Montag, 24. Dezember 2012

Total Recall (2012)



USA 2012 - Regie: Len Wiseman - Darsteller: Colin Farrell, Bryan Cranston, Kate Beckinsale, Bill Nighy, Jessica Biel, Ethan Hawke - FSK: ab 12 - Länge: 118 min (Extended Cut: 130 min).

Ceci n'est pas une pipe (René Magritte)

Die Überschrift erinnert an den Altmeister des Surrealen, der dereinst mit fotografischer Qualität das Bild einer Pfeife malte und dann die Frechheit besaß, den Spruch im Bild zu platzieren, dass dies gar keine Pfeife sei! 
Kino bietet im günstigsten Fall einen ähnlichen Erfahrungsraum an. Gelegentlich gibt es Leute, die uns auf der Leinwand eine Pfeife zeigen und behaupten, dies sei eine Pfeife. Und solche, die genau das Gegenteil tun. Und schon sind wir mitten drin im Dilemma.

So oder so: Die einzelnen Filme sprechen dann zwar für sich, aber auch dafür, dass man an einem bestimmten Ort immer so beeindruckende Erfahrungen über Pfeifen gesammelt hat, dem Kino halt.
Das funktioniert heutzutage nicht mehr ohne Weiteres, denn Filme sind Produkte, die wir an beliebigen Orten sehen können – zur Not auch auf dem Smartphone, während wir in einem Bus sitzen. Diese materielle Diversifikation zieht notwendigerweise auch eine gedankliche nach sich, darum bedeutet Diversifikation ja schließlich sowohl Abwechslung im fühlbaren als auch Sortimentsausweitung im ökonomischen Sinne. Die Pluralität der medialen Möglichkeiten kann deshalb alte Erfahrungsräume schnell auflösen und durch andere ergänzen, zumindest aber die alten werden entzaubert. Aber wird damit auch die Erfahrung an sich aufgelöst oder nur großräumig verteilt?

Während wir also aus anthropologischer Sicht den alten Erfahrungsraum mit dem Gefühl des Neuen, das es zu bestaunen gilt, verbunden haben, so drückt die neue materielle Diversifikation vielleicht etwas anderes aus, nämlich dass wir offenbar doch nichts Neues erwarten dürfen und die gepriesene Sortimentsvielfalt nur darauf hinausläuft, dass wir immer das Gleiche in neuen Verpackungen angeboten bekommen – wie in den Shopping Malls. Wenn der Erfahrungsraum Kino aber darauf insistiert, immer noch einer zu sein, dann hat das höchstens nur noch etwas mit unseren biografischen Sedimenten zu tun, die an eine Zeit erinnern, in der dies mal anders gewesen ist. Aber vielleicht ist das eine Illusion und es war nie anders.
Wenn wir jemals gehofft haben, dass Filme Erfahrungen anbieten, dann müssen wir herausfinden, woher dieser fromme Wunsch kommt und was Erfahrung überhaupt und an sich bedeutet. Da wartet vieles an Deutungsangeboten auf uns, einerseits der schnöde Empirismus, der Erfahrung aus seiner Singularität heraushebt, sie experimentell untersucht und ordentlich vermisst, um etwas Solideres als den flüchtigen Eindruck zu erhalten. Oder wir wenden uns Kant zu, der Erfahrung als Wissen über den Gegenstand verstand, aber auch die Methode des Erkennens damit meinte, sodass Erfahrung in beiderlei Hinsicht geeignet sei, die Sinne und die Vernunft miteinander zu verbinden. Wie schön…

Ich halte es dagegen mit dem alten Gadamer, der vor über 50 Jahren behauptete: Jede Erfahrung, die diesen Namen verdient, durchkreuzt eine Erwartung. Magritte und seine Pfeife haben das wohl irgendwie richtig verstanden. Nun muss ich nur noch herausfinden, ob dies im Kino und den neuen Erfahrungsräumen ein frommer Wunsch ist oder inmitten der Diversifikation gar nicht mehr stattfinden kann.
Denn was wird hier durchkreuzt? Angenommen, wir haben das Meiste von dem vergessen, was wir im Erfahrungsraum Kino gelernt haben, dann können wir auch nichts erwarten, was durchkreuzt wird, oder? Oder es werden noch zerstreute Reste alter Erfahrungen angespült wie Flaschenpost am Strand, dann jedenfalls könnte sich gegebenenfalls zumindest Irritation einstellen.
Dieses Dilemma hat auch der alte Platon erkannt: Seine „Wiedererinnerungslehre“ weist auf den Widerspruch hin, dass möglicherweise alle Suche nach Wissen und Erkenntnis (Epistemologie) nur aufgrund einer „Verwirrung“ in der Erfahrung (und nicht durch Belehrung) zustande kommt. Mit anderen Worten: etwas schüttelt uns so durch, dass wir vergrübelt davonschleichen und erst mal nachdenken müssen.
Ob das dann zu ertragreichen Ergebnissen führt, ist eine andere Sache.

Dies ist keine Filmkritik

Doch zurück zur Diversifikation. Wenn die Sache mit dem schönen Schein stimmt, also die Sortimentsvielfalt gar keine ist, sondern uns das Gleiche in einer neuen Verpackung präsentiert, dann müssen die Shopping Malls …ähm … die Kinos zu Stätten werden, in denen wir eben dies nicht bemerken oder diese neue Erfahrung schnell wieder vergessen. Die Filmindustrie muss alles tun, damit wir uns nicht daran erinnern, dass hinter den verschiedenen Kaffeemarken sich eben doch nur Kaffee verbirgt, mag er auch unterschiedlich schmecken. Im Falle von Total Recall ist es folglich nicht förderlich zu wissen, dass es dieses Produkt schon einmal gegeben hat.
Wie witzig, wenn man bedenkt, dass Recall schließlich das Aufrufen alter Erinnerungen meint.
Wir wissen nun aber, dass dies nicht klappen kann, wenn kein Orwellsches Neusprech unsere Erfahrungsräume besetzt und wir gezwungen werden, das Wort ‚alt‘ durch das Wort ‚neu‘ zu ersetzen, womit wir immer das Gegenteil eines Sachverhalts aussprechen, bis wir glauben, es sei tatsächlich so. Ceci n'est pas une pipe.
Wie gesagt: das kann nicht klappen, denn solange da draußen einer ist, der diese Botschaft mit Erinnerungen durchkreuzt, sind die Neusprech-Ideologen aufgeschmissen. Ein wenig Neusprech aber haben immerhin schon in diesem Diskurs entdeckt, denn wer das Lesen dieses Textes nicht schon nach wenigen Zeilen abgebrochen hat, muss zu dem Schluss kommen, dass Sortimentsvielfalt möglicherweise doch nur Sortimentseinfalt bedeutet.
Also doch Orwell?

Es wird nun immer schlimmer, denn ein Vertreter der Neusprech-Ideologen könnte daherkommen und behaupten: Leute, ihr erwartet doch sowieso nichts Neues! Wir durchkreuzen diese Erwartung und bieten euch das vermeintlich Alte in neuer bonbonfarbener Verpackung an und schmecken tut es auch besser. Ja, gegen so viel Sophisterei ist kein Kraut gewachsen und um diesen Querschlägen zu entkommen, hat der Mensch die Ideologiekritik erfunden.
Aber auch gegen diese kann man etwas unternehmen, man tut es auch: man bastelt ein Produkt so zusammen, dass es wie ein Faustschlag funktioniert, der seinen Betrachter betäubt, aber nicht so durchschüttelt, dass er im platonischen Sinne den Ursachen der Verwirrung nachspüren möchte.
Das funktioniert auch ganz gut, denn Total Recall fängt nicht mit einer schwerfälligen Exposition an, sondern wirft den Zuschauer gleich mitten in die Action. Es wird geballert, was das Zeug hält, sodass man, wenn im Film die ersten rudimentären Dialoge gesprochen werden, schon nicht mehr Herr seiner Sinne ist. Diese Betäubung kommt im rechten Moment, denn bevor man überhaupt etwas mitbekommt, hat der Film bereits eine Reihe von Bildern an uns vorbeigeschleust, die aus anderen Filmen geklaut worden sind. Total Recall ist nämlich nicht nur ein Remake von Total Recall, sondern visuell auch eins von Blade Runner und Minority Report.

Das Remake ist kein Remake

Es könnte alles so einfach sein! Wir könnten jetzt einfach Schluss machen und festhalten, dass der vertraute Erfahrungsort Kino sich im Kauderwelsch des Neusprech aufgelöst hat und der Erfüllungsort aller Versprechen die Kasse ist, an der wir abgemolken werden.
Dummerweise war da aber ein Mann namens Philip K. Dick, der schon immer ein Subversiver gewesen ist, genauso wie die vermeintlichen Terroristen der Kolonie, die in Total Recall von einem Mann ohne Gedächtnis unterwandert werden sollen. 
Philip K. Dick hat eine Gemeinheit in der Geschichte platziert, die ein klein wenig an den oben erwähnten platonischen Zweifel an der Belehrung gemahnt. Da wird die Geschichte eines Mannes erzählt, der sein Gedächtnis löscht, um bei der Infiltration der Terroristen glaubwürdiger zu erscheinen, dann aber Botschaften aus der Vergangenheit erhält, die ihm bedeuten, dass er mal ein anderer war. Das kann nun wahrlich das Durchkreuzen einer Erwartung nennen!
Und die Erkenntnis, die unser Held im Zusammenspiel seiner Sinne und den Resten seiner Vernunft gewinnt, ist verblüffend: er will nichts mehr mit seinem Alter Ego zu tun haben, sondern in seinem neuen Erfahrungsraum bleiben. Da helfen keine Pillen und auch die Re-Implantation der alten Erinnerungen geht ordentlich in die Hose. Und der Zuschauer, der sich diese schon an sich recht interessante Begebenheit anschaut, wenn er denn zwischendurch aus der Betäubung aufwacht, weiß nicht einmal, ob sich dies alles wirklich so abspielt oder nur Teil einer Erinnerungsimplantation der Firma Rekall ist.

„Wenn ich nicht ich bin, dürfte ich dann erfahren, wer ich bin?" (Arnold Schwarzenegger)

Mist, solche Geschichten darf die Diversifikations-Industrie eigentlich nicht erzählen, denn damit erzählt sie auch eine Geschichte über sich und ihr eigenes Funktionieren. Denn eigentlich soll ja auch unser Gedächtnis gelöscht werden, damit wir das Alte vergessen und für das Neue empfänglich sind. Nur hat diese Industrie nie ernsthaft vorgehabt, uns die alten Erinnerungen wiederzugeben…
Offenbar hat sie ihr Dilemma auch erkannt. Doch was ist gegen den Sprengsatz von Philip K. Dick zu unternehmen? Nun, in unser menschlichen Kulturgeschichte hat man etwas Schönes erfunden, um die wahren Absichten zu verschleiern und dem Gläubigen trotzdem die Welt zu erklären. Den Mythos!
In der Diversifikations-Industrie heißt dies etwas anders: nämlich Extended Director’s Cut. Im vorliegenden Fall darf man, wenn man sich die Bluray des besagten Films kauft, eine zwölf Minuten längere Version des Films sehen, die verspricht, das Thema nun wirklich ganz ernst zu nehmen. Und tatsächlich sieht man dann einiges, was nachdenklicher stimmt, und das, was am nachdenklichsten stimmt, ist der Umstand, dass man einen Darsteller aus der Kinofassung entfernt hat, nämlich Ethan Hawke, der Im Extended Cut aus den herausgeschnittenen Filmschnipseln wieder zusammengesetzt wird und der Geschichte eine etwas andere Richtung gibt, was den Regisseur in den Stand versetzt, darüber zu reden, dass die Kinofassung halt einige Zugeständnisse machen musste, die der Beschränktheit des Publikums geschuldet sind.
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Erstaunlich: Die Diversifikations-Industrie hat früher immer Angst vor Komplikationen gehabt und alles aus Filmen entfernt, was zu sophisticated ist. Auch das ist ein Wortspiel, an dem Wittgenstein seine Freude gehabt hätte, denn sophisticated ist sowohl eine Eigenschaft der Sache selbst (developed to a high degree of complexity) als auch ihres Betrachters (aware of and able to interpret complex issues). Sollte es also stimmen, dass wir nichts sehen sollen, was zu sophisticated ist, dann hat die Diversifikations-Industrie sich einen Bärendienst erwiesen, denn in der Absicht, alles zu tun, um die Verpackung und den Inhalt ihres Produkt verheißungsvoller zu machen, hat sie leider in der Nachverwertung auch die Gebrauchsanweisung mitgeliefert, die uns aufzeigt, dass all dies doch nur eine Chimäre ist. Philip K. Dick würde sich darüber wohl so richtig freuen. Paul Verhoeven vermutlich auch.

Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) schreibt: „Wenngleich die Erzählung sehr stark auf überwältigende Effekte und ausgiebige Actionszenen setzt, liegen Ort und Zeit der Handlung soweit von der Alltagswelt Jugendlicher entfernt, dass es Zuschauern ab 12 Jahren leicht fällt, sich ausreichend von den Geschehnissen zu distanzieren. Zugleich ist von Beginn an klar, dass am Ende das Gute und damit auch der Protagonist triumphieren wird“ (http://www.spio.de/index.asp?SeitID=491&TID=70&fsknr=134131/K).
FSK ab 12 freigegeben, feiertagsfrei.
 
Der Filmclub wünscht allen Lesern Frohe Weihnachten.

Samstag, 22. Dezember 2012

Best of 2012

The Help" ist Jahressieger 2012

57 Filme wurden im letzten Jahr geprüft. Da die gemeinsamen Kinobesuche nur einen Bruchteil der Aktivitäten ausmachen und mindestens drei Bewertungen abgegeben werden müssen, um die Endauswertung zu erreichen, hatten bemerkenswerte Filme wie „Cloud Atlas“, „Prometheus“ und „Der kleine Hobbit“ leider keine Chance. Die Best of-Auswertung ist somit eher ein Ranking der besten Filme 2012 auf DVD und Bluray.


Klarer Jahressieger wurde Tate Taylors „The Help“. In der Halbjahreswertung lag er bereits auf Platz 1 und dort ist er auch geblieben. Damals fasste ich zusammen: „Der Südstaaten-Look mit seinen Heckflügel-Limousinen, den gewagten Frisuren der weißen Ladys und der allgegenwärtigen ‚netten’ Apartheid-Stimmung ist irgendwo zwischen „Grüne Tomaten“ und „Mad Men“ angesiedelt. Den subtilen Zynismus und die ausgefeilt zeitkritische Reflexionskraft der TV-Serie erreicht „The Help“ aber nicht ... „The Help“ ist ein gelungenes Rassismus-Drama zwischen Feel-Good-Movie und Melancholie. “
Platz 2 behauptete „War Horse“ (Die Gefährten)  (http://bigdocsfilmclub.blogspot.de/2012/03/war-horse-gefahrten.html) und auch Platz 3 änderte sich nicht: „Hotel Lux“ (http://bigdocsfilmclub.blogspot.de/2012/05/deutsche-komodien-hotel-lux.html) ist unserer Meinung nach die beste deutsche Komödie des Jahres.

Neu auf Platz 4 ist der im November 2011 angelaufene „Ziemlich beste Freunde“ (Intouchables), der von 9 Mio. deutschen Zuschauern gesehen wurde. Ein ehrlicher Film, irgendwo zwischen illusionslosem Realismus und glaubwürdigem Gefühl, aber ohne Sentimentalität und politisch völlig korrekt – so etwas kommt in der Regel bei uns gut an. Persönlich glaube ich nicht, dass ich den Film von Olivier Nakache und Éric Toledano irgendwann zu zweiten Mal sehen werde.

Das ist im Falle von Martin Scorseses „Hugo Cabret“ (Platz 5) (http://bigdocsfilmclub.blogspot.de/2012/09/bluray-review-hugo-cabret.html) mit Sicherheit anders, allein schon, weil der Film eine visuelle Augenweise ist. Abgesehen davon hat es mich etwas überrascht, dass Scorsese sich so souverän im Kömödienfach bewegen kann, aber Scorsese ist im Nebenberuf ein exzellenter Filmhistoriker und die Hommage an einen der größten Künstler des Stummfilms dürfte für ihn eine Herzensangelegenheit gewesen sein.

Auf Platz 6 lief sozusagen in letzter Minute „In Darkness“ ein, der bei der Oscarverleihung 2012 als Bester Fremdsprachiger Film nominiert war. Das Drama um einen polnischen Kanalarbeiter, der während der Nazi-Okkupation Polens einige jüdische Familien in der Kanalisation Lembergs versteckt, ist ein tiefschwarzes Stück Kino, das wenig mit Edel-Schmonzetten wie „Die Kinder von Paris“ oder subtilen Charakterdramen à la „Sarahs Schlüssel“ zu tun hat. Die deutsch-polnisch-kanadische Produktion trägt die Handschrift Agnieszka Hollands, die viele Drehbücher für Andrzej Wajda geschrieben hat und mit ihrem Film auch ein Stück polnischer Geschichte reflektiert.
Im Filmclub wurde gefragt, ob wir uns so etwas immer wieder ansehen müssen. Eine berechtigte Frage, nicht nur für erwachsene Zuschauer. Ich glaube, dass viele Jugendlich aufgrund fehlender Geschichtskenntnisse erst einmal erklärt bekommen müssen, dass die Deutschen vor über 70 Jahren unsere europäischen Nachbarn überfallen haben und den Holocaust auf dem Gewissen haben. Filme gegen das Vergessen zu drehen, ist zweifellos wichtig, dennoch erschrecken die Umfragen, die davon berichten, dass 20-30% der Deutschen immer noch tief verwurzelte anti-semitische Überzeugungen besitzen. Unsinnig ist allerdings die Vermutung, dies dem Kino anlasten zu müssen.

Platz 7 erreichte „Contagion“, Steven Soderberghs Pandemie-Thriller, der in den USA leider floppte. Gemessen an dem, was seither von Soderbergh zu sehen war, muss man dem Film nach wie vor eine herausragende Qualität bescheinigen.
Auf Platz 8 lief „Warrior“ ein, der zu den Filmen gehörten, die man sich häufiger ansehen wird – für mich ein klares Alleinstellungsmerkmal. „Warrior“ hat Kultstatus erreicht und wird, auch für jene interessant, die Tom Hardy erst im dritten Teil der Batman-Trilogie von Christopher Nolan entdeckt haben.

Platz 9: „The Artist“ von Michel Hazanavicius hatte sich schnell bei uns auf einem vorderen Platz festgesetzt, aber ich befürchte, dass der Film nur eine kurze Halbwertszeit hat. Immerhin ist er ebenfalls eine Hommage an das alte Stummfilm-Kino, aber mich persönlich beschleicht das Gefühl, dass er zu jener Sorte von Kinofilmen gehört, die man einmal sieht – und das war’s dann auch.

Auf Platz 10 taucht der erste Film auf, der aktuell im Kino gesehen worden ist und bereits auf DVD und Bluray vorliegt: "The Dark Knight Rises". Hier habe ich eine längere Kritik geschrieben (http://bigdocsfilmclub.blogspot.de/2012/07/the-dark-knight-rises.html), aber auch nach der Sichtung der Bluray habe ich am Gesamturteil wenig zu ändern: Es ist unmöglich, den Film zu bewerten, ohne Vergleiche zu seinen Vorgängern zu ziehen. Und auch beim dritten Mal sah ich meinen ersten Eindruck bestätigt: Nolans dritter Teil der Batman-Trilogie ist kein Reinfall, aber die magischen Momente, die „The Dark Knight“ auszeichneten, hat das große Batman-Finale nicht.

Platz 11: Confessions“ (2010) von Tetsuya Nakashima habe ich ausführlich im Halbjahres-Rückblick besprochen: „Der Film ist hierzulande offenbar so unbekannt, dass er der deutschsprachigen Wikipedia nicht einmal eine kurze Erwähnung wert gewesen ist.“ Daran hat sich nichts geändert, aber in der englischsprachigen Version der Wikipedia kann man sich ausführlich informieren. Für mich immer noch einer der besten Filme der letzten Jahre.

Platz 12: Woody Allens „Midnight in Paris“ verstärkt die Dominanz der Komödien in unseren Top Twenty. Man hat gelegentlich den Eindruck, dass zu wenig Komödien geschaut werden, aber am Ende staunt man darüber, wie viele im Jahres-Ranking landen. Woody Allen macht regelmäßig gute Filme, aber überragende Perlen sind nicht mehr dabei. Aber das ist Jammern auf hohem Niveau, denn „Midnight in Paris“ ist ein ziemlich guter Film.

überzeugt auf Platz 13 als Film, aber auch als DVD-Release wegen des ausgezeichneten Bonus-Materials. Wie so oft, verdankt auch dieser Film seinen Zuspruch im Club dem Umstand, dass authentische Geschehnisse erzählt werden. Man darf sich fragen, ob der Film weniger wert wäre, wenn es sich um ein rein fiktionales Sujet handeln würde. Aber ich werte derartige Präferenzen als Plädoyer für den filmischen Realismus und die Geschichte der norwegischen Besserungsanstalt Anfang des 20. Jh. geht ja, wenn man ehrlich ist, tatsächlich so unter die Haut, weil man weiß, dass dies eben keine ‚erfundene Geschichte’ ist.

Noch eine Komödie: „The Best Exotic Marigold Hotel“ von John Madden landete auf Platz 14. Weltweit entpuppte sich die neo-koloniale Komödie über Rentner, die ihr Glück in Indien suchen, als Kassenknaller. Eigentlich wollte ich eine Kritik schreiben, brach dann nach wenigen Zeilen ab, weil mir der Film dann doch zu flach war. Auch weil in Indien offenbar recht durchschnittliche Europäer den Einheimischen erst mal zeigen müssen, wie man ein Geschäft führt. Nun ist dieser Film bei den Golden Globe Awards im Gespräch, was mich offen gestanden umhaut.

Platz 15 und 16: „Crazy, Stupid, Love“ (http://bigdocsfilmclub.blogspot.de/2012/02/bluray-review-crazy-stupid-love.html) und „Skyfall“ (http://bigdocsfilmclub.blogspot.de/2012/11/skyfall.html) sind mehr oder weniger ausführlich besprochen worden.

Kriegerin“ (Platz 17) von David F. Wnendt ist ein Film, der sich in einem fast dokumentarischen Stil mit der ostdeutschen Neo-Nazi-Szene beschäftigt und die Erwartungen des liberalen Kinogängers nicht durchkreuzt und von anderen sowieso nicht angeschaut wird. Wnendts Film muss mit einigem Leerlauf kämpfen, überzeugt aber dank einer überragenden Hauptdarstellerin (Alina Levshin). Einen analytischen Beitrag zu dem Thema liefert der Film nicht, eine atmosphärische Studie ist er allemal.

Erwähnenswerter ist auf jeden Fall Wes Andersons „Moonrise Kingdom“, der für mich einer der besten Filme des Jahres 2012 gewesen ist und eigentlich auch einen besseren Platz als Nr. 18 verdient hätte. Aber geschenkt, Andersons skurriler Humor ist manchmal gewöhnungsbedürftig. Der Eröffnungsfilm in Cannes 2012 ist eine etwas schrullige Kinderkomödie, gespickt mit Stars wie Bruce Willes, Edward Norton, Bill Murray, Frances McDormand, Tilda Swinton und Harvey Keitel. Aber das ist nur die Oberfläche: in Wirklichkeit erzählt Andersen einen Film über die wahre Liebe, und man bekommt den Eindruck, dass nur Kinder wirklich dazu fähig sind. In „Der phantastische Mr. Fox“ hat Andersen einen Kinderfilm ziemlich ‚erwachsen’ erzählt, nun erzählt er eine Geschichte aus kindlicher Perspektive, aber am Ende ist ist „Moonrise Kingdom“ auch ein sehr trauriger Film. Mit derartig unklaren Zuordnungen kommen einige Zeitgenossen nicht klar und Anderson wird daher ein genialer Außenseiter bleiben. Wie die meisten seiner Hautfiguren.

Platz 19: „J. Edgar“ von Clint Eastwood wurde besprochen (http://bigdocsfilmclub.blogspot.de/2012/01/j-edgar.html), über „Margin Call“ auf Platz 20 muss allerdings noch einiges nachgeholt werden, weil der Film auch brandaktuell bleibt.
Die letzten 24 Stunden vor dem Urknall: härter und unsentimentaler als „Inside Men“ führt J.C. Chandor die Mechanismen vor, die 2007 zur US-Immobilienkrise geführt haben. Der Thriller demonstriert vielmehr die kriminelle Entschlossenheit, mit der eine Investmentbank in der langen Nacht vor dem großen Crash versucht, ihre faulen Hypothekenpapier abzustoßen. Hier diente offensichtlich die Geschichte der Lehmann-Brothers als Vorbild. Der mit Jeremy Irons, Kevin Spacey und Paul Bettany exzellent besetzte Film führt dem Zuschauer eine messerscharfe, aber nicht immer mitreißende Milieustudie aus der Welt der Broker und Trader vor, die anders als Oliver Stones „Wall Street II“ nicht auf charismatische Bösewichter setzt: Die Gurus der Finanzwelt in „Margin Call“ sind monströs und empathiefrei, aber anders als die großen Kinogangster arbeiten sie nicht mit Maschinenpistolen, sondern mit schnellen Computern.

Die schlechtesten Filme 2012

Die „Gelbe Banane“ oder so ähnlich – Preise für die schlechtesten Filme, Regisseure und Darsteller haben komische Namen. Nicht selten werden Jahrhundertwerke auf diese Weise verunglimpft, wie zum Beispiel „Heaven’s Gate“ von Michael Cimino. Bei uns dagegen kommen nur wirklich schlechte Filme auf den Index. Die Regisseure werden nur in wenigen Fällen genannt, man will ja höflich bleiben...

Platz 1 erreichte mit der Gesamtnote 6 „Die Relativitätstheorie der Liebe“. Und noch schlimmer: wir haben nach einer Viertelstunde abgeschaltet, weil es nicht auszuhalten war.
Auf Platz 2 und 3 landeten zwei Anti-Terrorfilme: „Four Lions“ von Chris Morris will irgendwie lustig sein, fand aber nur deswegen Beachtung, weil er in Deutschland fast zensiert worden wäre. „Cleanskin“ mit Sean Bean in der Hauptrolle geriet aus meiner Sicht zu Unrecht unter die Räder. Der Film ist auf jeden Fall ein straightes B-Movie.
„Die Tribute von Panem“ erreichte Platz 4 eine Note von 4,1 und da muss schon einiges zusammenkommen, um bei uns so durchzufallen. Die Gründe habe ich ausgeführt: http://bigdocsfilmclub.blogspot.de/2012/09/die-tribute-von-panem-hunger-games.html
Kaum anzusehen war auch Steven Soderberghs enttäuschender „Haywire“ (Note 4), während Joe Carnahans „The Grey“ von mir eine 2,5 bekam, dafür aber von anderen Notengebern in den Abgrund gerissen wurde.

Close but no Cigar

Die Meinungen gehen immer auseinander, aber manchmal sind formale Gründe für eine Nicht-Nominierung verantwortlich. „Bester Film des Jahres“ ist vermutlich „Cloud Atlas“, über den ich eine wieder einmal monströs lange Kritik geschrieben habe (http://bigdocsfilmclub.blogspot.de/2012/12/cloud-atlas.html). Von zwei Mitgliedern erhielt er eine fette 1 als Note. Unschlagbar.

Prometheus“ von Ridley Scott musste das gleiche Schicksal erleiden: 2x eine 2, aber leider fehlte die dritte Note, sonst hätte es zum geteilten 5. Platz gereicht.

Ein besonders krasser Fall war Álex de la Iglesias „Mad Circus“ (http://bigdocsfilmclub.blogspot.de/2012/10/mad-circus-eine-ballade-von-liebe-und.html), der für mich (Note 1) einer des besten Filme der letzten zehn Jahre ist, aber mit einer 2 und einer 5 dann knapp aus den Top Twenty flog. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass eine Debatte über einen Film jemals so lautstark und wütend geführt wurde.
Ebenfalls knapp gescheitert ist übrigens „Dame, König, As, Spion“ (http://bigdocsfilmclub.blogspot.de/2012/08/bluray-review-dame-konig-as-spion.html), den leider nur zwei Mitglieder gesehen haben (Note: 2,5) und aus den gleichen Gründen David Cronenbergs exzellenter Psychothriller „A Dangerous Method“ (Note: 2).

Auf jeden Fall war es wieder einmal ein spannendes Kinojahr. 2013 wird sicher nicht weniger aufregend, alle sind schon auf den neuen Film von Quentin Tarantino gespannt. Ich freue mich auch auf das neue Meisterwerk von Michael Haneke, und so hat jeder seiner Hoffnungen und Wünsche. Schauen wir mal, was Ende dabei herauskommt.

Mittwoch, 12. Dezember 2012

Bluray-Review: Prometheus - Dunkle Zeichen



Der Film wurde bereits ausführlich von mir besprochen: http://bigdocsfilmclub.blogspot.de/2012/08/prometheus-dunkle-zeichen.html
Die vorliegende Bluray hat wie erwartet einige neue Erkenntnisse vermittelt. So muss ich zunächst einige Fehler in meiner Rezension ausbügeln.

  •  „Das Team entdeckt nicht nur eine riesige humanoide Gesichtsskulptur, die an den Konstrukteur aus der Pre-Title-Sequence erinnert, sondern später auch eine Abbildung, die den berüchtigten Xenomorph darstellt, jenes tödliche Alien, das später die „Nostromo“ verwüsten wird.“

Das ist leider falsch, ich konnte derartige Artefakte oder ähnliches nicht entdecken. Was ich wohl gesehen habe, was eine Wandskulptur, die große Ähnlichkeiten mit dem Giger-Style von „Alien“ aufweist, aber ein Motiv ist nicht zu sehen.
Nachtrag: kaum hatte ich diese Rezension eingestellt, musst ich feststellen, dass der rührige Brad Brevet doch den Xenomorph im Film entdeckt hat und dies auch mit einem Foto belegt: http://www.ropeofsilicon.com/what-is-going-on-in-prometheus-a-universe-of-questions-answers-and-theories/6/
Oupps - was denn nun? Möge sich jeder ein Bild machen, aber falls es ein Xenomorph ist, dann ist die Frage berechtigt, warum die Konstrukteure ausgerechnet von diesem Monster eine Skulptur hergestellt haben und nicht von uns?

Man kann es drehen und wenden, wie man will: wir erfahren natürlich in einer filmischen Fiktion keine Tatsachen, keine Wahrheiten über die Entstehung unserer Spezies oder den tieferen Sinn unseres Seins - bestenfalls intelligente Konzepte und durchdachte Rätsel.
Also nicht in die Akte X-Falle laufen und alles deuten, als wäre es real life!

Zur These, dass „Prometheus“ ein „völlig schlüssiges Alien-Prequel“ ist, habe ich geschrieben:

  •   „…und selbstverständlich gibt es auch die „Facehugger“ und „Chestburster“, jene monströsen Viecher, die sich unterschiedlicher Wirtskörper bedienen, um das Alien zu gebären.“

Leider gibt es keine ‚richtigen‘ Facehugger, aber Kreaturen, die oral in die Wirtskörper eindringen (wie Aale durch den Mund!) – das ist schon ein Unterschied. Der Hinweis auf die Chestburster war allerdings richtig, was der Epilog deutlich zeigt, zumal dort auch ein Alien ‚geboren‘ wird, das entfernt an das Alien aus den älteren Filmen erinnert.
Zur handwerklich-stilistischen Qualität des Films habe ich festgestellt:

  •  „Scott gelingt es trotz der enigmatischen Plotstruktur tatsächlich, die Figurenzeichnung einigermaßen im Griff zu behalten und die Charaktere so auszuarbeiten, dass sie mehr sind als Stichwortgeber in einem ruhelosen Actionspektakel, aber eine emotionale Bindung des Zuschauers an das Motivgemenge will dennoch nicht recht gelingen. Vielleicht liegt dies auch an den 25 Minuten, die Scott für die immer noch über zwei Stunden lange Kinofassung herausgeschnitten hat. Ein Director’s Cut ist nicht vorgesehen, aber was heißt das schon?“

Hier ist tatsächlich nichts zu ändern. Im Gegenteil: auf der Bluray findet man fast 30 Minuten herausgeschnittenes Material (in HiDef-Qualität und deutsch untertitelt). Einige Szenen sind wie üblich entbehrlich, andere wären geradezu umwerfend gewesen. Zum einen, weil sie wichtige Figuren verständlicher und pointierter herausarbeiten, z.B. die Beziehung zwischen Vickers und Janek oder die zwischen Vickers und ihrem Vater. Aber auch die zwischen Shaw und ihrem Freund, die nun doch etwas weniger romantisch ausfällt.
Zum anderen, und das ist wohl noch wichtiger, hat Scott die Szene, in der es zur Begegnung mit dem überlebenden Konstrukteur kommt, drastisch zusammengeschnitten. In dieser Szene kommt es zu einem Dialog zwischen Peter Weyland und dem Konstrukteur, der zwar nicht restlos alle Rätsel aufklärt, aber entscheidend zum Verständnis des Plots beigetragen hätte.
Von der Schnittversion der Kinofassung waren dann auch weitere Szenen beeinflusst, die konsequenterweise auch gekürzt werden mussten und immerhin einiges zur Herkunft der Konstrukteure zu sagen gehabt hätten. Stichwort: „Paradies“. Das hat dann auch sehr viel mit dem von mir erwähnten Scott-Zitat über die „Dark Angels“ zu tun. Hier hat sich das Bonus-Material also wirklich gelohnt!

Und die Gründe? Cutter Pietro Scalia hat in seinen Kommentaren zu den Deleted Scenes deutlich gemacht, dass in fast jedem der geschilderten Fälle das ‚Geheimnis‘ wichtiger war als der Zufluss an Informationen. Mit anderen Worten: man strich den sprechenden Konstrukteur, weil der schweigende einfach mysteriöser war.
Diese Gründe dürften aber nicht dafür verantwortlich gewesen sein, dass auch eine längere Kampfszene zwischen Shaw und dem Konstrukteur der Schere zum Opfer fiel. Auch diese Szene hätte dem Film gut getan, denn in der Kinoversion taucht der Konstrukteur nach der Zerstörung seines Mutterschiffs einfach zu abrupt auf.
 

Last but not least bleibt das Fazit: „Prometheus“ hat einen Director’s Cut verdient.

In punkto Bildqualität macht es wenig Sinn, hier technische Einzelheiten aufzuzählen. „Prometheus“ ist rundum brillant, auch dort, wo die etwas dunklen Szenen in der geheimnisvollen Pyramide nicht gerade das sind, was nach Tiefenschärfe verlangt.Es fällt mir schwer, einen Grund zu finden, der gegen das Urteil "Referenzqualität" spricht.

Fazit: diese Bluray verdient eine glatte Eins.

Dienstag, 11. Dezember 2012

Cloud Atlas


USA / Deutschland 2011 - Regie: Lana und Andy Wachowski, Tom Tykwer - Darsteller: Tom Hanks, Halle Berry, Jim Broadbent, Hugo Weaving, Jim Sturgess, Doona Bae, Ben Whishaw, Zhou Xun, Susan Sarandon, Hugh Grant - FSK: ab 12 - Länge: 172 min.

Wenn das letzte Kapitel von „Cloud Atlas“ erzählt wird, befinden wir uns nicht mehr auf der Erde. Am Himmel stehen ein fremder Mond und ein großer Nachbarplanet, aber am Lagerfeuer sitzen einige Kinder und ein Opa, der wie Tom Hanks aussieht und der den Kleinen seine alten Geschichten erzählt. Irgendwo, einige Lichtjahre entfernt, glitzert ein kleiner blauer Punkt, auf den der Alte mit dem Finger deutet: da ist die Erde, da kommen wir her.

"Was aber ist ein Ocean anderes als eine Vielzahl von Tropfen?" (David Mitchell aka. Adam Ewing)

Wir haben es also geschafft: der Planet ist ruiniert, wir müssen unsere Zelte woanders aufschlagen.
Wie es dazu kommen konnte und kommen wird, erzählen uns Andy und Lana Wachowski und Tom Tykwer mit der nicht für verfilmbar gehaltenen Adaption des verschachtelten Romans „Cloud Atlas“ von David Mitchell. Dass und wie wir unsere Zivilisation vor die Wand fahren, ist im Buch und im Film eine überwiegend deprimierende Geschichte, in der sich alles, was gut und schlecht ist im Menschen, quer durch die Jahrhunderte wiederholt: Gier, Macht und Unterdrückung einerseits, andererseits aber immer wieder Individuen (oder besser gesagt: Helden?), die sich gegen Tyrannei, Rassismus, Dummheit oder das Böse schlechthin auflehnen. In dem sich über fünf Jahrhunderten erstreckenden Epos sind sie dabei durch unsichtbare, aber auch sehr greifbar- und hörbare Bande miteinander verbunden. Jede Entscheidung, jede Handlung, auch die kleinste, hat Folgen für das Ganze und möglicherweise wandern auch unsere Seele von Körper zu Körper und müssen immer wieder nach einer Antwort auf die allertiefsten Fragen suchen.
So könnte man „Cloud Atlas“ in etwa zusammenfassen.
Seelenwanderung, Spiritualität, Mystik, esoterischer Humbug? Oder schlichtweg größenwahnsinniges Kino, das philosophische Binsenweisheiten als Tiefsinn verkaufen will und sich durch die Geschichte nach dem Prinzip eines moralischen „Butterfly Effect“ (Richard Brody, The New Yorker) zappt? Hängt alles miteinander zusammen und kann der kleinste Tropfen im Meer entscheidend dafür sein, was in ferner Zukunft geschieht?

Wer Castaneda gelesen hat und die Chaostheorie mag, wird mit Sicherheit einen Zugang zu „Cloud Atlas“ erhalten: Historie und Selbsterkenntnis als großes Mirakel, kleine Ursache - große Wirkung. Der hartgesottene und naturalistisch geschulte Cineast wird sich auf die ideologie- und zivilisationskritischen Aspekte von Buch und Film stürzen und höhnisch anmerken, dass Hegels Weltgeist im Buch kräftig auf die Schnauze fällt, im Film allerdings etwas besser davonkommt.
So war das schon bei der Matrix-Trilogie der Wachowskis: für jeden ist etwas dabei, für Nerds und Cyberpunks, aber auch für den belesenen Bildungsbürger, der lieber zu ganz anderen Schlüssen kommt.
Was für mich feststeht: „Cloud Atlas“ ist grandioses emotionales Kino mit großartigen Bildern. Eine cineastische Reise, die über fünf Jahrhunderte umspannt, enorm viel Spaß beim Zuschauen macht und dabei kaum weniger ehrgeizig ist als die Deutung des Matrix-Universums. Dieses hat allerdings ein Puzzle zur Deutung vorgelegt, das deutlich intellektueller und komplizierter war und (sieht man vom ersten Teil ab) bei der Kritik ebenfalls unter die Räder kam. Auch in der wirklichen Wirklichkeit wiederholt sich scheinbar alles.

Sprünge durch Zeit und Raum – und durch die Genres!

Non-linear wurde die Erzählweise von „Cloud Atlas“ bezeichnet. Das hört sich schlimmer an als es ist, ein Film wie Mr. Nobody" von Jaco Van Dormael (2010) ist da wesentlich komplexer. Ich räume aber ein, dass es von Vorteil ist, David Mitchells Buch zu kennen, bevor man sich Cloud Atlas" ansieht.
Die Episoden werden in
Cloud Atlas" chronologisch erzählt, enthalten allerdings Rückblenden und Rahmenhandlungen. Achronologisch ist dagegen die Montage und das 'Springen' zwischen den Episoden. Dies erfolgt eben nicht linear, sondern entspricht eher den Prinzipien einer modernen Version der Eisensteinschen Assoziationsmontage: Assoziationsmontage basiert auf der elementaren Fähigkeit des Menschen, aus signifikativen Bruchstücken höhere Einheiten des Denkens zu synthetisieren: Fügt man Einstellungen aneinander, die keine Handlung gemein haben, keinen gemeinsamen Raum, keine Ähnlichkeit, stellt sich doch der Eindruck eines Zusammenhangs her. Dabei treffen u.U. Bedeutungen aufeinander, die – in Eisensteins Metapher – miteinander kollidieren und dabei Bedeutungsimpulse freisetzen, die zu einem Dritten, Nichtgezeigten voranschreiten" (Lexikon der Filmbegriffe: http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=4585). 

Non-lineares Kino ist nichts Neues: bereits 1941 hat Orson Welles in
Citizen Kane" eine Geschichte multi-perspektivisch und non-linear erzählt. Der Film floppte, das Publikum verfluchte den Regisseur. Zehn Jahre später gehörten Welles' Erfindungen zum 'normalen' Bestand einer Kinoerzählung, selbst Kinder verstanden auf Anhieb Rückblenden und Citizen Kane" gilt heute als einer der besten Filme der Filmgeschichte, weil der die moderne Grammatik des Films definierte.

„Cloud Atlas“ erzählt (wie das Buch) sechs Geschichten, wobei die letzte Episode gleichzeitig die Rahmenhandlung bildet:
·      „The Pacific Journal of Adam Ewing“ (Das Pazifiktagebuch des Adam Ewing),
·      „Letters from Zedelghem“ (Briefe aus Zedelghem“),
·      „Half Lives: The First Luisa Rey Mystery“ (Halbwertszeiten – Luisa Reys erster Fall),
·      "The Ghastly Ordeal of Timothy Cavendish" (Das grausige Martyrium des Timothy Cavendish),
·      An Orison of Sonmi~451" (Somnis Oratio)
·      Sloosha's Crossin' an' Ev'rythin' After" (Sloosha’s Crossin’ un wies weiterging).

David Mitchells „Wolkenatlas“ weist im Gegensatz zum Film eine klare Struktur auf, allerdings wird zunächst 'Vorwärts', dann 'rückwärts' erzählt:
·      1) Das Pazifiktagebuch des Adam Ewing
·      2) Briefe aus Zedelghem
·      3) Halbwertszeiten – Luisa Reys erster Fall
·      4) Das grausige Martyrium des Timothy Cavendish
·      5) Somnis Oratio
·      6) Sloosha’s Crossin’ un wies weiterging
·      5) Somnis Oratio
·      4) Das grausige Martyrium des Timothy Cavendish
·      3) Halbwertszeiten – Luisa Reys erster Fall
·      2) Briefe aus Zedelghem
·      1) Das Pazifiktagebuch des Adam Ewing

Die Wachowskis und Tom Tykwer haben in ihrer Adaption (die Karteikarten-Montage hat bereits anekdotischen Wert) das Pferd also etwas anders aufgezäumt. Der sequentielle Rhythmus im Film ist ein anderer, besonders am Anfang springt die Erzählung sehr schnell durch die Geschichten, um das Personal zu etablieren, aber später folgt „Cloud Atlas“ eher  assoziativen und an zentralen thematischen Motiven orientierten Verbindungen. Während das Buch den einzelnen Geschichten einen größeren zusammenhängenden Erzählraum verschafft, montiert der Film alles etwas durchlässiger: an den Schnittstellen und Übergängen werden die gemeinsamen Elemente der jeweiligen Geschichten deutlich.

Themen und Verknüpfungen in "Cloud Atlas"

  • Trotzdem oder gerade deswegen gewöhnt man sich relativ schnell an die Protagonisten: 1850, Pazifik: der Anwalt Adam Ewing wird während der Rückreise von einer neuseeländischen Inselgruppe von seinem Begleiter, einem Arzt, aus Habgier vergiftet. Ein zunächst als blinder Passagier mitreisender Eingeborener rettet ihm das Leben. Ewing, der anfänglich die Eingeborenen als "Thiere" bezeichnet, wird zu einem Gegner der Sklaverei.
    Verknüpfung: Tagebuch. Genre/Sujet: Buch = Tagebuch, Film = Abenteuerfilm / Seereise.
  • 1931, Großbritannien: Der schwule Komponist Robert Frobisher (sein Liebhaber ist Rufus Sixsmith) wird Assistent eines weltberühmten Komponisten und heimlicher Liebhaber von dessen Frau. Als der Komponist Frobishers eigenständiges Werk, das "Wolkenatlas-Sextett", für sich beansprucht und den Homosexuellen erpresst, begeht Frobisher Selbstmord.
    Verknüpfung: eine Hälfte von Ewings Tagebuch, das Sextett, Frobishers Briefe. Genre/Sujet: Buch = Briefroman (klassische Erzählform des 17. und 18. Jh.), Film = Melodrama. Kulturelle Codierung: Frobisher benennt ein eigenes Werk nach Nietzsches Theorie der "Ewigen Wiederkunft".
  • 1975, USA: die Journalistin Luisa Rey kommt einer Intrige auf die Spur - internationale Erdöl-Multis planen den Super-Gau eines Atomkraftwerkes, um die Konkurrenz loszuwerden. Rufus Sixsmith, mittlerweile Wissenschaftler, macht Luisa Rey auf die Enthüllungsstory aufmerksam, zudem bekommt die Journalistin Frobishers Briefe in die Hände und entdeckt eine Platte mit dem "Wolkenatlas-Sextett". Sixsmith wird zwar ermordet, Rey kann aber die Handlanger und Killer der Erdöl-Multis entlarven.
    Verknüpfung: Frobishers Briefe, die Schallplatte mit Frobishers "Wolkenatlas"-Sextett und das Buch, dass der kleine Freund von Luisa als Erwachsener über sie schreiben wird: "Halbwertszeiten - Luisa Reys erster Fall". Genre: Buch = Hard-boiled Krimi (à la Mickey Spillane), Film = Paranoia Thriller.

Wir sehen: es sind nicht nur Themen und Figuren, sondern auch Medien, die historische Schnittstellen bilden und die Menschen miteinander verbinden. Bücher, Schallplatten, Filme – alles hängt miteinander zusammen. Wem das bereits als esoterische Mysterymüll erscheint, der sei daran erinnert, dass das preisgekrönte Holocaust-Drama „Sarahs Schlüssel“ (F, 2010) auf ähnliche Weise erzählt wird.
Doch wohin führt dies?
  • Fast vier Jahrzehnte später, nämlich 2012, wird der Verleger Timothy Cavendish als Opfer einer Racheaktion seines Bruders in einem Altenheim eingesperrt, dass sich als makabrer Rentnerknast entpuppt. Nach der erfolgreichen Flucht wird er seine Jugendliebe zurückerobern und das Buch „Halbwertszeiten. Luisa Reys erster Fall“ verlegen.
    Verknüpfung: das Buch "Halbwertszeiten. Luisa Reys erster Fall", ein Kinofilm über seine Abenteuer (sieht man im nächsten Kapitel), Genre: Buch = Memoiren/Ich-Erzählung, Film = Komödie.
  • Dann ein Sprung: Im Jahre 2144 befinden wir uns im koreanischen Neo-Seoul, wo der weibliche Klon Sonmi~451 heimlich einen stark fragmentierten Film über die Abenteuer von Cavendish sieht. In einer pseudo-religiösen kapitalistischen Zukunftsgesellschaft gibt es wieder Sklaven (wie in Ewings Epoche), diesmal sind es in Bruttanks gezüchtete Klone, die mit Amnesie-Drogen künstlich dumm gehalten werden. Sonmi-451 wird von dem Mitglied einer Widerstandsbewegung befreit und entdeckt, dass Klone an ihresgleichen verfüttert werden (entsprechend dem Kannibalismus der letzten Episode). Vor ihrer Hinrichtung kann sie in einer weltweit übertragenen Ansprache ihr humanistisches Programm verbreiten. In einer Rahmenhandlung wird sie kurz vor ihrem Tod von einem Historiker des Regimes verhört.
    Verknüpfung: der Kinofilm über die Abenteuer des Timothy Cavendish, schriftliche Fragmente ihrer Ansprache. Genre: Buch = Protokoll, Film = Science Fiction (Subgenre: Replikanten-Drama à la "Blade Runner"), kulturelle Codierung: Platons "Höhlengleichnis".
  • Noch ein gewaltiger Sprung, 2346, Hawaii: in einer fernen Zukunft hat sich die Menschheit nach einem weltweiten Krieg fast vollständig ausgelöscht, die Strahlenbelastung ist enorm. Der Ziegenhirt Zachary lebt mit seiner Sippe in einem Tal der Insel, ständig bedroht durch eine Horde Kannibalen. Die "Prescients" sind die Nachkommen der untergegangenen Hochkultur: sie suchen nach einer Verbindung zu den menschlichen Kolonien auf anderen Planeten. Zachary überwindet seine atavistischen Ängste, hilft den Prescients und verlässt mit wenigen Überlebenden in einem Raumschiff den sterbenden Planeten. Am Ende sitzt er mit seinen Enkel am Lagerfeuer und erzählt seine Geschichte - Lichtjahre entfernt von der Erde.
    Verknüpfung: Fragmente der Ansprache von Sonmi-451, die längst nicht mehr verstanden werden, Sonmi wird stattdessen als Göttin verehrt. Genre: Buch = Roman/Neusprech à la Orwell (
    das "Clever des Alten" = Technologie), innerer Monolog, Film = Science Fiction / Subgenre: dystopische Post-Apokalypse à la "Mad Max".

Eine Evolutionsgeschichte?

Während Mitchells Roman also einem klaren Schema folgt, springen Tykwer und die Wachowskis elegant durch die verschiedenen Jahrhunderte und verbinden die einzelnen Geschichten mit einem rhythmischen Duktus, der vieles thematisch verknüpft, dann aber auch den Regeln von Tempo und Entschleunigung gehorcht. Man hat das Gefühl, als sei David Lean in der Post-Moderne angekommen: Helden und Bösewichter, ein großer epischer Atem, aber alles halt nicht kontinuierlich erzählt, sondern scheinbar rätselhaft miteinander verwoben, dass man beim ersten Mal das Gefühl hat, den Film gleich noch mal anschauen zu sollen.

Das wichtigste Bindeglied sind, und das ist einer von zwei großen Unterschieden zu Mitchells Roman, die Darsteller: Tom Hanks spielt in 1849 den mörderischen Arzt Dr. Henry Goose und verwandelt sich am Ende in den schlichten Ziegenhirt Zachary, dessen Taten dann dabei helfen, die Reste der Menschheit zu retten. Auch in den anderen Episoden hat Hanks einen Auftritt.
Halle Berry entwickelt sich von einer Maori-Frau zu Meronym, einer Vertreterin der „Prescients“, die im 24. Jh. noch Teile der untergegangenen Technologien beherrschen. Auch sie ist in allen Episoden zu sehen, ebenso Jim Sturgess, der den Adam Ewing spielt. Nur der großartige Jim Broadbent, der seine Kollegen streckenweise an die Wand spielt, fehlt in einer Episode.
Nicht immer kann man erkennen, wer da wen spielt, aber auch die maskenbildnerischen Tricks werden im Abspann aufgeklärt und das macht zwar Spaß, aber so wichtig ist das eigentlich nicht.

Die Mehrfachbesetzung der Rollen (besonders bei den Hanks-Figuren) suggeriert, dass etwas Evolutionäres die Figuren verbindet, die sich scheinbar in Richtung größerer moralischer Integrität weiterentwickeln. Konterkariert wird dies allerdings durch die statische Besetzung der ‚Bösewichter’: hier vertreten der Matrix-Schurke Hugo Weaving und ausgerechnet Hugh Grant durchgehend das negative Prinzip, das mit einer fast schon mythologischen Penetranz immer wieder das ‚Gute’ konterkariert. Das lernt man schnell in „Cloud Atlas“: das Böse ist immer da und es folgt offenbar immer dem gleichen Antrieb - mehr Geld, mehr Macht, aber auch die Sucht nach einer gesellschaftlichen Ordnung, die ihre Stabilität mit Repression und Unfreiheit verteidigt. Gleich mehrmals verteidigen die Herrschenden in „Cloud Atlas“ ihre Ordnung als gott- oder zumindest naturgewollt.
Wer nun im Einzelnen welche Geschichten erzählt hat, ist vielleicht nicht so wichtig, aber es scheint so, als hätten Lana und Larry Wachowski die beiden Sci-Fi-Episoden und die Geschichte des Adam Ewing gedreht, während Tom Tykwer die Realisierung des Mittelteils (1936, 1973 und 2012) übernommen hat.[1]

Wesentlich interessanter ist da schon mein Eindruck, dass besonders von Lana Wachowski eindeutige Interpretationsangebote gemacht wurden: „Dein Menschsein überschreitet Zeit und Raum, deinen Stamm, deine Spezies. Es gibt eine Verbindung zwischen der Baumwollplantage des 19. Jahrhunderts und der Fabrik, in der heute die Wattepads hergestellt werden, eine Verbindung zwischen denen, die unterdrückt sind, und zwischen den Weavings und Hugh Grants dieser Welt“.
Gut, das ist etwas trivial, aber unwahr wird es dadurch nicht. Nur: welche Verbindungen sind dies denn nun? 
So richtig führt in „Cloud Atlas“ kein eindeutiger Weg aus dem Labyrinth. Manchmal wabert Unklares durch den Film, dann wieder treffen einige Kalenderweisheiten in den Dialogen offenbar den Nerv genau dort, wo es weh tut.
Historiker und Soziologen werden sich mit Grausen abwenden, spirituell und kinohistorisch geerdete Cineasten dagegen äußern sich in Filmforen voller Hingabe, während andere mit wahren Schimpfkanonaden über den langweiligen", misslungenen" und „schlechtesten Film aller Zeiten" herfallen, nur um im Gegenzug als Dummköpfe und Bildungsbanausen niedergemacht zu werden.
„Cloud Atlas“ ist als Zeitgeistfilm großartig und banal, voller Fantasie und esoterischer Weisheiten, er polarisiert und spaltet, und doch werden Erwartungen eher erfüllt als unterlaufen. Und es überrascht dann auch nicht, dass ein Großteil der Kritiker ziemlich genervt und streckenweise gehässig auf die Mischung aus Blockbuster und mehrdeutig schillernder Metaphysik reagierte.

Dabei gelingt „Coud Atlas“ zumindest etwas, was man durchaus spüren kann, wenn man es denn will: der Film erinnert an die eigenen, frühen Filmerfahrungen. Und die waren sehr stark mit etwas verbunden, was man später (auch im Kino) sehr schnell verlernen kann: dem Staunen!
Das Gefühl, auf magische Weise von etwas berührt zu werden, was sich nicht augenblicklich wie die Montageanleitung eines Billy-Regals erschließen lässt, hat hoffentlich jeder auf andere Weise im Kino erlebt: egal, ob in Kubricks „2001 - A Space Odyssee“ oder in John Fords „The Searchers“. Andere werden bis ans Ende ihrer Tage „Lawrence of Arabia“ lieben, aber es lässt sich nicht leugnen, dass es diese seltsamen Filme gibt.
Filme, die sich nicht sofort entschlüsseln lassen und immer wieder neue Deutungsangebote machen, die im Kern aber über eine mysteriöse Schlüssigkeit verfügen.

Mag sein, das in „Cloud Atlas“ einiges zu schlicht gestrickt ist. Ich würde es eher als konservative Skepsis bezeichnen: Gewalt und Herrschaft verschwinden nicht aus der Geschichte, der Kampf um Freiheit ist dagegen ein Insistieren auf unverrückbaren moralischen Überzeugungen. „Cloud Atlas“ hat allerdings auch Humor. Und Herz. „Das grausige Martyrium des Timothy Cavendish“ ist zum Beispiel eine saukomische Komödie, die fast ein wenig aus dem Rahmen fällt.
„Cloud Atlas“, so lautet mein Fazit, ist die gelungene Adaption eines außergewöhnlichen Buches, allerdings mit anderen Akzenten, und der Film findet zudem originäre filmische Lösungen für eine Handvoll formaler Probleme, an denen man auch leicht scheitern konnte.

Buch und Film: Zwei Geschichtsmodelle

Aus meiner Sicht gibt es aber einen Unterschied zwischen Mitchells Roman und dem Film von Tom Tykwer, Lana und Larry Wachowski: das Buch beginnt und endet mit der Geschichte Adam Ewings und erzählt dabei möglicherweise vom Scheitern der Aufklärung des 18. Und 19. Jh. Der Film beendet die Menschheitsgeschichte, billigt ihr aber mit melodramatischem Optimismus eine Zukunft weit draußen im Weltall zu.

Schauen wir etwas genauer hin: Bei Mitchell erinnert uns der Notar Ewing ein wenig an Daniel Kehlmanns Naturforscher Alexander von Humboldt und seine arroganten Missdeutungen angesichts der Begegnung mit alten untergegangenen indianischen Hochkulturen und ihren Opferritualen („So viel Zivilisation und so viel Grausamkeit ...gleichsam der Gegensatz zu allem, wofür Deutschland steht!“).
Auch bei Mitchell gibt es eine vergleichbare ironische Pointe, etwas wenn Ewing am Anfang über die „angeborene thierische Stumpfheit“ der Eingeborenen spricht. Am Ende hat im Buch ein geläuterter Adam Ewing das letzte Wort: „Ein Leben mit der Gestaltung einer Welt zu verbringen, die ich ... nicht voller Furcht, sondern mit Freude hinterlassen kann, das erscheint mir als Leben, das zu leben werth ist.“
Die Wachowskis und Tykwer beginnen am anderen Ende der Zeitschiene (Prolog) und hören dort auch auf (Epilog), in fernster Zukunft nämlich: alles ist kaputt, aber alles wird trotzdem gut. David Mitchell lässt seinen Protagonisten Adam Ewing dagegen eine Bildungsreise unternehmen, die ihn mitten ins Zentrum des geschichtsoptimistischen, aufklärerischen Denkens, aber halt auch in dessen Krise führt, ohne dass er es wissen kann. Männer wie Ewing werden, wenn man ihr Leben weiter ausspinnt, in einigen Jahrzehnten miterleben, welchen Blutzoll die amerikanische Nation bei der Lösung der Sklavenfrage leisten musste und der geschichtskundige Leser wird schwerlich einen Gedanken an die Schlachthöfe des 20. Jh. unterdrücken können.

Kein kleiner, aber ein feiner Unterschied: der Film will den notorischen Skeptiker versöhnen, im Roman weiß der Leser als historischer Besserwisser, wo der aufklärerische Humanismus eines David Ewing enden wird, nämlich in den Grausamkeiten des 20. Jh.
Ich denke, dass Mitchells Version die finale Volte des Films klar in den Schatten stellt. Seine Geschichte endet in einer fast schon etwas entmutigenden Kreisbewegung wieder am Anfang, der Film wählt die Sci-Fi-Perspektive und lässt ein Happy-End zu, kein bruchloses, aber jenseits der großen Katastrophe wartet dann doch ein Licht am Ende unserer fatalen Geschichte.

Humorlose Kritik

Am Ende kam es, wie es kommen musste: „Cloud Atlas“ wurde kräftig in die Mangel genommen. Wieder einmal reagiert(e) die Gilde der Filmkritiker mit unübersehbarer Hysterie und schlug irgendwo zwischen „größenwahnsinnig“ und „Jahrhundertwerk“ auf. Das geschieht eigentlich regelmäßig, wenn Mainstream vermutet wird und sich bei näherem Hinsehen als Autorenfilm entpuppt. Zuletzt hatten wir so ein Rumoren bei Terrence Malicks „Tree of Life“, obwohl der wohl kaum Mainstream im Sinn hatte, und in geringerem Ausmaß bei Lars von Triers „Melancholia“ – der eine zeigte die Geburt des Kosmos, der andere den Weltuntergang. Größenwahn oder Jahrhundertwerk?

Wenn es darum geht, dann erinnere ich mich lieber an Michael Ciminos „Heaven’s Gate“ (1980), dem geradezu epochaler Größenwahn vorgeworfen wurde. Ciminos keineswegs durchgehend gelungener Western trieb nicht nur das verantwortliche Studio in die Pleite, sondern gewann auch die „Goldene Himbeere“ für die „Schlechteste Regie“, nachdem der Film – auch von Teilen der Kritik – wie eine Sau durchs Dorf getrieben worden war.
Über 30 Jahre später befindet sich „Heavens’ Gate“ samt Regisseur zwar nicht an zentraler Stelle im Olymp der Filmgötter, Michael Cimino steht aber irgendwo ganz nahe bei ihnen, halb vergessen, aber immer noch im Sinn. Man fragt sich, was den Kritikern von damals durch den Kopf geht, wenn sie den Film heute sehen, aber vielleicht ist das nicht so wichtig.
Zum Glück vergisst die Filmgeschichte die Kritiker, nicht aber die Filme.

(Diese Kritik wurde am 23.4.2013 überarbeitet).

Noten: BigDoc, Melonie = 1, Klawer = 1,5, Mr. Mendez = 3.

Pressespiegel

Rüdiger Suchsland (http://www.heise.de/tp/artikel/37/37971/1.html) verreißt lustlos "Cloud Atlas" ("Zappen ohne Fernbedienung", "nervtötende Musiksoße"). Er beklagt sich über "banale Gedankenwolken" und zitiert Lebensweisheiten aus dem Film. Doch jene, die er eingangs zitiert, ist keine, sondern ausgerechnet das zentrale Paradigma der Herrschaftsideologie.[2] Oupps!
Dafür weiß der Kritiker, was man mit den 100 Millionen besser angestellt hätte: "Wie viele Studentenfilme könnte man dafür machen? Wäre nicht mindestens einer genauso gut, und einer besser, interessanter innovativer, zukünftiger, als "Cloud Atlas"?"
Leider werden wir das nicht herausfinden, denn die Mios sind verbraten.
Am Ende sieht er aber ein "interessantes Werk", weil der Film das Leben außerhalb des Kinos widerspiegelt und das sei nun mal vom ADHS der meisten Zuschauer geprägt, was der Film prächtig bedienen würde.[3]

US-Filmkritikerzar Roger Ebert stellt fest: "...one of the most ambitious films ever made!" Es gibt aber auch US-Kritiker, die konstatieren, dass „Cloud Atlas" nun doch wohl "the badest movie ever made" ist, also noch schlechter als "Angriff der Killertomaten".

Thorsten Funke resümiert auf critic.de: Cloud Atlas galt nicht umsonst gleich nach seinem Erscheinen als unverfilmbar. Nun ist doch ein Film daraus geworden, einer, der zugleich über- wie unterfordert, ein Hochglanzprodukt, das es auf Überwältigung anlegt, für eine übertrieben prononcierte, dennoch schwer zu greifende humanistische Botschaft. Es handelt sich, das sollte deutlich geworden sein, um alles andere als ein gelungenes Werk. Man langweilt sich im Kino dennoch nicht: Wegen mancher schauspielerischer Kabinettstückchen, vor allem aber, weil das über den Film gespannte Beziehungs- und Verweisnetz bei aller Aufdringlichkeit voller entdeckenswerter Details steckt.“
Was will man mehr vom Kino? Und das bei einem misslungenem Film...

Filmpapst Georg Seeßlen fasst für DIE ZEIT zusammen: Was bei Mitchell freilich eine einsichtig-aufklärerische moralische Haltung ist, das wird in diesem Film zu einer etwas verquasten Mischung aus Esoterik, Sonntagsschule und halb verdauten Philosophiebrocken: Wie schon die letzten Teile der Matrix-Trilogie scheint auch dieser Wachowski-Film beständig auf der Flucht vor den Konsequenzen seiner eigenen Wagnisse. Kurzum: Cloud Atlas hat begriffen, welche Aufgaben sich dem Popcornkino der Zukunft stellen. Aber bei der Lösung dieser Aufgabe ist nicht viel mehr herausgekommen als ein ansehnlicher Bilderbrei.“
Immerhin ansehnlich...

Fazit meiner Gesamtlektüre: gefühlte 70% der Kritiker kloppen auf den Film ein als sei dieser DIE Kinoblasphemie der letzten 100 Jahre, wo doch Lars von Trier für diese Sparte zuständig ist, der Rest feiert den Film als Jahrhundertwerk, das man vermutlich erst in 20 Jahren richtig würdigen wird. Eingespielt hat der Film seine Kosten noch nicht, aber Lana Wachowski weiß in einem Interview mit dem TAGESSPIEGEL bereits die Antwort: Sartre hat gesagt, alle materialistischen Philosophien reduzieren Kunst auf das Objekthafte. Genau das geschieht, wenn man „Cloud Atlas“ am Einspielergebnis bemisst. So funktioniert Unterdrückung, so will der Markt es regeln: Er reduziert Menschen auf Zahlen und Bilanzen.“

Dann wollen wir doch hoffen, dass sie trotzdem das Geld für ihren nächsten Film zusammen bekommen. Ich bin gespannt.


[2] Es gibt auch Längen, vor allem Anfang. Es gibt von allem etwas und nichts richtig, außer ein paar Lebensweisheiten, die nicht ganz falsch sind, aber vielleicht banal, und bei denen man sich zudem nicht ganz sicher sein kann, wie ernst sie überhaupt gemeint sind: „Unsere Welt folgt einer naturgegebenen Ordnung und wer versucht, sie umzukrempeln, dem wird es schlecht ergehen.“
 [3] "Aber er ist ein interessantes Werk, weil er sehr zeitgemäß ist, weil er in seinen ständigen Perspektivwechseln, die Netzstrukturen unserer Wirklichkeit ebenso spiegelt, wie er die Aufmerksamkeitsdefizite vieler User/Zuschauer bedient, denn seine Struktur und Verwirrtheit und sogar sein ständiges Moralisieren und seine Esoterik haben sehr viel mit den digitalen Wolken zu tun, die unser gegenwärtiges Leben jenseits des Kinos prägen. 'Unsere Leben gehören nicht uns. Wir sind verbunden mit anderen, in Vergangenheit und Gegenwart. Und mit jedem Verbrechen und jedem Akt der Güte erschaffen wir unsere Zukunft'.“