Sonntag, 17. Mai 2020

Into the Night

Es gibt Serien, deren Ausgangsidee nicht nur witzig und vielversprechend ist, sondern schlichtweg originell und einmalig. In der Netflix-Serie „Into the Night“ fliegt eine Handvoll Verzweifelter in die Nacht, um den tödlichen Strahlen der Sonne zu entkommen. Immer nach Westen!
Aber schon bald stellt sich nicht nur die Frage, wie man die Maschine auftankt und an Lebensmittel gelangt, sondern ob man seine Reisegefährten überhaupt ertragen kann.  Showrunner Jason George macht aus dieser fragilen Ausgangskonstellation eine solide, durchgehend spannende Geschichte, deren überschaubares Potential in nur sechs Episoden stimmig entfaltet wird.



Flucht in die Nacht

In dystopischen und post-apokalyptischen Szenarien findet man häufig handfeste Zutaten aus dem Horrorfilmgenre, die den Machern ermöglichen, kräftig zu splattern und sattsam bekannte Konfliktpotentiale auszubreiten. Wir kennen das: Zombies sind schlimm, der Mensch ist aber noch schlimmer. Auf Horror und Splatter verzichtet die neue Netflix-Serie, auf den Rest aber nicht.
Auch die belgische Serie „Into the Night“ kommt nicht ganz ohne diese stereotypen 08/15-Zutaten aus. Im Gegenteil, die Serie breitet sie mit lakonischer Gelassenheit aus. Und ganz ehrlich: ein konfliktarmes Figurenensemble wäre ja auch ziemlich langweilig. 
Dafür ist die Grundidee der Serie originell. Sie lautet: die Sonne verändert quasi aus dem Stand ihre physikalischen Eigenschaften – und die neuen sind offenbar für jede Form des organischen Lebens tödlich. Sogar den Lebensmitteln wird der Nährstoff entzogen. Denn Mutter Sonne, von der evolutionsbiologisch das ganze Leben auf diesem Planeten abhängt, überzieht unsere Erde plötzlich mit Gammastrahlen oder ähnlichem Zeug. Die Folge: geht die Sonne auf, fallen alle Menschen tot um. Überleben kann man nur, wenn man sich in der Nachtzone des Planeten aufhält. Und so fliegt ein ziviles Flugzeug mit seinen verzweifelten Fluggästen panisch nach Westen. Die Flucht vor der Sonne: auf Dauer kann das nicht gutgehen.

Und so ist es wieder einmal eine Zwangsgemeinschaft von zufällig zusammengewürfelten Menschen, die plötzlich mit der Apokalypse konfrontiert werden – und viele sind nicht gerade Sympathieträger. Alles beginnt damit, dass der italienische Nato-Offizier Terenzio (Stefano Cassetti) mit Waffengewalt ein Flugzeug kapert und den beim Zweikampf durch einen Schuss verletzten Piloten Mathieu (Laurent Capelluto) zwingt, mit der Maschine nach Westen zu fliegen. Der muss ohne seinen Co-Piloten abheben, unterstützt von der Ex-Soldatin Sylvie (Pauline Étienne), die nur Flugerfahrungen mit einem Helikopter besitzt. Terenzios Gefasel, dass die Sonne alle umbringen will, glaubt zunächst keiner. Das ändert sich schnell. Dann wird Terenzio aber überwältigt und die Gruppe beschließt, über alle weiteren Pläne demokratisch zu entscheiden. Ob dies mitten in der Apokalypse gelingen kann, ist keine neue Frage, aber „Into the Night“ liefert dann doch einige interessante Antworten.



Führungstärke oder Demokratie?

„Into the Night“ ist die erste belgische Originalserie von Netflix. Showrunner Jason George („Narcos“) hat alle Drehbücher der eher niedrig budgetierten Serie geschrieben, in den sechs Episoden der ersten Staffel führten durchgehend die Belgier Inti Calfat und Dirk Verheye die Regie. Die Sci-Fi-Serie verzichtet zunächst auf eine zentrale Hauptfigur, sondern fokussiert sich in jeder Episode auf eine Figur und leuchtet deren Backstory aus. Die einfache psychologische Botschaft: über unsere Handlungen entscheiden nicht nur tief verankerte Charakterzüge, sondern manchmal einfach nur die emotional beeindruckenden oder verstörenden Dinge, die wir kurz zuvor erlebt haben. So wird nicht nur sehr viel Ambivalenz in der Gruppe sichtbar, bei einigen Bordgästen werden auch Kompetenzen erkennbar, die unterschiedlichen Situationen zu klugen Entscheidungen führen.

Sylvie, die nach dem Tode ihres Freundes eigentlich ihren Selbstmord nach der allerletzten Flugreise geplant hat und die Asche des Toten im Gepäck hat, gelingt es irgendwann, das Flugzeug auch ohne Mathieus Hilfe zu landen. Die von Selbstzweifeln geplagte junge Frau wird am Ende der ersten Staffel weniger durch ihr Reden, sondern aufgrund effizienter Entscheidungen zum Alphatier der Gruppe werden.
Flugkapitän Mathieu versucht diese Führungsposition lange zu verteidigen, scheitert aber an dem zunehmenden Klima aus Panik, Misstrauen, Vorurteilen und Rassismus. Denn misstrauisch beäugt werden von einigen Fluggästen der Marokkaner Osman Azizi (Nabil Mallat) und der Türke Ayaz Kobanbay (Mehmet Kurtulus mit sehenswerter Performance). Osman, der allein durch sein Aussehen eine Kettenreaktion von Vorurteilen in der Gruppe auslöst, entpuppt sich als schweigsame, moralisch integre Person. Ayaz dagegen hat einen undurchsichtigen, möglicherweise kriminellen Hintergrund, besitzt aber erkennbare Führungsqualitäten – besonders in Situationen, in denen sich die Flüchtenden mit Waffengewalt verteidigen müssen. Und ganz am Ende zeigt sich, dass Ayaz die moralisch eindrucksvollste Figur ist. Und das liegt auch an der ausgezeichneten Vorstellung, die Mehmet Kurtulus (in Deutschland bekannt als Tatort-Kommissar) abliefert.

Dass sich Jason George die Dekonstruktion derartiger Stigmata und Vorurteilen auf die Fahne geschrieben hat, überrascht nicht, auch nicht, dass die Serie bei der Entwicklung starke Frauenfiguren im Trend liegt. Aber wie immer kommt es darauf an, ob es gut erzählt wird oder nicht. In „Into the Night“ werden die Figuren so handungsadäquat entwickelt, dass die Glaubwürdigkeit der moralischen Botschaft weder unter ihrer gelegentlich erkennbaren Formelhaftigkeit zu leiden hat noch unglaubwürdig ist, weil fast keine der Figuren eindimensional skizziert wird.
Neben einer Reihe von durchweg gut gezeichneten Nebenrollen gehört Jakub (Ksawery Szienkier), der polnische Bordmechaniker, zu den eindrucksvollsten Protagonisten. Denn Jakub wäre am liebsten nach Brüssel zurückgeflogen, um dort gemeinsam mit seiner Familie zu sterben, rappelt sich dann aber auf und wird zum heimlichen Lebensretter der Notgemeinschaft.
Ganz ohne Typisierung geht es aber nicht, denn zu einer post-apokalyptischen Zwangsgemeinschaft gehört auch der übliche Intrigant, der Führungsansprüche einfordert, im Kern aber charakterschwach und feige ist. Diese dann doch etwas klischeehafte Figur spielt Jan Bijvoet als Richard „Rik“ Mertens, ein schmächtiger Security-Spezialist, der die Gruppe aufwiegelt, aber eigentlich nur etwas Akzeptanz und Anerkennung sucht.

So kämpfen sich Crew und Fluggäste mehr oder weniger erfolgreich durch lautstarke Debatten und eine Reihe von Gefahren. Etwa die Auseinandersetzung mit drei britischen Soldaten, die sich als Kriegsverbrecher entpuppen. Intern führt die Psychodynamik der Krise dazu, dass immer gespaltener moralische Debatten über den Wert oder Unwert Einzelner geführt werden. Etwa über Ayaz, nämlich als herauskommt, dass dieser einen verstorbenen Fluggast heimlich aufgeschnitten hat, um sich eine Handvoll Edelsteine anzueignen, die dieser in seinem Magen außer Landes schmuggeln wollte.
Und immer deutlicher wird in dieser Krise, dass es um die Frage geht, ob man einer Führerfigur sein Schicksal anvertrauen will oder ob demokratische Entscheidungsstrukturen die klügere Alternative sind. Das hat bereits „The Walking Dead“ an der Figur des Rick Grimes durchdekliniert, und der hat sich schließlich selbst vom hohen Sockel gestoßen.  „Into the Night“ zeigt dagegen, dass in einer Gruppe sowohl ein destruktiver und irrationaler Kern steckt, aber auch eine Art von Gruppenintelligenz, die immer wieder dafür sorgt, dass in extremen Situationen abwechselnd immer der das Heft des Handelns in die Hand nimmt, der die effektivsten und moralisch vertretbarsten Entscheidungen trifft.

Dass dies der auch in 4K produzierten Netflix-Serie überwiegend ganz gut gelingt und dass alles durchweg mit intensiver Spannung erzählt wird, liegt ebenfalls an einer effektiven Entscheidung: die erste Staffel wurde nicht in die Länge gezogen. Die Konzentration auf nur sechs Episoden passt zum Potential der Serie wie die Faust aufs Auge. Alles andere hätte nur die latenten Schwächen des Plots sichtbar gemacht.


Note: BigDoc = 3

Into The Night – Netflix – Release Date: 1. Mai 2020 - Showrunner: Jason George – 6 Episoden – Pauline Etienne, Mehmet Kurtulus, Ksawery Szienkier, Laurent Cappeluto, Stefano Cassetti,, Nabile Mallat, Jan Bijvoet u.v.a