Mittwoch, 2. Dezember 2015

Wendezeit in Deutschland - „Als wir träumten“

Deutschland vor einem Vierteljahrhundert: In „Als wir träumten“ erzählt Andreas Dresen von Jugendlichen, die nach der Wende die neue Freiheit feiern und bei der Suche nach dem großen Glück scheitern. Wuchtige Bilder aus Deutschland mitten in einer Zeit der Wende.

Der Anfang nimmt das Ende vorweg. Dani trifft seinen alten Kumpel Mark in einem heruntergekommenen Kino. Mark war der lauteste in der alten Gang, nun ist er drogensüchtig und völlig am Ende. Den Stoff bezieht er von Pitbull. Dabei wollten alle doch immer zusammenhalten. Wie konnte s so weit kommen? Noch einmal werden alte Geschichten heraufbeschworen und Bilder tauchen auf, Bilder aus einer Zeit, in der fünf Freunde glaubten, dass ihnen die Welt gehört.
Dani (Merlin Rose) ist der einzige aus der alten Gang, dem man den Sprung aus dem maroden Leipziger Stadtteil zutraut. Er ist vielleicht der Klügste von allen, auf jeden Fall der Sensibelste. Rico (Julius Nitschkoff) hätte es auch schaffen können, aber der talentierte Boxer verliert nicht nur einen wichtigen Kampf, sondern danach auch die Nerven. Paul (Frederic Haselon) ist der Stille, der von Mädchen träumt, aber die geringsten Chancen hat. Der ungehobelte Pitbull (Marcel Heuperman) ist eher fürs Grobe zuständig, am Ende ist er Dealer und für Marks Tod verantwortlich. Und Mark (Joel Basman)? Immer am lautesten: durchgeknallt, euphorisch, überdreht auch ohne Drogen. Er verbrennt an seiner puren Energie.
Zusammen ziehen die Fünf durch Leipzig, randalieren, hängen ab, feiern sich rauschhaft, wenn sie in geklauten Autos durch ihr Revier fahren. Mittendrin ist auch Katja, das „Sternchen“ (Ruby O. Fee), die schönste Frau im Arbeiterviertel Reudnitz, von allen geliebt, besonders aber von Dani. Auch „Sternchens“ Träume platzen, sie wird in Reudnitz stranden und ihren Platz im Milieu finden, zwar selbstbewusst, aber auch sie ist gescheitert.
Aber vor dem tragischen Ende gibt es noch Hoffung in Andreas Dresens neuem Film. Und Träume haben alle in der Gang. Greifbar werden sie, als man die Vision eines eigenen Techno-Clubs in die Tat umsetzt. Es will improvisiert. Mit Musik, mit Getränken, mit Licht. Eigentlich ist der Club ein mieses Kellerloch, aber interessant genug. Denn schon bald tauchen Neo-Nazis im „Eastside“ auf. Sie melden brutal ihren Herrschaftsanspruch an und wollen im Club Drogen verkaufen. Der Anfang vom Ende.

Geschichte – ein Experiment mit offenem Ausgang

„Als wir träumten“ basiert auf dem gleichnamigen Roman von Clemens Meyer, der 2006 auch wegen seiner autobiografischen Bezüge als exemplarischer Wenderoman gefeiert wurde. Die Adaption besorgte Wolfgang Kohlhaase, der bislang dreimal mit Dresen zusammenarbeitete. Der 84-jährige Autor und Regisseur gilt als einer der wichtigsten Scriptwriter des deutschen Films und ist bekannt für seine präzisen Milieustudien. Für die atmosphärischen Bilder sorgte Michael Hammon, der als Kameramann bereits seit Jahren ein Teil der Dresen-Crew ist. Zusammen gelang dem Trio eine außergewöhnliche Coming-of-Age-Geschichte, die ihre Stärke weniger aus einem realistischen Erzählansatz zieht, sondern aus der furiosen stilistischen Umsetzung. Ein politischer Film ist „Als wir träumten“ nämlich nicht.

Und das, obwohl Andreas Dresen (u.a. „Halbe Treppe“, „Wolke 9“, „Halt auf freier Strecke“) und sein Team die Geschichte der Gang in Rückblenden erzählen und damit eine historische Aufarbeitung andeuten. Jugend in der DDR: die Flashbacks führen zurück in die Zeit, als alle noch dreizehn sind, Pioniere mit rotem Halstuch. „Immer aktiv sein. Immer mit dem Kollektiv vorneweg. So wird man ein guter Soldat“, wird ihnen in der Schule eingebläut. Siebzehn sind sie, als die Geschichte der DDR auserzählt ist. 
Immer wieder blendet der Film zurück in diese Zeit, in der sich Katja und Dani trotz rebellischer Ansätze weitgehend systemkonform verhalten. Aus der zeitlichen Verschränkung der frühen Sozialisation mit den exzessiven nächtlichen Sauf- und Drogentrips nach dem Mauerfall entsteht so eine dichte Milieustudie, immer unterlegt mit hämmernder Musik und metaphorisch gegliedert durch Zwischentitel wie „Mord in Deutschland“ oder „Straßenköter“. Sie erinnert auch wegen der Settings beinahe an die deutsche Nachkriegszeit. Von blühenden Landschaften keine Spur, Deutschland sieht im Leipzig der frühen 1990er Jahre eher aus wie eine abbruchreife Trümmerkulisse. Unter solchen Bedingungen ist Geschichte ein Experiment mit offenem Ausgang, ein Niemandsland, in dem alles möglich zu sein scheint. 


Als Genrefilm ein Meisterwerk

„Als wir träumten“ interessiert sich weniger für einen floskelhaften Geschichtsschulfunk, sondern für die Authentizität des Lebensgefühls, das die Protagonisten in einer ergebnisoffenen Zeit zwischen Aufbruch und Niedergang entwickeln. Wilde Träume zwischen Swinger-Clubs, Diskotheken und gammeligen Boxhallen, rauschhafte Kamerafahrten im nächtlichen Leipzig.
Warum die fünf Freunde und ihr „Sternchen“ das wurden, was sie sind, erzählt Dresen nicht. Auch die Rückblenden in die Jugendjahre der Clique bieten keine politischen oder psychologischen Handreichungen an. Die Kids wirken in ihrer Sprachlosigkeit so, als wären sie in die Wendezeit hinein Geworfenene, die einen mysteriösen existenziellen Riss erlebt haben. Irgendwie bleibt der aber im Nebel stecken. Wolfgang Kohlhaase wurde prompt dafür kritisiert, dass sein Entwurf nicht immer dem entspräche, was andere in Leipzig nach der Wende erlebt haben.
An der Erzählperipherie deutet „Als wir träumten“ immerhin behutsam und auch etwas provokativ an, dass der Kollaps der DDR etwas mit dem Pyrrhussieg einer Ideologie zu tun hatte, der nicht nur den Traum von Freiheit, sondern auch die eigenen humanistischen Ideale beiseite schob. Diesen werden hartnäckig von einigen Lehrern vertreten, die daran glauben, dass in ihren Erziehungsnischen ein Aufbruch in bessere Zeiten möglich ist. Ihre Visionen scheitern an einer mediokren repressiven Realität. Diese leisen Töne sollte man in Dresen ekstatischen Film nicht übersehen, analytisch macht dies den Film noch lange nicht.



Als „Weltklassekino“ bezeichnet die FAZ den Film, „schnell und ruppig“ sollte er werden, so Dresen. „Als wir träumten“ mag vielleicht nicht für jeden politisch korrekt sein, aber als kleiner schmutziger Genrefilm bietet er stilistisch mehr als das, was man sonst von deutschen Filmen erwarten darf. Ein kleines stilistisches Meisterwerk, das bis Mitte 2015 nicht einmal 100.000 Zuschauer in den Kinos sehen wollten.

Noten: BigDoc = 1,5, Melonie = 2, Klawer = 2,5

Als wir träumten - Frankreich/Deutschland 2015 – Laufzeit: 117 Min – Regie: Andreas Dresen – Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase (nach dem gleichnamigen Roman von Clemens Meyer) – FSK: ab 12 Jahren - Darsteller: Merlin Rose, Julius Nitschkoff, Marcel Heuperman, Joel Basman, Frederic Haselon, Ruby O. Fee, Chiron Elias Krase, Luna Rösner, Tom von Heymann, Nico Ramon Kleemann.