weder seinen Brötchengebern noch der Welt an sich. Man könnte gerne wissen, wie weit das gehen kann. Nur sollte man im nächsten Film weniger nostalgisch sein. 08/15 und 007 passen nämlich nicht mehr zueinander.

Noten: BigDoc = 3,5

Spectre (GB 2015) – Laufzeit: 148 Minuten – Regie: Sam Mendes – Drehbuch: John Logan, Neal Purvis, Robert Wade – Kamera: Hoyte von Hoytema – D.: Daniel Craig, Christoph Waltz, Andrew Scott, Léa Sedoux, Ralph Fiennes, Naomie Harris, Ben Whishaw, Jesper Christensen, Dave Batista, Monica Bellucci

Donnerstag, 22. Oktober 2015

Der Marsianer - Rettet Mark Watney

Notfall auf dem Mars. Der Astronaut Mark Watney wird versehentlich von der Crew der Hermes auf dem roten Planeten zurückgelassen. Man hält ihn für tot. Doch statt sich philosophisch mit existentiellen Fragen auseinanderzusetzen und in aller Demut zu sterben, beschließt Watney in dem neuen Film von Ridley Scott, dass er einfach nur überleben möchte. Er baut Kartoffeln an. Er verliert seinen Humor nicht. Das hat einige deutsche Kritiker angeödet.

Eine Robinson Crusoe-Geschichte auf einem feindlichen Planeten – da fallen einem
routinemäßig gleich mehrere Vergleiche ein. Man denkt an „Cast Away“ oder Brian de Palmas grandiosen, aber leider völlig unterschätzten Film „Mission to Mars“. Ridley Scotts Verfilmung von Andy Weirs Bestseller „The Martian“ orientiert sich am Pragmatismus von Robert Zemeckis Klassiker, stellt aber visuell eine engere Verbindung zu de Palmas elegant gefilmter Mars-Saga her, allerdings ohne deren utopisches Ende. Der gestrandete Mark Watney entdeckt auf dem Mars keine untergegangene Kultur, dafür viel Sand und Steine. „Der Marsianer“ lässt aber sich auf jenen Teil ein, den de Palma nicht ganz so ausführlich erzählt hat – in „Mission to Mars“ geht es um die Rettung eines Mannes, der auf dem Mars in einem Gewächshaus überlebt hat. Ridley Scott zeigt nun, wie das gelingen kann. Man baut Kartoffeln an. Die haben den besten Kalorienertrag pro Quadratmeter Ackerboden, rät auch Andy Weir. Gut zu wissen.


"I am going to science the shit out of this"

Der Mann, dem dies gelingt, ist Matt Damon. Er spielt den Astrobotaniker Mark Watney, der Mitglied der Ares III-Mission ist. Watneys Crew beschließt während eines verheerenden Sandsturms, zum Mutterschiff zurückzukehren. So sehen es die NASA-Richtlinien vor. Während man sich durch den Sturm kämpft, wird Watney von einem herumfliegenden Teil getroffen. Die Crew von Commander Melissa Lewis (Jessica Chastain, „Interstellar“) wartet bis zuletzt, fliegt dann aber ohne den für tot gehaltenen Watney ab. Der gräbt sich am nächsten Morgen aus einer Sanddüne und kann bis Drei zählen. Danach weiß er, dass er so gut wie tot ist.

Mit wem redet man, wenn man allein auf dem Mars ist? Mit einer Kamera! Watney führt per Video ein Logbuch – es ist auch sein Tagebuch. In dem weitgehend unbeschädigten künstlichen Habitat rechnet er sich vor dem Objektiv zusammen, was ihm geblieben ist: Nahrung und Wasser für 300 Tage. Danach muss er weitere drei Jahre überleben, bis die nächste Mars-Mission Ares IV mit einem Schiff auf dem roten Planeten landen kann. An einem Ort, der über 3000 Meilen entfernt ist. Dort muss er hin, natürlich mit ausreichenden Vorräten. Das ist so gut wie unmöglich – da bleibt nur noch der Humor.

"I am going to science the shit out of this", stellt Watney fest. Frei übersetzt: ich prügele wissenschaftlich die letzten Ressourcen aus diesem Mist. Matt Damon spielt den Überlebenskünstler mit typisch jungenhafter „Ich pack das mal an“-Attitüde. Halt so, wie man Damon kennt. In Christopher Nolans „Interstellar“ gab er einen Gestrandeten, der in einer ähnlichen Situation mental zusammenbricht. Ridley Scott zeigt ihn nun als all-American boy, der zu überleben versucht, weil er gerade nichts Besseres zu tun hat: Er baut Kartoffeln an („Ich bin der beste Botaniker auf dem Mars!“). Per Katalyse Wasser- und Sauerstoff verbinden? Kein Problem, das Bewässerungsproblem ist gelöst. Der Dünger? Nun ja ...

Aber was hilft das alles, wenn keiner weiß, dass man noch lebt? Watney erinnert sich an den Pathfinder, eine Raumsonde, die seit 1997 unter rotem Sand vergraben ist. Er buddelt das Gerät aus und ersinnt eine rudimentäre Kommunikation mithilfe des Hexadezimal-Codes. Der Kontakt zur Erde ist hergestellt. Dort ist der Astronaut kurz zuvor feierlich beigesetzt worden. Nun muss die NASA über eine neue „Mission to Mars“ nachdenken.



Schönheit im Angesicht des Todes

In den USA ist „The Martian“ der große Renner. Die Zahlen des Box-Office-Mojo wiesen bereits kurz nach dem Kinostart einen Umsatz von 147 Mio. US-Dollar (weltweit $ 250 Mio.) aus. In der Jahreswertung ist Scotts Science-Fiction-Film bereits auf Platz 16.
Gedreht wurde in Ungarn, die Außenaufnahmen entstanden in einem jordanischen Flussbett, dem berühmten Wadi Rum, auch Valley of the Moon genannt. Hier haben vor über 30 Millionen Jahren geologische Prozesse die Gesteinsmassen aus Granit und Sandstein auf ungewöhnliche Weise erodiert. Die phantastischen Gebilde, die dabei entstanden, sind im Film zum Valley of the Mars geworden, das von Ridley Scotts Lieblingskameramann Dariusz Wolski in überwältigenden 3D-Bildern festgehalten wurde. Während Erbsenzähler sich über die Wolken beschweren, die man in diesen Bildern einer kargen lebensfeindlichen Natur sehen kann (Wolken gibt es auf dem Mars nicht), könnte man auch zu einem anderen Schluss kommen: Gäbe es kein 3D, dann hätte es für diesen Film erfunden werden müssen. Immer wieder fährt Wolski in den ersten Szenen mit der Kamera im die Protagonisten herum und zeigt die roten Sandstein-Wüsten des jordanischen Sets. Keine Frage: so und nicht anders stellt man sich den Mars vor.
Aber warum man dieser Ödnis einen ästhetischen Reiz abgewinnen kann, bleibt ein faszinierendes Rätsel. Folgt man den Theorien der Evolutionären Ästhetik, dann finden wir das ‚schön’, was für unser Überleben nützlich ist. Aber wenn Watney trübsinnig wird, besteigt er einen Berg und blickt in die bizarre Landschaft. Es sind diese kurzen kontemplativen Einstellungen, in denen „Der Marsianer“ enigmatisch wird. Man muss aber genau hinschauen, wenn Scott diese Metaphern in das Narrativ einfließen lässt. Sie lassen ohne viel Tamtam fühlen, was es bedeutet, auf einem 15 Millionen Meilen entfernten Planeten zu leben. Schönheit im Angesicht des Todes.



Loblied auf die Technik

„Der Marsianer“ gehört zweifellos zu den besten Filmen von Ridley Scott, der mit „Blade Runner“ immerhin einen dystopischen Meilenstein des Genres geschaffen hat. Scotts Space Survival Guide ist (endlich mal) Science-Fiction ohne schleimige Monster, heimtückische Invasoren und auch ohne Star Wars-Fantasy. Dafür detailversessen und nicht nur deshalb ein Plädoyer für das nüchterne wissenschaftliche Denken und damit auch ein Loblied auf die Technik. 
Schaut man sich die obligatorische Technologiekritik in unserem Kulturkreis an, hat man den Eindruck, dass sie zu einem Mythos der rationalen Kritik geworden ist. Generell fragwürdig ist, was sich der Mensch austüftelt und zusammenbaut. Technikfeindlichkeit ist in Genrefilmen mittlerweile zum guten Standard geworden. Denn Technik richtet sich gegen den Menschen, die Natur sowieso, sie wird missbraucht, meistens von den Bösewichtern in den großen Konzernen und den noch geheimeren Geheimdiensten. So wird die berechtigte kritische Reflexion zu einer stereotypen Erzählformel, die einen nur noch gähnen lässt.

Ridley Scott erzählt dagegen eine ganz andere Geschichte. Sein Held macht dank seines technischen Wissens das Beste aus seiner Situation, auch wenn die Crew ihm nur Disco-Klassiker wie "Waterloo", "Don't Leave Me This Way" und "I Will Survive" zur Unterhaltung zurückgelassen hat. So what.
Dabei verzichtet Ridley Scott programmatisch auf Love Affairs und klassische Bösewichter. Zwar ist man sich auf der Erde zunächst nicht klar darüber, wie und womit man Mark Watney helfen kann, aber die politischen und emotionalen Verwicklungen bei der NASA beschränken sich auf interne Querelen zwischen NASA-Direktor Terry Sanders (Jeff Daniels, „The Newsroom“), der einer erfolgreichen Rückkehr der Ares III-Crew Vorrang einräumt, und dem Mars Mission Director Vincent Kapoor (Chiwetel Ejofor, „12 Years A Slave“) und Flight Director Mitch Henderson (Sean Bean, „Der Herr der Ringe – Die Gefährten“), die alles dransetzen wollen, um Watney zu retten.

Dramatisch wird es, als eine Rakete, die neue Vorräte auf den Mars schicken soll, kurz nach dem Start explodiert, während zeitgleich die Luftschleuse des Habitats explodiert und dies Watney endgültig in eine aussichtslose Lage bringt. Melissa Lewis und ihre Mannschaft auf der Hermes beschließen daraufhin, alle NASA-Befehle zu ignorieren. Henderson ist es, der ihnen heimlich entscheidende Informationen über einen alternativen Plan des Computer-Nerds Rich Purnell (Donald Glover) zuspielt. Auf diese Weise kann die Crew die Erdgravitation als Sprungbrett nutzen, um mit einer chinesischen Versorgungskapsel und enormer Beschleunigung zurück in Richtung Mars zu fliegen. Dort muss Mark Watney allerdings noch die enorme Entfernung zum geplanten Landeplatz der Ares IV-Mission zurücklegen und dort eine von der NASA im Krater Schiaparelli geparkte Rückflugkapsel flott machen (1). Das fällt fast noch spektakulärer aus als die eigentliche Rettung

„Der Marsianer“ ist in einigen Jahren vermutlich ein Genreklassiker. Trotz unvermeidlicher Auslassungen und Verkürzungen wird eine packende Geschichte mit hoher Plausibilität, viel Humor und gebremstem Pathos erzählt, in der das Prinzip Hoffnung von der Hauptfigur ohne großes Palaver in die Tat umgesetzt wird. In ihrer Moralität erinnert sie gelegentlich an einige der betulichen, aber nicht zu unterschätzenden Produktionen aus der DEFA-Schmiede (2). Zudem wird dem Zuschauer, anders als in Christopher Nolans „Interstellar“, keine intellektuelle Gratwanderung zugemutet, allerdings muss er schon etwas Schulphysik mitbringen. Dazu kommen wir jetzt.



Mark Watney und die Physik: Beschleunigen, bewegen, bremsen!

Wie in „Gravity“ und „Mission to Mars“ spielen auch in „Der Marsianer“ die entscheidenden Szenen im Weltall. Wie dockt man mit einer Kapsel an einem anderen Raumschiff an, wenn man sich zu schnell bewegt? Gar nicht, wenn man die gesamte Bordtechnik zuvor entsorgen musste. Also bleibt nur eins: Aussteigen und und Richtung der Retter fliegen. Mit anderen Worten: richtig zielen und dann bremsen. Leider hat man keine Bremse. 
Wenn Mark Watney am Ende gerettet wird, spielen Schwerelosigkeit, Beschleunigung und/oder gleichbleibende Geschwindigkeit also eine entscheidende Rolle. Doch anders als in „Gravity“ werden in Ridley Scotts Film gravierende Fehler vermieden.
Zunächst etwas Schulphysik: Schwerelosigkeit gibt es während eines freien Falls im Vakuum oder bei einem Parabelflug, wobei, das ist die Feinheit, die Schwerkraft quasi nicht wirkt, aber natürlich immer noch präsent ist. Schwerelosigkeit ist ein also Nullsummen-Spiel, bei dem die Gewichtskraft durch die entgegengesetzte Fliehkraft kompensiert wird. Beispiel: eine Raumstation bewegt sich mit einer definierten Geschwindigkeit und ‚fällt’ gleichzeitig auf ihrer Umlaufbahn. Das Ergebnis: Man ist schwerelos.

Während gefühlte 90% der Kritiker über „Gravity“ schrieben, dass im Raum die Erdanziehung nicht mehr besteht, liegt sie in Wahrheit bei 90%. Immerhin sind die Zahlen gleich, egal ...
Da die Körper in Schwerelosigkeit immer noch dieselbe Masse besitzen, greift natürlich der Trägheitseffekt. Einmal beschleunigt, z.B. durch einen kurzen Impuls, bewegt sich der Körper mit gleichbleibender Geschwindigkeit. Doch wo bleibt die Bremse? Da muss man etwas tricksen. Matt Damon macht es dabei besser als George Clooney in „Gravity“, der offenbar Newtons Gesetze und auch das Prinzip der Impulserhaltung nicht kannte und sich opfert, weil er das rettende Raumschiff nicht erreicht.
 


Wie es richtig gemacht wird, demonstriert Mark Watney, als er eine Bremse braucht. Einfacher Trick: Er könnte etwas wegwerfen, was ihn bremst. Watney schneidet sich aber seinen Handschuh auf und erzeugt durch den aus seinem Raumanzug austretenden Sauerstoff eine ähnliche Wirkung. Verrechnen darf er sich nicht, denn sonst geht ihm buchstäblich die Puste aus. Ein Übel: er erzeugt zwar einen Bremseffekt (Beschleunigung in die entgegengesetzte Richtung), der ist leider aber unkontrollierbar, was das genau Zielen betrifft. 
Immerhin hat Watney in der finalen Sequenz Newtons Prinzip von Aktion und Reaktion klar kalkuliert, als er sich beim Bergungsmanöver mit zu hoher Geschwingkeit auf die Rettungscrew der Hermes zubewegt. Denn im All herrscht dank fehlender Reibung das Trägheitsprinzip besonders gnadenlos – theoretisch hat dies bereits der große Isaac Newton gewusst, sich aber wohl kaum ausmalen können, zu welchem Kuddelmuddel dies im Weltraum führt.
Hätte sich Watney allerdings einen Gegenstand mit dem Gewicht von mehreren Tonnen umgeschnallt, würden die auf ihn einwirkenden Kräfte deutlich geringeren Einfluss auf seine Geschwindigkeit haben. So aber kommt es nach den Zusammenstößen mit der ihn erwartenden Melissa Lewis zu einem bizarr anmutenden und unberechenbaren Chaos von Aktion und Reaktion. Anders formuliert: alle fliegen wild durcheinander. Auch das ist Newton.

In „Der Marsianer“ wurden übrigens alle Schwerelosigkeitsszenen in einem Parabelflieger der NASA gedreht. Und wie sieht es sonst mit der Physik in „Der Marsianer“ aus? Viele Details stimmen, aber Sandstürme auf dem Mars wären in ihrer Wirkung banal, da der atmosphärische Druck dort oben (oder unten?) nur ein Hundertstel des irdischen Luftdrucks beträgt – da würde ein Blatt Klopapier im härtesten Sturm bestenfalls leicht wedeln. Und es müsste alles deutlich leiser sein. Stichwort: Luftdichte.
Dass sich Watney auf dem Mars zudem auf eine Weise bewegt, die so aussieht, als würde er durch die Wüste Sahara marschieren, ist ebenfalls nicht nachzuvollziehen. Warum? Auf dem roten Planeten existieren nur 38% der Erdschwere.
An solchen Details hat sich Verena Lueken in ihrem Verriss für die Frankfurter Allgemeine festgeklammert und generalisierend festgestellt, dass „alles, was hier geschieht, aus einer physikalischen Unmöglichkeit“ folgt. Stimmt leider nicht.
Dass die Rezensentin sich von der Figur des Mark Watney zudem philosophisch abgestoßen fühlt („Dieser Mann denkt über nichts nach, was über die Frage hinausgeht, wie er Wasser erzeugen kann, um seine Kartoffeln zu sprengen“), erinnert dann doch an ein fruchtloses Lamentieren à la ‚Warum erzählt Ridley Scott ausgerechnet diese Geschichte und keine andere?’ Nun, er hat sich die Freiheit genommen.

Sieht man von dererlei Kleinigkeiten ab, so hat Drehbuchautor Drew Goddard mit seiner Adaption des Buches von Andy Weir hervorragende Arbeit geleistet. Das hielt einige Feuilletonschreiber aber nicht davon ab, diesen Film nicht nur aus technischen Gründen zu verreißen. Wohl, weil man sich nach „Gravity“ und „Interstellar“ warm geschrieben hatte, zum anderen, weil die Kritiker einfach nicht bereit sind, sorgfältig zu recherchieren, um ihre längst vergessenen Kenntnisse über elementare Schulphysik aufzupeppen. 
„Selbstverliebtheit ins eigene Nichtwissen“ nennt dies Prof. Ulrich Walter in seinem Beitrag über die Physik in „Der Marsianer“. Allerdings macht auch Walter auf einige Unstimmigkeiten aufmerksam. Der Autor dieser Kritik hat sich zumindest anständig um seine Recherchen bemüht und er weiß daher zu schätzen, dass „Der Marsianer“ insgesamt doch ein sehr sorgfältig produzierter Film ist, auch wenn sich einige Kollegen in ihren Redaktionsstuben wieder einmal über den amerikanischen Technologieoptimismus echauffiert haben.

Aber in „Der Marsianer“ geht es ja nun wirklich nicht nur um Technik. Ridley Scott erzählt in keineswegs zu langen 144 Minuten eine Geschichte, die trotz ihres naturalistischen Grundtons extrem spannend ist. Denn spannend ist auch die Frage, was uns umtreibt, wenn wir ins All fliegen.
"Space is not cooperative“, wird Mark Watney am Ende feststellen. Und jene, die in einigen Jahren tatsächlich zum Mars fliegen werden, sollten ihre philosophischen Büchern am besten vor dem Start gelesen haben. Denn da draußen warten Einsamkeit und Leere und fremde Planeten, deren Landschaften schön und tödlich sind. Aber möglicherweise warten dort auch altmodische Tugenden, die das Mainstream-SF-Kino zu oft vergisst: Kreativität, schöpferisches Denken und Mut. Dazu Charakterstärke und andere Nebensächlichkeiten wie Freundschaft, Loyalität und Hingabe. In solchen Momenten erinnert
Der Marsianer“ dann doch sehr an Star Trek.
 
Noten: BigDoc = 1
 

(1) Mark Watneys Tour zum Krater Schiaparelli wurde vom DLR-Institut für Planetenforschung in einem sehenswerten Video nachgestellt, das aus 2,5 Millionen präzisen Kartierungen zusammengesetzt wurde.
(2) In der DDR und anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks gab es in der 1960er- und 1970er-Jahren eine ganz eigene Tradition von Weltraumfilmen, die nicht von ungefähr als „wissenschaftlich-phantastisch“ deklariert wurden. Technisch konnten die besten Exemplare mit der westlichen Konkurrenz durchaus mithalten, wirken heute aber etwas museal. Die Macher orientierten sich häufig an literarischen Vorbildern wie Stanislaw Lem oder Isaac Asimov – nicht immer zum Wohlgefallen der politischen Führung. DEFA-SF besaß häufig eine realistische Ausrichtung und eine unübersehbare Fokussierung auf technische Details. Eine Special-Edition mit drei der bekanntesten DEFA-Sci-Fi-Filmen plus Soundtrack-CD gibt es bei einem bekannten E-Tailer.

Pressespiegel


„...meiner Meinung nach das Beste, was es an Weltraumfilmen bis heute gibt“ (Ulrich Walter auf N24).

„Dieser Mann denkt über nichts nach, was über die Frage hinausgeht, wie er Wasser erzeugen kann, um seine Kartoffeln zu sprengen (...) Keine packende Geschichte. Keine Angst, kein Gefühl überhaupt“ (Verena Lueken in der Frankfurter Allgemeinen).

„Das ist auch das Tolle an Ridley Scotts Film. Er zeigt in jeder Einstellung das Abenteuer, das entsteht, wenn Überlebenswille auf Wissenschaft trifft. Im Grunde ist "Der Marsianer" eine Kreuzung aus Gravity und Robinson Crusoe“ (Jan Küveler in DIE WELT).

„Das Ergebnis ist vielleicht nicht tiefschürfend und sicher nicht so wegweisend wie einst »Blade Runner« oder »Alien«. Aber eben immerhin die wohl überzeugendste und unterhaltsamste Großproduktion des Jahres. Und obendrein Scotts bester Film in mindestens diesem Jahrzehnt“ (Patrick Heidmann in epd-Film).

„So ist Der Marsianer letzten Endes ein fast frömmelndes Loblied auf den Menschen selbst: „Endlich sind wir wieder wer!“ Und tatsächlich, die Natur wurde wieder einmal bezwungen, der Traum des Technooptimismus, er darf wieder geträumt werden, und die USA als Nation hat wieder alles im Griff. (...) So gehen kosmopolitische Blockbuster im Jahr 2015 eben: Am Ende feiert die Welt die Rettung, einträchtig vereint und verbrüdert – eine sentimentale Utopie“ (Johannes Bluth, critic.de)

„Scotts Marsianer ist vielmehr praktische Anleitung für eine handfeste Vision in einer an politischen Visionen armen Gegenwart. Und möglicherweise erklärt gerade diese offenkundige Pragmatik, warum der Film in den USA bei Publikum und Kritik begeistert aufgenommen wird und in Deutschland nicht“ (Axel Timo Purr, artechock.de).

Der Marsianer – Rettet Mark Watney (The Martian) – USA 2015 – Regie: Ridley Scott – Drehbuch Drew Goddard (nach dem Roman „The Martian“, 2011, von Andy Weir – Kamera: Dariusz Wolski – FSK: ab 12 Jahren – D.: Matt Damon, Jessica Chastain, Kate Mara, Jeff Daniels, Chiwetel Ejiofor, Sean Bean, Donald Glover