Dienstag, 11. Dezember 2012

Cloud Atlas


USA / Deutschland 2011 - Regie: Lana und Andy Wachowski, Tom Tykwer - Darsteller: Tom Hanks, Halle Berry, Jim Broadbent, Hugo Weaving, Jim Sturgess, Doona Bae, Ben Whishaw, Zhou Xun, Susan Sarandon, Hugh Grant - FSK: ab 12 - Länge: 172 min.

Wenn das letzte Kapitel von „Cloud Atlas“ erzählt wird, befinden wir uns nicht mehr auf der Erde. Am Himmel stehen ein fremder Mond und ein großer Nachbarplanet, aber am Lagerfeuer sitzen einige Kinder und ein Opa, der wie Tom Hanks aussieht und der den Kleinen seine alten Geschichten erzählt. Irgendwo, einige Lichtjahre entfernt, glitzert ein kleiner blauer Punkt, auf den der Alte mit dem Finger deutet: da ist die Erde, da kommen wir her.

"Was aber ist ein Ocean anderes als eine Vielzahl von Tropfen?" (David Mitchell aka. Adam Ewing)

Wir haben es also geschafft: der Planet ist ruiniert, wir müssen unsere Zelte woanders aufschlagen.
Wie es dazu kommen konnte und kommen wird, erzählen uns Andy und Lana Wachowski und Tom Tykwer mit der nicht für verfilmbar gehaltenen Adaption des verschachtelten Romans „Cloud Atlas“ von David Mitchell. Dass und wie wir unsere Zivilisation vor die Wand fahren, ist im Buch und im Film eine überwiegend deprimierende Geschichte, in der sich alles, was gut und schlecht ist im Menschen, quer durch die Jahrhunderte wiederholt: Gier, Macht und Unterdrückung einerseits, andererseits aber immer wieder Individuen (oder besser gesagt: Helden?), die sich gegen Tyrannei, Rassismus, Dummheit oder das Böse schlechthin auflehnen. In dem sich über fünf Jahrhunderten erstreckenden Epos sind sie dabei durch unsichtbare, aber auch sehr greifbar- und hörbare Bande miteinander verbunden. Jede Entscheidung, jede Handlung, auch die kleinste, hat Folgen für das Ganze und möglicherweise wandern auch unsere Seele von Körper zu Körper und müssen immer wieder nach einer Antwort auf die allertiefsten Fragen suchen.
So könnte man „Cloud Atlas“ in etwa zusammenfassen.
Seelenwanderung, Spiritualität, Mystik, esoterischer Humbug? Oder schlichtweg größenwahnsinniges Kino, das philosophische Binsenweisheiten als Tiefsinn verkaufen will und sich durch die Geschichte nach dem Prinzip eines moralischen „Butterfly Effect“ (Richard Brody, The New Yorker) zappt? Hängt alles miteinander zusammen und kann der kleinste Tropfen im Meer entscheidend dafür sein, was in ferner Zukunft geschieht?

Wer Castaneda gelesen hat und die Chaostheorie mag, wird mit Sicherheit einen Zugang zu „Cloud Atlas“ erhalten: Historie und Selbsterkenntnis als großes Mirakel, kleine Ursache - große Wirkung. Der hartgesottene und naturalistisch geschulte Cineast wird sich auf die ideologie- und zivilisationskritischen Aspekte von Buch und Film stürzen und höhnisch anmerken, dass Hegels Weltgeist im Buch kräftig auf die Schnauze fällt, im Film allerdings etwas besser davonkommt.
So war das schon bei der Matrix-Trilogie der Wachowskis: für jeden ist etwas dabei, für Nerds und Cyberpunks, aber auch für den belesenen Bildungsbürger, der lieber zu ganz anderen Schlüssen kommt.
Was für mich feststeht: „Cloud Atlas“ ist grandioses emotionales Kino mit großartigen Bildern. Eine cineastische Reise, die über fünf Jahrhunderte umspannt, enorm viel Spaß beim Zuschauen macht und dabei kaum weniger ehrgeizig ist als die Deutung des Matrix-Universums. Dieses hat allerdings ein Puzzle zur Deutung vorgelegt, das deutlich intellektueller und komplizierter war und (sieht man vom ersten Teil ab) bei der Kritik ebenfalls unter die Räder kam. Auch in der wirklichen Wirklichkeit wiederholt sich scheinbar alles.

Sprünge durch Zeit und Raum – und durch die Genres!

Non-linear wurde die Erzählweise von „Cloud Atlas“ bezeichnet. Das hört sich schlimmer an als es ist, ein Film wie Mr. Nobody" von Jaco Van Dormael (2010) ist da wesentlich komplexer. Ich räume aber ein, dass es von Vorteil ist, David Mitchells Buch zu kennen, bevor man sich Cloud Atlas" ansieht.
Die Episoden werden in
Cloud Atlas" chronologisch erzählt, enthalten allerdings Rückblenden und Rahmenhandlungen. Achronologisch ist dagegen die Montage und das 'Springen' zwischen den Episoden. Dies erfolgt eben nicht linear, sondern entspricht eher den Prinzipien einer modernen Version der Eisensteinschen Assoziationsmontage: Assoziationsmontage basiert auf der elementaren Fähigkeit des Menschen, aus signifikativen Bruchstücken höhere Einheiten des Denkens zu synthetisieren: Fügt man Einstellungen aneinander, die keine Handlung gemein haben, keinen gemeinsamen Raum, keine Ähnlichkeit, stellt sich doch der Eindruck eines Zusammenhangs her. Dabei treffen u.U. Bedeutungen aufeinander, die – in Eisensteins Metapher – miteinander kollidieren und dabei Bedeutungsimpulse freisetzen, die zu einem Dritten, Nichtgezeigten voranschreiten" (Lexikon der Filmbegriffe: http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=4585). 

Non-lineares Kino ist nichts Neues: bereits 1941 hat Orson Welles in
Citizen Kane" eine Geschichte multi-perspektivisch und non-linear erzählt. Der Film floppte, das Publikum verfluchte den Regisseur. Zehn Jahre später gehörten Welles' Erfindungen zum 'normalen' Bestand einer Kinoerzählung, selbst Kinder verstanden auf Anhieb Rückblenden und Citizen Kane" gilt heute als einer der besten Filme der Filmgeschichte, weil der die moderne Grammatik des Films definierte.

„Cloud Atlas“ erzählt (wie das Buch) sechs Geschichten, wobei die letzte Episode gleichzeitig die Rahmenhandlung bildet:
·      „The Pacific Journal of Adam Ewing“ (Das Pazifiktagebuch des Adam Ewing),
·      „Letters from Zedelghem“ (Briefe aus Zedelghem“),
·      „Half Lives: The First Luisa Rey Mystery“ (Halbwertszeiten – Luisa Reys erster Fall),
·      "The Ghastly Ordeal of Timothy Cavendish" (Das grausige Martyrium des Timothy Cavendish),
·      An Orison of Sonmi~451" (Somnis Oratio)
·      Sloosha's Crossin' an' Ev'rythin' After" (Sloosha’s Crossin’ un wies weiterging).

David Mitchells „Wolkenatlas“ weist im Gegensatz zum Film eine klare Struktur auf, allerdings wird zunächst 'Vorwärts', dann 'rückwärts' erzählt:
·      1) Das Pazifiktagebuch des Adam Ewing
·      2) Briefe aus Zedelghem
·      3) Halbwertszeiten – Luisa Reys erster Fall
·      4) Das grausige Martyrium des Timothy Cavendish
·      5) Somnis Oratio
·      6) Sloosha’s Crossin’ un wies weiterging
·      5) Somnis Oratio
·      4) Das grausige Martyrium des Timothy Cavendish
·      3) Halbwertszeiten – Luisa Reys erster Fall
·      2) Briefe aus Zedelghem
·      1) Das Pazifiktagebuch des Adam Ewing

Die Wachowskis und Tom Tykwer haben in ihrer Adaption (die Karteikarten-Montage hat bereits anekdotischen Wert) das Pferd also etwas anders aufgezäumt. Der sequentielle Rhythmus im Film ist ein anderer, besonders am Anfang springt die Erzählung sehr schnell durch die Geschichten, um das Personal zu etablieren, aber später folgt „Cloud Atlas“ eher  assoziativen und an zentralen thematischen Motiven orientierten Verbindungen. Während das Buch den einzelnen Geschichten einen größeren zusammenhängenden Erzählraum verschafft, montiert der Film alles etwas durchlässiger: an den Schnittstellen und Übergängen werden die gemeinsamen Elemente der jeweiligen Geschichten deutlich.

Themen und Verknüpfungen in "Cloud Atlas"

  • Trotzdem oder gerade deswegen gewöhnt man sich relativ schnell an die Protagonisten: 1850, Pazifik: der Anwalt Adam Ewing wird während der Rückreise von einer neuseeländischen Inselgruppe von seinem Begleiter, einem Arzt, aus Habgier vergiftet. Ein zunächst als blinder Passagier mitreisender Eingeborener rettet ihm das Leben. Ewing, der anfänglich die Eingeborenen als "Thiere" bezeichnet, wird zu einem Gegner der Sklaverei.
    Verknüpfung: Tagebuch. Genre/Sujet: Buch = Tagebuch, Film = Abenteuerfilm / Seereise.
  • 1931, Großbritannien: Der schwule Komponist Robert Frobisher (sein Liebhaber ist Rufus Sixsmith) wird Assistent eines weltberühmten Komponisten und heimlicher Liebhaber von dessen Frau. Als der Komponist Frobishers eigenständiges Werk, das "Wolkenatlas-Sextett", für sich beansprucht und den Homosexuellen erpresst, begeht Frobisher Selbstmord.
    Verknüpfung: eine Hälfte von Ewings Tagebuch, das Sextett, Frobishers Briefe. Genre/Sujet: Buch = Briefroman (klassische Erzählform des 17. und 18. Jh.), Film = Melodrama. Kulturelle Codierung: Frobisher benennt ein eigenes Werk nach Nietzsches Theorie der "Ewigen Wiederkunft".
  • 1975, USA: die Journalistin Luisa Rey kommt einer Intrige auf die Spur - internationale Erdöl-Multis planen den Super-Gau eines Atomkraftwerkes, um die Konkurrenz loszuwerden. Rufus Sixsmith, mittlerweile Wissenschaftler, macht Luisa Rey auf die Enthüllungsstory aufmerksam, zudem bekommt die Journalistin Frobishers Briefe in die Hände und entdeckt eine Platte mit dem "Wolkenatlas-Sextett". Sixsmith wird zwar ermordet, Rey kann aber die Handlanger und Killer der Erdöl-Multis entlarven.
    Verknüpfung: Frobishers Briefe, die Schallplatte mit Frobishers "Wolkenatlas"-Sextett und das Buch, dass der kleine Freund von Luisa als Erwachsener über sie schreiben wird: "Halbwertszeiten - Luisa Reys erster Fall". Genre: Buch = Hard-boiled Krimi (à la Mickey Spillane), Film = Paranoia Thriller.

Wir sehen: es sind nicht nur Themen und Figuren, sondern auch Medien, die historische Schnittstellen bilden und die Menschen miteinander verbinden. Bücher, Schallplatten, Filme – alles hängt miteinander zusammen. Wem das bereits als esoterische Mysterymüll erscheint, der sei daran erinnert, dass das preisgekrönte Holocaust-Drama „Sarahs Schlüssel“ (F, 2010) auf ähnliche Weise erzählt wird.
Doch wohin führt dies?
  • Fast vier Jahrzehnte später, nämlich 2012, wird der Verleger Timothy Cavendish als Opfer einer Racheaktion seines Bruders in einem Altenheim eingesperrt, dass sich als makabrer Rentnerknast entpuppt. Nach der erfolgreichen Flucht wird er seine Jugendliebe zurückerobern und das Buch „Halbwertszeiten. Luisa Reys erster Fall“ verlegen.
    Verknüpfung: das Buch "Halbwertszeiten. Luisa Reys erster Fall", ein Kinofilm über seine Abenteuer (sieht man im nächsten Kapitel), Genre: Buch = Memoiren/Ich-Erzählung, Film = Komödie.
  • Dann ein Sprung: Im Jahre 2144 befinden wir uns im koreanischen Neo-Seoul, wo der weibliche Klon Sonmi~451 heimlich einen stark fragmentierten Film über die Abenteuer von Cavendish sieht. In einer pseudo-religiösen kapitalistischen Zukunftsgesellschaft gibt es wieder Sklaven (wie in Ewings Epoche), diesmal sind es in Bruttanks gezüchtete Klone, die mit Amnesie-Drogen künstlich dumm gehalten werden. Sonmi-451 wird von dem Mitglied einer Widerstandsbewegung befreit und entdeckt, dass Klone an ihresgleichen verfüttert werden (entsprechend dem Kannibalismus der letzten Episode). Vor ihrer Hinrichtung kann sie in einer weltweit übertragenen Ansprache ihr humanistisches Programm verbreiten. In einer Rahmenhandlung wird sie kurz vor ihrem Tod von einem Historiker des Regimes verhört.
    Verknüpfung: der Kinofilm über die Abenteuer des Timothy Cavendish, schriftliche Fragmente ihrer Ansprache. Genre: Buch = Protokoll, Film = Science Fiction (Subgenre: Replikanten-Drama à la "Blade Runner"), kulturelle Codierung: Platons "Höhlengleichnis".
  • Noch ein gewaltiger Sprung, 2346, Hawaii: in einer fernen Zukunft hat sich die Menschheit nach einem weltweiten Krieg fast vollständig ausgelöscht, die Strahlenbelastung ist enorm. Der Ziegenhirt Zachary lebt mit seiner Sippe in einem Tal der Insel, ständig bedroht durch eine Horde Kannibalen. Die "Prescients" sind die Nachkommen der untergegangenen Hochkultur: sie suchen nach einer Verbindung zu den menschlichen Kolonien auf anderen Planeten. Zachary überwindet seine atavistischen Ängste, hilft den Prescients und verlässt mit wenigen Überlebenden in einem Raumschiff den sterbenden Planeten. Am Ende sitzt er mit seinen Enkel am Lagerfeuer und erzählt seine Geschichte - Lichtjahre entfernt von der Erde.
    Verknüpfung: Fragmente der Ansprache von Sonmi-451, die längst nicht mehr verstanden werden, Sonmi wird stattdessen als Göttin verehrt. Genre: Buch = Roman/Neusprech à la Orwell (
    das "Clever des Alten" = Technologie), innerer Monolog, Film = Science Fiction / Subgenre: dystopische Post-Apokalypse à la "Mad Max".

Eine Evolutionsgeschichte?

Während Mitchells Roman also einem klaren Schema folgt, springen Tykwer und die Wachowskis elegant durch die verschiedenen Jahrhunderte und verbinden die einzelnen Geschichten mit einem rhythmischen Duktus, der vieles thematisch verknüpft, dann aber auch den Regeln von Tempo und Entschleunigung gehorcht. Man hat das Gefühl, als sei David Lean in der Post-Moderne angekommen: Helden und Bösewichter, ein großer epischer Atem, aber alles halt nicht kontinuierlich erzählt, sondern scheinbar rätselhaft miteinander verwoben, dass man beim ersten Mal das Gefühl hat, den Film gleich noch mal anschauen zu sollen.

Das wichtigste Bindeglied sind, und das ist einer von zwei großen Unterschieden zu Mitchells Roman, die Darsteller: Tom Hanks spielt in 1849 den mörderischen Arzt Dr. Henry Goose und verwandelt sich am Ende in den schlichten Ziegenhirt Zachary, dessen Taten dann dabei helfen, die Reste der Menschheit zu retten. Auch in den anderen Episoden hat Hanks einen Auftritt.
Halle Berry entwickelt sich von einer Maori-Frau zu Meronym, einer Vertreterin der „Prescients“, die im 24. Jh. noch Teile der untergegangenen Technologien beherrschen. Auch sie ist in allen Episoden zu sehen, ebenso Jim Sturgess, der den Adam Ewing spielt. Nur der großartige Jim Broadbent, der seine Kollegen streckenweise an die Wand spielt, fehlt in einer Episode.
Nicht immer kann man erkennen, wer da wen spielt, aber auch die maskenbildnerischen Tricks werden im Abspann aufgeklärt und das macht zwar Spaß, aber so wichtig ist das eigentlich nicht.

Die Mehrfachbesetzung der Rollen (besonders bei den Hanks-Figuren) suggeriert, dass etwas Evolutionäres die Figuren verbindet, die sich scheinbar in Richtung größerer moralischer Integrität weiterentwickeln. Konterkariert wird dies allerdings durch die statische Besetzung der ‚Bösewichter’: hier vertreten der Matrix-Schurke Hugo Weaving und ausgerechnet Hugh Grant durchgehend das negative Prinzip, das mit einer fast schon mythologischen Penetranz immer wieder das ‚Gute’ konterkariert. Das lernt man schnell in „Cloud Atlas“: das Böse ist immer da und es folgt offenbar immer dem gleichen Antrieb - mehr Geld, mehr Macht, aber auch die Sucht nach einer gesellschaftlichen Ordnung, die ihre Stabilität mit Repression und Unfreiheit verteidigt. Gleich mehrmals verteidigen die Herrschenden in „Cloud Atlas“ ihre Ordnung als gott- oder zumindest naturgewollt.
Wer nun im Einzelnen welche Geschichten erzählt hat, ist vielleicht nicht so wichtig, aber es scheint so, als hätten Lana und Larry Wachowski die beiden Sci-Fi-Episoden und die Geschichte des Adam Ewing gedreht, während Tom Tykwer die Realisierung des Mittelteils (1936, 1973 und 2012) übernommen hat.[1]

Wesentlich interessanter ist da schon mein Eindruck, dass besonders von Lana Wachowski eindeutige Interpretationsangebote gemacht wurden: „Dein Menschsein überschreitet Zeit und Raum, deinen Stamm, deine Spezies. Es gibt eine Verbindung zwischen der Baumwollplantage des 19. Jahrhunderts und der Fabrik, in der heute die Wattepads hergestellt werden, eine Verbindung zwischen denen, die unterdrückt sind, und zwischen den Weavings und Hugh Grants dieser Welt“.
Gut, das ist etwas trivial, aber unwahr wird es dadurch nicht. Nur: welche Verbindungen sind dies denn nun? 
So richtig führt in „Cloud Atlas“ kein eindeutiger Weg aus dem Labyrinth. Manchmal wabert Unklares durch den Film, dann wieder treffen einige Kalenderweisheiten in den Dialogen offenbar den Nerv genau dort, wo es weh tut.
Historiker und Soziologen werden sich mit Grausen abwenden, spirituell und kinohistorisch geerdete Cineasten dagegen äußern sich in Filmforen voller Hingabe, während andere mit wahren Schimpfkanonaden über den langweiligen", misslungenen" und „schlechtesten Film aller Zeiten" herfallen, nur um im Gegenzug als Dummköpfe und Bildungsbanausen niedergemacht zu werden.
„Cloud Atlas“ ist als Zeitgeistfilm großartig und banal, voller Fantasie und esoterischer Weisheiten, er polarisiert und spaltet, und doch werden Erwartungen eher erfüllt als unterlaufen. Und es überrascht dann auch nicht, dass ein Großteil der Kritiker ziemlich genervt und streckenweise gehässig auf die Mischung aus Blockbuster und mehrdeutig schillernder Metaphysik reagierte.

Dabei gelingt „Coud Atlas“ zumindest etwas, was man durchaus spüren kann, wenn man es denn will: der Film erinnert an die eigenen, frühen Filmerfahrungen. Und die waren sehr stark mit etwas verbunden, was man später (auch im Kino) sehr schnell verlernen kann: dem Staunen!
Das Gefühl, auf magische Weise von etwas berührt zu werden, was sich nicht augenblicklich wie die Montageanleitung eines Billy-Regals erschließen lässt, hat hoffentlich jeder auf andere Weise im Kino erlebt: egal, ob in Kubricks „2001 - A Space Odyssee“ oder in John Fords „The Searchers“. Andere werden bis ans Ende ihrer Tage „Lawrence of Arabia“ lieben, aber es lässt sich nicht leugnen, dass es diese seltsamen Filme gibt.
Filme, die sich nicht sofort entschlüsseln lassen und immer wieder neue Deutungsangebote machen, die im Kern aber über eine mysteriöse Schlüssigkeit verfügen.

Mag sein, das in „Cloud Atlas“ einiges zu schlicht gestrickt ist. Ich würde es eher als konservative Skepsis bezeichnen: Gewalt und Herrschaft verschwinden nicht aus der Geschichte, der Kampf um Freiheit ist dagegen ein Insistieren auf unverrückbaren moralischen Überzeugungen. „Cloud Atlas“ hat allerdings auch Humor. Und Herz. „Das grausige Martyrium des Timothy Cavendish“ ist zum Beispiel eine saukomische Komödie, die fast ein wenig aus dem Rahmen fällt.
„Cloud Atlas“, so lautet mein Fazit, ist die gelungene Adaption eines außergewöhnlichen Buches, allerdings mit anderen Akzenten, und der Film findet zudem originäre filmische Lösungen für eine Handvoll formaler Probleme, an denen man auch leicht scheitern konnte.

Buch und Film: Zwei Geschichtsmodelle

Aus meiner Sicht gibt es aber einen Unterschied zwischen Mitchells Roman und dem Film von Tom Tykwer, Lana und Larry Wachowski: das Buch beginnt und endet mit der Geschichte Adam Ewings und erzählt dabei möglicherweise vom Scheitern der Aufklärung des 18. Und 19. Jh. Der Film beendet die Menschheitsgeschichte, billigt ihr aber mit melodramatischem Optimismus eine Zukunft weit draußen im Weltall zu.

Schauen wir etwas genauer hin: Bei Mitchell erinnert uns der Notar Ewing ein wenig an Daniel Kehlmanns Naturforscher Alexander von Humboldt und seine arroganten Missdeutungen angesichts der Begegnung mit alten untergegangenen indianischen Hochkulturen und ihren Opferritualen („So viel Zivilisation und so viel Grausamkeit ...gleichsam der Gegensatz zu allem, wofür Deutschland steht!“).
Auch bei Mitchell gibt es eine vergleichbare ironische Pointe, etwas wenn Ewing am Anfang über die „angeborene thierische Stumpfheit“ der Eingeborenen spricht. Am Ende hat im Buch ein geläuterter Adam Ewing das letzte Wort: „Ein Leben mit der Gestaltung einer Welt zu verbringen, die ich ... nicht voller Furcht, sondern mit Freude hinterlassen kann, das erscheint mir als Leben, das zu leben werth ist.“
Die Wachowskis und Tykwer beginnen am anderen Ende der Zeitschiene (Prolog) und hören dort auch auf (Epilog), in fernster Zukunft nämlich: alles ist kaputt, aber alles wird trotzdem gut. David Mitchell lässt seinen Protagonisten Adam Ewing dagegen eine Bildungsreise unternehmen, die ihn mitten ins Zentrum des geschichtsoptimistischen, aufklärerischen Denkens, aber halt auch in dessen Krise führt, ohne dass er es wissen kann. Männer wie Ewing werden, wenn man ihr Leben weiter ausspinnt, in einigen Jahrzehnten miterleben, welchen Blutzoll die amerikanische Nation bei der Lösung der Sklavenfrage leisten musste und der geschichtskundige Leser wird schwerlich einen Gedanken an die Schlachthöfe des 20. Jh. unterdrücken können.

Kein kleiner, aber ein feiner Unterschied: der Film will den notorischen Skeptiker versöhnen, im Roman weiß der Leser als historischer Besserwisser, wo der aufklärerische Humanismus eines David Ewing enden wird, nämlich in den Grausamkeiten des 20. Jh.
Ich denke, dass Mitchells Version die finale Volte des Films klar in den Schatten stellt. Seine Geschichte endet in einer fast schon etwas entmutigenden Kreisbewegung wieder am Anfang, der Film wählt die Sci-Fi-Perspektive und lässt ein Happy-End zu, kein bruchloses, aber jenseits der großen Katastrophe wartet dann doch ein Licht am Ende unserer fatalen Geschichte.

Humorlose Kritik

Am Ende kam es, wie es kommen musste: „Cloud Atlas“ wurde kräftig in die Mangel genommen. Wieder einmal reagiert(e) die Gilde der Filmkritiker mit unübersehbarer Hysterie und schlug irgendwo zwischen „größenwahnsinnig“ und „Jahrhundertwerk“ auf. Das geschieht eigentlich regelmäßig, wenn Mainstream vermutet wird und sich bei näherem Hinsehen als Autorenfilm entpuppt. Zuletzt hatten wir so ein Rumoren bei Terrence Malicks „Tree of Life“, obwohl der wohl kaum Mainstream im Sinn hatte, und in geringerem Ausmaß bei Lars von Triers „Melancholia“ – der eine zeigte die Geburt des Kosmos, der andere den Weltuntergang. Größenwahn oder Jahrhundertwerk?

Wenn es darum geht, dann erinnere ich mich lieber an Michael Ciminos „Heaven’s Gate“ (1980), dem geradezu epochaler Größenwahn vorgeworfen wurde. Ciminos keineswegs durchgehend gelungener Western trieb nicht nur das verantwortliche Studio in die Pleite, sondern gewann auch die „Goldene Himbeere“ für die „Schlechteste Regie“, nachdem der Film – auch von Teilen der Kritik – wie eine Sau durchs Dorf getrieben worden war.
Über 30 Jahre später befindet sich „Heavens’ Gate“ samt Regisseur zwar nicht an zentraler Stelle im Olymp der Filmgötter, Michael Cimino steht aber irgendwo ganz nahe bei ihnen, halb vergessen, aber immer noch im Sinn. Man fragt sich, was den Kritikern von damals durch den Kopf geht, wenn sie den Film heute sehen, aber vielleicht ist das nicht so wichtig.
Zum Glück vergisst die Filmgeschichte die Kritiker, nicht aber die Filme.

(Diese Kritik wurde am 23.4.2013 überarbeitet).

Noten: BigDoc, Melonie = 1, Klawer = 1,5, Mr. Mendez = 3.

Pressespiegel

Rüdiger Suchsland (http://www.heise.de/tp/artikel/37/37971/1.html) verreißt lustlos "Cloud Atlas" ("Zappen ohne Fernbedienung", "nervtötende Musiksoße"). Er beklagt sich über "banale Gedankenwolken" und zitiert Lebensweisheiten aus dem Film. Doch jene, die er eingangs zitiert, ist keine, sondern ausgerechnet das zentrale Paradigma der Herrschaftsideologie.[2] Oupps!
Dafür weiß der Kritiker, was man mit den 100 Millionen besser angestellt hätte: "Wie viele Studentenfilme könnte man dafür machen? Wäre nicht mindestens einer genauso gut, und einer besser, interessanter innovativer, zukünftiger, als "Cloud Atlas"?"
Leider werden wir das nicht herausfinden, denn die Mios sind verbraten.
Am Ende sieht er aber ein "interessantes Werk", weil der Film das Leben außerhalb des Kinos widerspiegelt und das sei nun mal vom ADHS der meisten Zuschauer geprägt, was der Film prächtig bedienen würde.[3]

US-Filmkritikerzar Roger Ebert stellt fest: "...one of the most ambitious films ever made!" Es gibt aber auch US-Kritiker, die konstatieren, dass „Cloud Atlas" nun doch wohl "the badest movie ever made" ist, also noch schlechter als "Angriff der Killertomaten".

Thorsten Funke resümiert auf critic.de: Cloud Atlas galt nicht umsonst gleich nach seinem Erscheinen als unverfilmbar. Nun ist doch ein Film daraus geworden, einer, der zugleich über- wie unterfordert, ein Hochglanzprodukt, das es auf Überwältigung anlegt, für eine übertrieben prononcierte, dennoch schwer zu greifende humanistische Botschaft. Es handelt sich, das sollte deutlich geworden sein, um alles andere als ein gelungenes Werk. Man langweilt sich im Kino dennoch nicht: Wegen mancher schauspielerischer Kabinettstückchen, vor allem aber, weil das über den Film gespannte Beziehungs- und Verweisnetz bei aller Aufdringlichkeit voller entdeckenswerter Details steckt.“
Was will man mehr vom Kino? Und das bei einem misslungenem Film...

Filmpapst Georg Seeßlen fasst für DIE ZEIT zusammen: Was bei Mitchell freilich eine einsichtig-aufklärerische moralische Haltung ist, das wird in diesem Film zu einer etwas verquasten Mischung aus Esoterik, Sonntagsschule und halb verdauten Philosophiebrocken: Wie schon die letzten Teile der Matrix-Trilogie scheint auch dieser Wachowski-Film beständig auf der Flucht vor den Konsequenzen seiner eigenen Wagnisse. Kurzum: Cloud Atlas hat begriffen, welche Aufgaben sich dem Popcornkino der Zukunft stellen. Aber bei der Lösung dieser Aufgabe ist nicht viel mehr herausgekommen als ein ansehnlicher Bilderbrei.“
Immerhin ansehnlich...

Fazit meiner Gesamtlektüre: gefühlte 70% der Kritiker kloppen auf den Film ein als sei dieser DIE Kinoblasphemie der letzten 100 Jahre, wo doch Lars von Trier für diese Sparte zuständig ist, der Rest feiert den Film als Jahrhundertwerk, das man vermutlich erst in 20 Jahren richtig würdigen wird. Eingespielt hat der Film seine Kosten noch nicht, aber Lana Wachowski weiß in einem Interview mit dem TAGESSPIEGEL bereits die Antwort: Sartre hat gesagt, alle materialistischen Philosophien reduzieren Kunst auf das Objekthafte. Genau das geschieht, wenn man „Cloud Atlas“ am Einspielergebnis bemisst. So funktioniert Unterdrückung, so will der Markt es regeln: Er reduziert Menschen auf Zahlen und Bilanzen.“

Dann wollen wir doch hoffen, dass sie trotzdem das Geld für ihren nächsten Film zusammen bekommen. Ich bin gespannt.


[2] Es gibt auch Längen, vor allem Anfang. Es gibt von allem etwas und nichts richtig, außer ein paar Lebensweisheiten, die nicht ganz falsch sind, aber vielleicht banal, und bei denen man sich zudem nicht ganz sicher sein kann, wie ernst sie überhaupt gemeint sind: „Unsere Welt folgt einer naturgegebenen Ordnung und wer versucht, sie umzukrempeln, dem wird es schlecht ergehen.“
 [3] "Aber er ist ein interessantes Werk, weil er sehr zeitgemäß ist, weil er in seinen ständigen Perspektivwechseln, die Netzstrukturen unserer Wirklichkeit ebenso spiegelt, wie er die Aufmerksamkeitsdefizite vieler User/Zuschauer bedient, denn seine Struktur und Verwirrtheit und sogar sein ständiges Moralisieren und seine Esoterik haben sehr viel mit den digitalen Wolken zu tun, die unser gegenwärtiges Leben jenseits des Kinos prägen. 'Unsere Leben gehören nicht uns. Wir sind verbunden mit anderen, in Vergangenheit und Gegenwart. Und mit jedem Verbrechen und jedem Akt der Güte erschaffen wir unsere Zukunft'.“