Montag, 24. Dezember 2012

Total Recall (2012)



USA 2012 - Regie: Len Wiseman - Darsteller: Colin Farrell, Bryan Cranston, Kate Beckinsale, Bill Nighy, Jessica Biel, Ethan Hawke - FSK: ab 12 - Länge: 118 min (Extended Cut: 130 min).

Ceci n'est pas une pipe (René Magritte)

Die Überschrift erinnert an den Altmeister des Surrealen, der dereinst mit fotografischer Qualität das Bild einer Pfeife malte und dann die Frechheit besaß, den Spruch im Bild zu platzieren, dass dies gar keine Pfeife sei! 
Kino bietet im günstigsten Fall einen ähnlichen Erfahrungsraum an. Gelegentlich gibt es Leute, die uns auf der Leinwand eine Pfeife zeigen und behaupten, dies sei eine Pfeife. Und solche, die genau das Gegenteil tun. Und schon sind wir mitten drin im Dilemma.

So oder so: Die einzelnen Filme sprechen dann zwar für sich, aber auch dafür, dass man an einem bestimmten Ort immer so beeindruckende Erfahrungen über Pfeifen gesammelt hat, dem Kino halt.
Das funktioniert heutzutage nicht mehr ohne Weiteres, denn Filme sind Produkte, die wir an beliebigen Orten sehen können – zur Not auch auf dem Smartphone, während wir in einem Bus sitzen. Diese materielle Diversifikation zieht notwendigerweise auch eine gedankliche nach sich, darum bedeutet Diversifikation ja schließlich sowohl Abwechslung im fühlbaren als auch Sortimentsausweitung im ökonomischen Sinne. Die Pluralität der medialen Möglichkeiten kann deshalb alte Erfahrungsräume schnell auflösen und durch andere ergänzen, zumindest aber die alten werden entzaubert. Aber wird damit auch die Erfahrung an sich aufgelöst oder nur großräumig verteilt?

Während wir also aus anthropologischer Sicht den alten Erfahrungsraum mit dem Gefühl des Neuen, das es zu bestaunen gilt, verbunden haben, so drückt die neue materielle Diversifikation vielleicht etwas anderes aus, nämlich dass wir offenbar doch nichts Neues erwarten dürfen und die gepriesene Sortimentsvielfalt nur darauf hinausläuft, dass wir immer das Gleiche in neuen Verpackungen angeboten bekommen – wie in den Shopping Malls. Wenn der Erfahrungsraum Kino aber darauf insistiert, immer noch einer zu sein, dann hat das höchstens nur noch etwas mit unseren biografischen Sedimenten zu tun, die an eine Zeit erinnern, in der dies mal anders gewesen ist. Aber vielleicht ist das eine Illusion und es war nie anders.
Wenn wir jemals gehofft haben, dass Filme Erfahrungen anbieten, dann müssen wir herausfinden, woher dieser fromme Wunsch kommt und was Erfahrung überhaupt und an sich bedeutet. Da wartet vieles an Deutungsangeboten auf uns, einerseits der schnöde Empirismus, der Erfahrung aus seiner Singularität heraushebt, sie experimentell untersucht und ordentlich vermisst, um etwas Solideres als den flüchtigen Eindruck zu erhalten. Oder wir wenden uns Kant zu, der Erfahrung als Wissen über den Gegenstand verstand, aber auch die Methode des Erkennens damit meinte, sodass Erfahrung in beiderlei Hinsicht geeignet sei, die Sinne und die Vernunft miteinander zu verbinden. Wie schön…

Ich halte es dagegen mit dem alten Gadamer, der vor über 50 Jahren behauptete: Jede Erfahrung, die diesen Namen verdient, durchkreuzt eine Erwartung. Magritte und seine Pfeife haben das wohl irgendwie richtig verstanden. Nun muss ich nur noch herausfinden, ob dies im Kino und den neuen Erfahrungsräumen ein frommer Wunsch ist oder inmitten der Diversifikation gar nicht mehr stattfinden kann.
Denn was wird hier durchkreuzt? Angenommen, wir haben das Meiste von dem vergessen, was wir im Erfahrungsraum Kino gelernt haben, dann können wir auch nichts erwarten, was durchkreuzt wird, oder? Oder es werden noch zerstreute Reste alter Erfahrungen angespült wie Flaschenpost am Strand, dann jedenfalls könnte sich gegebenenfalls zumindest Irritation einstellen.
Dieses Dilemma hat auch der alte Platon erkannt: Seine „Wiedererinnerungslehre“ weist auf den Widerspruch hin, dass möglicherweise alle Suche nach Wissen und Erkenntnis (Epistemologie) nur aufgrund einer „Verwirrung“ in der Erfahrung (und nicht durch Belehrung) zustande kommt. Mit anderen Worten: etwas schüttelt uns so durch, dass wir vergrübelt davonschleichen und erst mal nachdenken müssen.
Ob das dann zu ertragreichen Ergebnissen führt, ist eine andere Sache.

Dies ist keine Filmkritik

Doch zurück zur Diversifikation. Wenn die Sache mit dem schönen Schein stimmt, also die Sortimentsvielfalt gar keine ist, sondern uns das Gleiche in einer neuen Verpackung präsentiert, dann müssen die Shopping Malls …ähm … die Kinos zu Stätten werden, in denen wir eben dies nicht bemerken oder diese neue Erfahrung schnell wieder vergessen. Die Filmindustrie muss alles tun, damit wir uns nicht daran erinnern, dass hinter den verschiedenen Kaffeemarken sich eben doch nur Kaffee verbirgt, mag er auch unterschiedlich schmecken. Im Falle von Total Recall ist es folglich nicht förderlich zu wissen, dass es dieses Produkt schon einmal gegeben hat.
Wie witzig, wenn man bedenkt, dass Recall schließlich das Aufrufen alter Erinnerungen meint.
Wir wissen nun aber, dass dies nicht klappen kann, wenn kein Orwellsches Neusprech unsere Erfahrungsräume besetzt und wir gezwungen werden, das Wort ‚alt‘ durch das Wort ‚neu‘ zu ersetzen, womit wir immer das Gegenteil eines Sachverhalts aussprechen, bis wir glauben, es sei tatsächlich so. Ceci n'est pas une pipe.
Wie gesagt: das kann nicht klappen, denn solange da draußen einer ist, der diese Botschaft mit Erinnerungen durchkreuzt, sind die Neusprech-Ideologen aufgeschmissen. Ein wenig Neusprech aber haben immerhin schon in diesem Diskurs entdeckt, denn wer das Lesen dieses Textes nicht schon nach wenigen Zeilen abgebrochen hat, muss zu dem Schluss kommen, dass Sortimentsvielfalt möglicherweise doch nur Sortimentseinfalt bedeutet.
Also doch Orwell?

Es wird nun immer schlimmer, denn ein Vertreter der Neusprech-Ideologen könnte daherkommen und behaupten: Leute, ihr erwartet doch sowieso nichts Neues! Wir durchkreuzen diese Erwartung und bieten euch das vermeintlich Alte in neuer bonbonfarbener Verpackung an und schmecken tut es auch besser. Ja, gegen so viel Sophisterei ist kein Kraut gewachsen und um diesen Querschlägen zu entkommen, hat der Mensch die Ideologiekritik erfunden.
Aber auch gegen diese kann man etwas unternehmen, man tut es auch: man bastelt ein Produkt so zusammen, dass es wie ein Faustschlag funktioniert, der seinen Betrachter betäubt, aber nicht so durchschüttelt, dass er im platonischen Sinne den Ursachen der Verwirrung nachspüren möchte.
Das funktioniert auch ganz gut, denn Total Recall fängt nicht mit einer schwerfälligen Exposition an, sondern wirft den Zuschauer gleich mitten in die Action. Es wird geballert, was das Zeug hält, sodass man, wenn im Film die ersten rudimentären Dialoge gesprochen werden, schon nicht mehr Herr seiner Sinne ist. Diese Betäubung kommt im rechten Moment, denn bevor man überhaupt etwas mitbekommt, hat der Film bereits eine Reihe von Bildern an uns vorbeigeschleust, die aus anderen Filmen geklaut worden sind. Total Recall ist nämlich nicht nur ein Remake von Total Recall, sondern visuell auch eins von Blade Runner und Minority Report.

Das Remake ist kein Remake

Es könnte alles so einfach sein! Wir könnten jetzt einfach Schluss machen und festhalten, dass der vertraute Erfahrungsort Kino sich im Kauderwelsch des Neusprech aufgelöst hat und der Erfüllungsort aller Versprechen die Kasse ist, an der wir abgemolken werden.
Dummerweise war da aber ein Mann namens Philip K. Dick, der schon immer ein Subversiver gewesen ist, genauso wie die vermeintlichen Terroristen der Kolonie, die in Total Recall von einem Mann ohne Gedächtnis unterwandert werden sollen. 
Philip K. Dick hat eine Gemeinheit in der Geschichte platziert, die ein klein wenig an den oben erwähnten platonischen Zweifel an der Belehrung gemahnt. Da wird die Geschichte eines Mannes erzählt, der sein Gedächtnis löscht, um bei der Infiltration der Terroristen glaubwürdiger zu erscheinen, dann aber Botschaften aus der Vergangenheit erhält, die ihm bedeuten, dass er mal ein anderer war. Das kann nun wahrlich das Durchkreuzen einer Erwartung nennen!
Und die Erkenntnis, die unser Held im Zusammenspiel seiner Sinne und den Resten seiner Vernunft gewinnt, ist verblüffend: er will nichts mehr mit seinem Alter Ego zu tun haben, sondern in seinem neuen Erfahrungsraum bleiben. Da helfen keine Pillen und auch die Re-Implantation der alten Erinnerungen geht ordentlich in die Hose. Und der Zuschauer, der sich diese schon an sich recht interessante Begebenheit anschaut, wenn er denn zwischendurch aus der Betäubung aufwacht, weiß nicht einmal, ob sich dies alles wirklich so abspielt oder nur Teil einer Erinnerungsimplantation der Firma Rekall ist.

„Wenn ich nicht ich bin, dürfte ich dann erfahren, wer ich bin?" (Arnold Schwarzenegger)

Mist, solche Geschichten darf die Diversifikations-Industrie eigentlich nicht erzählen, denn damit erzählt sie auch eine Geschichte über sich und ihr eigenes Funktionieren. Denn eigentlich soll ja auch unser Gedächtnis gelöscht werden, damit wir das Alte vergessen und für das Neue empfänglich sind. Nur hat diese Industrie nie ernsthaft vorgehabt, uns die alten Erinnerungen wiederzugeben…
Offenbar hat sie ihr Dilemma auch erkannt. Doch was ist gegen den Sprengsatz von Philip K. Dick zu unternehmen? Nun, in unser menschlichen Kulturgeschichte hat man etwas Schönes erfunden, um die wahren Absichten zu verschleiern und dem Gläubigen trotzdem die Welt zu erklären. Den Mythos!
In der Diversifikations-Industrie heißt dies etwas anders: nämlich Extended Director’s Cut. Im vorliegenden Fall darf man, wenn man sich die Bluray des besagten Films kauft, eine zwölf Minuten längere Version des Films sehen, die verspricht, das Thema nun wirklich ganz ernst zu nehmen. Und tatsächlich sieht man dann einiges, was nachdenklicher stimmt, und das, was am nachdenklichsten stimmt, ist der Umstand, dass man einen Darsteller aus der Kinofassung entfernt hat, nämlich Ethan Hawke, der Im Extended Cut aus den herausgeschnittenen Filmschnipseln wieder zusammengesetzt wird und der Geschichte eine etwas andere Richtung gibt, was den Regisseur in den Stand versetzt, darüber zu reden, dass die Kinofassung halt einige Zugeständnisse machen musste, die der Beschränktheit des Publikums geschuldet sind.
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Erstaunlich: Die Diversifikations-Industrie hat früher immer Angst vor Komplikationen gehabt und alles aus Filmen entfernt, was zu sophisticated ist. Auch das ist ein Wortspiel, an dem Wittgenstein seine Freude gehabt hätte, denn sophisticated ist sowohl eine Eigenschaft der Sache selbst (developed to a high degree of complexity) als auch ihres Betrachters (aware of and able to interpret complex issues). Sollte es also stimmen, dass wir nichts sehen sollen, was zu sophisticated ist, dann hat die Diversifikations-Industrie sich einen Bärendienst erwiesen, denn in der Absicht, alles zu tun, um die Verpackung und den Inhalt ihres Produkt verheißungsvoller zu machen, hat sie leider in der Nachverwertung auch die Gebrauchsanweisung mitgeliefert, die uns aufzeigt, dass all dies doch nur eine Chimäre ist. Philip K. Dick würde sich darüber wohl so richtig freuen. Paul Verhoeven vermutlich auch.

Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) schreibt: „Wenngleich die Erzählung sehr stark auf überwältigende Effekte und ausgiebige Actionszenen setzt, liegen Ort und Zeit der Handlung soweit von der Alltagswelt Jugendlicher entfernt, dass es Zuschauern ab 12 Jahren leicht fällt, sich ausreichend von den Geschehnissen zu distanzieren. Zugleich ist von Beginn an klar, dass am Ende das Gute und damit auch der Protagonist triumphieren wird“ (http://www.spio.de/index.asp?SeitID=491&TID=70&fsknr=134131/K).
FSK ab 12 freigegeben, feiertagsfrei.
 
Der Filmclub wünscht allen Lesern Frohe Weihnachten.