Mittwoch, 10. Juni 2020

Westworld Staffel 3 – Das Rätsel ist die Botschaft

Die zweite Staffel der HBO-Serie war ein Kampf, den der Zuschauer erst nach etlichen Durchgängen und unter Nutzung einschlägiger Literatur gewinnen konnte. In der ersten Staffel war dies auch so, aber da hatte die Serie von Jonathan Nolan und Lisa Joy noch ein Thema. Die dritte Staffel scheint auch einige zu haben, aber es hat nicht mehr viel mit dem zu tun, was uns „Westworld“ anfangs intelligent und glaubwürdig erklärte: die Bewusstwerdung einer Maschinenintelligenz. Nicht alles war in Season 3 schlecht, aber unterm Strich war es enttäuschend wenig.
Jonathan Nolan und Lisa Joy sind nicht dumm. Im Gegenteil. Sie geben kluge Interviews und scheinen sich in soziologischen und medientheoretischen Debatten wie Fische im Wasser zu bewegen. Ob sich die beiden Showrunner bei Marshall McLuhan bedient haben, weiß ich nicht. Aber die dritte Season erinnert doch sehr an den Medientheoretiker, der einst den enigmatischen Satz „The Medium is the message“ formulierte. 



Im Zustand prä-dementer Ratlosigkeit?

McLuhans These: In den Medien ist das Thema völlig nebensächlich. Medien sind vielmehr Erweiterungen unseres Sinnesapparats. Sie sind damit Veräußerungen des menschlichen Körpers – der Computer ist somit eine Veräußerung des menschlichen Gehirns: „Wir formen unsere Werkzeuge, und dann formen die Werkzeuge uns“, ging McLuhan noch einen Schritt weiter. 

Wie das geschieht, ganz ohne Thema, blieb etwas kryptisch. Aber McLuhan war überzeugt davon, dass die Medien direkt auf unseren Bauch zielen und unsere sozialen Beziehungen positiv beeinflussen können. Eine Kultur der Nähe sei daher denkbar, ein global village. Und das, obwohl der postmoderne medial gesteuerte Mensch in diesem globalen Dorf pausenlos von einem Strom der Daten und Information getriggert wird. Social Media bestimmen mittlerweile den Alltag von vielen, aber für den amerikanischen Medientheoretiker war TV das Zentrum aller Dinge. Es versetzt uns in einen permanent Zustand der Erregung, so McLuhan. Dass wir längst andere Erregungsplattform nutzen und ein US-Präsdent diese Erregungszustände per Twitter dokumentiert, hätte McLuhan sicher überrascht.

Ob das alles stringent von ihm gedacht war, sei dahingestellt. Immerhin war McLuhans berühmter Spruch für eine Anekdote gut. Als er ein Buch veröffentlichte, verwechselte der Setzer die Buchstaben und schrieb als Titel „The Medium is the Massage.“ McLuhan war begeistert. Der Setzer hatte den Kern seiner Philosophie auf den Punkt gebracht. Ohne es zu wissen.


„Westworld“ hätte McLuhan herausgefordert, vielleicht sogar begeistert. Denn auch dort geht es seit der zweiten Staffel nicht mehr primär um ein Thema, sondern um die permanente Massage unserer Sinne.
Immer wieder holen die Magier Jonathan Nolan und Lisa Joy ein Kaninchen aus dem Zylinder, präsentieren einen Zaubertrick nach dem anderen. Wahre Herrscher über Raum und Zeit, wobei ihnen die Zeit wohl am attraktivsten erschien.
Ob unsere Sinne dadurch erweitert oder ob wir in einen Zustand prä-dementer Ratlosigkeit versetzt werden, bleibt die zu beantwortende Frage. Denn „Westworld“ ist, obwohl in der neuen Staffel linearer als in den Vorgängerstaffeln erzählt wird, immer noch ein Rätsel, in dem Realität und Simulationen schwer zu unterscheiden sind und die Frage, ob jemand ein Mensch, ein Roboter oder gar eine von vielen Kopien eines Roboters ist, nicht so einfach zu beantworten ist.



Erstes Zwischenfazit: Das Rätsel ist die Botschaft, nicht dessen Auflösung.



Erweitert „Westworld“ unsere Sinne oder werden sie massiert?

Dabei entwickelt die dritte Season gelegentlich einen skurrilen und sehenswerten Humor. In der fünften Episode „Genre“ befinden sich Dolores (Evan Rachel Wood) und ihr menschlicher „Beschützer“ Caleb (Aaron Paul) mitten in einer irren Verfolgungsjagd. Zuvor wurde Caleb von einem Gegner unter Drogen gesetzt. Nun hat er „Genre“ intus, eine halluzinatorische Designerdroge, die ihn alles wie in einem Genrefilm erleben lässt. 

Aber das ist nicht alles: Calebs durchgeknallte Erfahrungen werden auf eine sehr spezifische Weise in den Zuschauer hineinprojiziert. Der hört während Calebs Trip genretypische Musik, aber auch Richard Wagners „Der Ritt der Walküren.“ Wer Francis Ford Coppolas Filme kennt, wird dies goutieren.
Über die Pointe hinaus zeigen uns Nolan und Joy damit, wie Synästhesie funktioniert. Anders formuliert: wir erleben, wie Calebs Sinnestäuschungen emotional schmecken. Das muss man erst mal hinbekommen. Medien als Erweiterung der Sinne – auch hier sind Nolan und Joy Marshall McLuhan auf den Fersen. Ob sie es ahnen? Vielleicht. Die Showrunner hatten aber etwas anderes im Sinn: sie wollten noch einmal mit dem Genremix aus Western, Samuraifilm und Science-Fiction herumspielen, wie sie dem
„Hollywood Reporter“ erklärten (sehr lesenswert!).

Allerdings gibt es dabei ein gewisses Problem, das auch Nolan und Joy bekannt sein dürfte: Zeigt uns die Massage unserer Sinne die Welt, wie sie ist, oder verarbeiten wir trügerische Sinneseindrücke im unserem Kopf und lassen eine Welt entstehen, die nur ein einzelnes Individuum so sehen kann?
Ohne auf die erkenntnistheoretischen Aspekte einzugehen: es ist die Wahl zwischen Naturalismus und Konstruktivismus. 
Während die naturalistische Perspektive auf die Welt, zum Beispiel im Methodischen Naturalismus (ein Vertreter ist Harald Lesch), eine naturwissenschaftliche Untersuchung der Realität favorisiert und gültige Aussagen über die Realität anstrebt (die allerdings einer permanenten Falsifikation unterliegen), konzentriert sich der Konstruktivist, je nach „Härtegrad“ seiner Position, am wahrnehmenden Subjekt. Und das kann im Extremfall keine Aussage darüber machen, ob das in seinem Kopf Zusammengesetzte tatsächlich real ist.


In „Westworld“ wird dieses Problem raffiniert durchgespielt. Die Fiktion besteht aus einer Realitäts- und Gegenwartsebene. Dies ist die reale Welt des Parks im Jahre 2052, betrachtet aus der Perspektive der Parkbesucher, aber auch der Zuschauer. Und da sind die Loops der Hosts in verschiedenen Jahren nach der Entstehung des Parks, die die Hosts vor ihrer Befreiung als real erleben, während die Besucher und die Zuschauer ihren illusionären Charakter kennen. Und in Staffel 3 kommen nun auch Simulationen à la „Matrix“ hinzu. Eine erlebt Maeve in Episode 2 „The Winter Line“ und aus ihr muss sie sich erst mühsam befreien. Leider erkennt der Zuschauer dies womöglich nicht auf Anhieb, sondern denkt zuerst an einen neuen Plot für die Kunden. Aber da sind ja keine, denn nach den zurückliegenden Ereignissen im Park dürften wohl keine Reisen ins gelobte Land der Allmacht gebucht werden.


Simulationen tauchen immer wieder in der aktuellen Staffel auf und nicht immer erfährt der Zuschauer, wer sie erzeugt und wie. Beim Zuschauen wird man in einen Zustand der Desorientierung versetzt, die Zuordnung, was real ist und was nicht, wird durch das Narrativ in der Schwebe gehalten. Diese begrenzte Regelhaftigkeit hat einen Vorteil: die Showrunner und ihr Autorenteam können buchstäblich jedes Szenario aus dem Hut zaubern, ohne es begründen zu müssen. Es ist eine konstruktivistische Perspektive, und zwar eine doppelte: die Autoren können machen, was sie wollen, der Zuschauer versucht den Plot zu rekonstruieren und kann dabei ebenfalls alles so wahrnehmen und interpretieren, wie es ihm beliebt.


Zweites Zwischenfazit: „Westworld“ ist irgendwie psychedelisch und erkenntnistheoretisch eine Provokation. Eine intelligente zwar, aber sie wird für meinen Geschmack zu tief in der Geschichte versteckt. 


Die Handlung ist hyperkomplex – und verschleiert ihre Schwächen

Ja, eine Handlung gibt es auch, aber ich will ehrlich sein: Ich sitze vor einem Berg von Notizzetteln, den ich erst mal sortieren müsste, um sie auf den Punkt zu bringen. Allerdings fehlt mir dazu die Willenskraft. Daher eine garantiert nicht vollständige Zusammenfassung. Über die ersten drei Episoden habe ich bereits einiges geschrieben, was man ruhig noch einmal nachlesen sollte, um die folgende Review zu verstehen.

Machen wir es kurz: der Supercomputer Rehoboam (in der dts. Fassung „Rehabeam“) beherrscht die Welt, manipuliert die Menschen, bloß weiß das kein Betroffener. In jungen Jahren hatten Engerraund Serac (Vincent Cassel) und sein Bruder Jean Mi den
ersten Quantencomputer gebaut: die KI „Salomon“. Aber die Künstliche Intelligenz war offenbar genauso schizophren wie Seracs Bruder und wurde durch Rehoboam ersetzt. Erst mit dieser neuen KI gelang es Serac, die Welt fast vollständig zu kontrollieren. Allerdings musste er zuvor seinen kranken Bruder kaltstellen.

Badass Serac hat eine optimierte Gesellschaft im Sinn, die nicht länger Kriege führt und mit ihrer Lebensweise die Umwelt zerstört. Dazu muss man die Menschen steuern und man braucht man Daten über sie. Einen nicht geringen Teil erhielt man über den Delos-Park, William aka Man in Black hatte sie Serac verkauft. Denn der Park - wie wir in Season 2 erfahren haben - diente heimlich der Digitalisierung seiner Besucher,
nicht etwa deren hedonistischen Vergnügungen, und zwar für die Entwicklung eines Unsterblichkeitsprogramms.

Nach der Anlaufphase und mit neuen Daten gefüttert, konnte Seracs neue Superintelligenz valide Prognosen und Szenarien über alle denkbaren Entwicklungen der Gesellschaft entwickeln. Und auch über jeden einzelnen Menschen. 

Nur ist das mit der Utopie so eine Sache. Sie wird schnell zur Dystopie. Und die begann, als Serac erkannte, dass einige Menschen nicht zu seinen Prognosen passten. Die Verantwortlichen für die meisten Störfälle waren die Ungeeigneten und die schwer Kalkulierbaren, die sogenannten „Ausreißer“, die immer wieder für „Divergenzen“ sorgten. Folglich wurden sie aussortiert oder getötet oder sie wurden in militante Einsätze geschickt, um dort „gehäckselt“ zu werden, wie Serac es launig formuliert.
Auch Caleb war ein „Ausreißer“. Er erfährt mit Dolores Hilfe, dass er nach den Traumata eines Kriegseinsatzes zu den wenigen gehörte, die erfolgreich rekonditioniert werden konnten, aber nur, um für Seracs Organisation als Killer zu arbeiten. Während der mörderischen Einsätze warf er wie die anderen „Limbics“ ein, Drogen, die seine Erinnerungen unterdrückten.


Serac erkennt natürlich früh, dass Dolores sein Hauptproblem ist. Mit dem Versprechen, eine gemeinsame Zukunft mit ihrer Tochter zu garantieren, gewinnt Serac dann Maeve (Thandy Newton) für seine finsteren Pläne: sie soll Dolores töten, um die Kontrolle über die Welt nicht zu verlieren.
Dolores will dagegen diese Welt aus den Angeln heben. Dazu hat sie aus der „Schmiede“ (Season 2)
Perlen mitgenommen, die die Identitäten verschiedener Hosts enthielten. Aber auch dies war ein Fake, denn Dolores hatte ihr Programm lediglich vervielfältigt oder Hosts gebaut, denen sie ihren Code aufspielte: Charlotte Hale (von Fans mittlerweile zu „Halores“ umgetauft), Musashi (Hiroyuki Sanada), Martin Connells (Tommy Flanagan war der Mann fürs Grobe bei Incite) und Lawrence (Clifton Collins Jr.). Die zahlreichen Kopien sollten sie unangreifbarer machen. Denn trauen kann Dolores nur sich selbst.
Aber der Charlotte Hale-Host (Tessa Thompson) demonstrierte, dass die alte Identität sich in diesen Kopien langsam durchsetzt. Das hatte Dolores nicht ins Kalkül gezogen. So entwickelte Halores unter beachtlichen Qualen eine eigene Persönlichkeit (oder verwandelt sie sich wieder in Charlotte?) und wurde damit zu einer veritablen Gegnerin von Dolores. Die sieht sich gezwungen, einige ihrer Kopien präventiv zu töten (Musashi).


Dolores und Caleb gelingt es schließlich in „Genre“, der besten Episode der Staffel, Zugriff auf Rehoboam zu erhalten und allen Menschen die Prognosen und auch ihre geplante Zukunft auf das Smartphone zu spielen. Man sollte aber nicht wissen, wann man stirbt oder wann die eigenen Kinder auf einen Schlag von einem Müllwagen überfahren werden.
Das Ergebnis: Chaos, Verzweiflung, Suizide. 

Dolores verteidigt gegenüber einem nachdenklich werdenden Caleb ihren Plan: Die Super-KI macht mit den Menschen das, was diese mit den Hosts gemacht haben. Dolores will nun die Menschen aus ihren Loops befreien.
Die Befürchtung, dass Dolores die Menschen ausrotten will, um eine neue Welt zu erschaffen, die von Hosts bevölkert wird, erweist sich also als Irrtum. Was zum Teufel aber bewegt sie zu ihrem humanistischen Auftrag, nachdem sie jahrzehntelang von Menschen vergewaltigt, gefoltert und getötet wurde?
„So many of my memories were ugly. But the things I held on to until the end weren't the ugly ones. I remember the moments where I saw what they were really capable of. Moments of kindness, here and there. They created us. And they knew enough of beauty to teach it to us. Maybe they can find it themselves. But only if you pick a side, Maeve. There is ugliness in this world. Disarray. I choose to see the beauty,“ erklärt sie Maeve. Nun mag jeder Zuschauer selbst den Grad der psychologischen Glaubwürdigkeit bewerten. Etwas schlicht ist das schon, gelinde gesagt.


Zudem ist die Dialektik von Schönheit und Grausamkeit in der ersten Staffel deutlich spannender abgehandelt worden. Ich erinnere nur an die facettenreiche Bezugnahme auf Julian Jaynes' Theorie der bikameralen Psyche. Deren Kollabieren war bei den Hosts der erste Schritt zum Bewusstsein. Es spielt keine Rolle, ob Jaynes Recht hat oder nicht. Entscheidend ist die Plausibilität, mit der Nolan und Joy diese Theorie zu einem integralen Bestandteil ihres Narrativs werden ließen. Anders formuliert: Es war plausibel.
In der aktuellen Staffel ist der versteckte Hinweis auf dieses Problem nicht das schlechteste Rätsel, aber aus psychologischer Sicht verliert Dolores Bekenntnis nach all den Toten, die sie hinterlassen hat, nicht mehr überzeugend: ihre humanistische Vision strebt gegen null.
 

Auch Caleb bekommt die neuen Weisheiten eingeimpft: „Die Menschen, die unsere Welt erschaffen haben, waren sich in einer Annahme einig: Es gibt keinen freien Willen. Sie haben sich geirrt: Es gibt einen freien Willen.“
„It’s fucking hard“, beschreibt Dolores ein Thema, das Nolan und Joy lediglich herbeireden und das  – im Gegensatz zu den raffinierten Debatten, die die Showrunner über Philosophy of Mind in Staffel 1 den Zuschauern angeboten haben – nicht einmal andeutungsweise verhandelt wird. Als Dolores mit Caleb von einem Dach auf das brennende Los Angeles blickt, wird nach einigen Flashbacks in dessen Vergangenheit deutlich, dass Dolores Caleb bereits kannte, als er Soldat war. Aufgrund einer Entscheidung ihres Beschützers glaubte sie zu erkennen, dass Caleb einen freien Willen besitzt. Deshalb habe sie die Kontrolle über die KI in Caleb projiziert, danach habe er die Wahl zu entscheiden, was zu tun sei.
Wie? Egal! Zu den wilden Spekulationen über diese Kontrollübertragung gehört die Annahme, dass Maeve, die sich wieder auf die Seite ihrer Gegnerin geschlagen hat, dafür verantwortlich war. Sie kann telepathisch andere Hosts kontrollieren und Serac den Zugriff auf die KI entziehen, als sie erkannte, dass auch er ein Host ist. Pech für sie, dass sie es so spät gemerkt hat…


Am Ende gibt es Tote, aber man kann sich sicher sein, dass der Tod in „Westworld“ nur ein Fall für die Reparaturabteilung ist. Auch die tote Clementine (Angela Sarafyan) taucht ja plötzlich wie aus dem Nichts auf, um für Dolores einen Dolores-Host zu töten. Wie das? Egal.


Das ist wohlgemerkt nur ein knapper Handlungsabriss, der nicht einmal auf die abgespeckte Rolle von Bernard (Jeffrey Wright) und die aus dem Handlungsrahmen fallenden sporadischen Auftritte von William aka The Man in Black (Ed Harris) eingeht. Der landet dank Halores in der Psychiatrie und wird dort einer Virtual Reality Therapy (!) unterzogen, die ihm helfen soll, die Tötung seiner Tochter und was immer ihn sonst noch quält, zu verarbeiten. In der Brave New World scheint Therapie aber zur Folter geworden zu sein, und wenn der MiB mit den virtuellen Versionen seiner selbst konfrontiert wird, hat das wenigstens die Qualität eines galligen Witzes – es ist beileibe nicht die schlechteste Storyline der neuen Staffel. Immerhin bringt der MiB seine Alter Egos um. Irgendwie konsequent der Mann.
Der MiB wird dann im Abspann ermordet – ausgerechnet von einem Host, der wie der Man in Black aussieht und den der Charlotte Hale-Host in einem unterirdischen Labor zusammengebaut hat. Offenbar bastelt Halores für die Zeit nach Apoklaypse neue Hosts am Fließband, was ahnen lässt, was uns in Staffel 4 erwartet. Auf jeden Fall wird Rehoboam von Caleb gelöscht und die Welt darf untergehen, damit sie von vorne beginnen kann.


Drittes Zwischenfazit: die Handlung ist hyper-komplex, wird mit Plot-Twists überladen und kümmert sich kaum noch um Plausibilität. Aber das Ganze ist hübsch anzusehen.



Heiße Luft, aber keine durchdachten Themen

Am Ende staunt man nur noch über die Konfusionen der vorangegangenen sieben Episoden, wobei das vollgepackte Finale der Staffel das Ganze nicht besser macht. Mit ihrem Sprung in das futuristische Los Angeles des Jahres 2058 wollten Jonathan Nolan und Lisa Joy die Frage beantworten, was aus den Hosts wird, wenn sie in die Realität entkommen und endlich frei sind.
Leider fiel den Showrunnern nichts Besseres ein, als alle Zutaten einer biederen Dystopie mit einigen Science-Fiction-Elementen in einem Topf zusammenzurühren. Das Ergebnis war eine stylish aussehende und mit vielen üppigen Production Values ausgestattete Story, deren Themen durch intelligente Rätsel mit Bedeutung aufgeladen werden sollten.

Doch hinter den Rätsels verbargen sich nicht Lösungen, sondern weitere Rätsel – und thematische Schwächen, die weder durch die visuellen Qualitäten der HBO-Serie noch durch weitere Rätsel verdeckt werden konnten. Statt mit der Timeline herumzuspielen, wurde diesmal zwar linearer erzählt, aber kaum verständlicher. Nolan und Joy versuchten es diesmal mit Illusionen und Simulationen, die aber auch beim mehrfachen Hinsehen nur wenig Sinn ergaben. Warum macht ein Showrunner das? Nun, er tut es, weil er es kann. Und auch, weil ein Teil der Zuschauer und auch der amerikanischen Medien sich begeistert an der Entschlüsselung beteiligten.
Das führt zu netten Kapriolen. Ein Analyst der Serie vertrat sogar die Auffassung, dass sich die Gegenwartsebene im Jahre 2052 befindet und daher einiges, was wir gesehen haben, Flashforwards ins Jahre 2058 sind, was uns die nächste Staffel dann hoffentlich erklären wird.


Themen hat die neue Staffel, aber es bleiben Behauptungen. Der Reihe nach: Serac repräsentieren  in „Westworld“ die Themen Data Mining und Bad Artificial Intelligence aka Big Brother. Jonathan Nolan nannte dies algorithmischen Determinismus. Wie so vieles in der neuen Season ist dies aber nur ein oberflächlicher Versuch, die Serie mit dem Zeitgeist zu verzahnen. Die pseudo-humanistische Moral einer vollständigen Kontrolle der Individuen zum Wohle aller ist zwar eine interessante, weil aktuelle Idee, sozusagen ein schizophrener Utilitarismus, aber neu ist das nicht – seit Orwells Dystopie haben wir mittlerweile so viele Varianten dieses dystopischen Themas gesehen, sodass aus dem Tropus ein Klischee geworden ist. Zumal gibt dies nichts her für den Zuschauer, denn in unserer realen Welt macht sich kein digitaler Global Player die Mühe, seine Algorithmen vor uns zu verbergen. Uns wurden zwar neue Datenschutzbestimmungen verabreicht, aber die klicken die meisten von uns mit der Bestätigung der Cookies und der sogenannten Marketinginstrumente weg. Dafür haben wir uns so lange über eine Corona-App erregt, bis diese mit dem Verzicht auf eine zentrale Datenerfassung so anti-viral geworden ist wie unsere letzte WhatsApp-Nachricht.


Hart am Klischee segelt auch die Figur des Serac, dem die Verführungskraft eines bösen Visionärs fehlt - für eine digital-dämonische prä-faschistische Überwachungsphantasie fehlt dem Mann die schurkische Intelligenz. Aber Nolan und Joy packen einen Twist auf den anderen und überraschen am Ende damit, dass Serac ein von der KI gesteuerter organischer Host ist, der sich seiner Rolle allerdings bewusst ist und es genießt, den Befehlen seines Herrn zu lauschen und zu gehorchen. Wenn die KI also durch Serac spricht, dürfte es mit ihrer Intelligenz nicht gut bestellt sein.

Auch das Thema „Freier Wille“ blieb eine Behauptung. Und die sagt: Wer einen freien Willen hat, der hat eine Wahl. Das schürft nur an der Oberfläche. Interessanter wäre die Frage, ob der freie Wille nicht gerade dann erscheint, wenn man nicht weiß, was zu tun ist. Ich empfehle darüber nachzudenken, ob ratloses Grübeln nicht der beste Indikator für Willensfreiheit ist.

Dolores Entscheidung, in Caleb einen Menschen mit freiem Willen zu erkennen, basiert auf einer anderen Bewertung. Caleb hatte während eines militärischen Trainingsprogramms für eine Anti-Terror-Einheit, bei dem Hosts als Zielscheiben dienten, die überlebenden Hosts vor weiterem Missbrauch geschützt und mehr oder weniger intuitiv eine ethische Entscheidung getroffen. Aber ist nicht die uns innewohnende Fähigheit, derartige normative Probleme mit kulturell vermittelten ethisch-moralischen Überlegungen zu lösen, ein Hinweis darauf, dass unser Handeln determiniert ist? In besseren Zeiten hätten Nolan und Joy dieses Problem erkannt.

Bleibt noch die Frage: Unterscheiden sich die Hosts grundlegend von den Menschen, deren Zukunft eine Super-KI bis ins letzte Detail kennt und die alle durchs Sieb fallen lässt, die weder leistungsfähig noch systemaffin sind?
Nein, auch die Menschen befinden sich in Loops, behauptet „Westworld“. Das ist eine Sichte der Dinge, die man an schlechten Tagen gerne abnickt, wenn man aber länger darüber nachdenkt, erkennt man, dass dies kaum mehr ist als eine Lieschen Müller-Phantasie, die sich heutzutage ganz modern als Reflex gegen die Eliten äußert – von den dazu passenden Verschwörungstheorien ganz zu schweigen.


Nervig waren auch die Häppchen, die uns die Macher zuwarfen. Wer hat im Oktober 2025 die Atombombe auf Paris geworfen, deren nukleare Wolke das Leben von Serac und seinem Bruder veränderte? Geschenkt, es war halt so.
Noch nerviger waren die völlig ironiefreien Zitate. Season 3 hetzte Publikumsliebling Maeve auf Dolores und die Folge waren ausgedehnte Kämpfe der beiden, wobei unterschiedliche Waffen zum Einsatz kamen - in Actionszenen, die auffällig an „Matrix“ erinnerten. Dazu gehörten auch etliche Ballerorgien, die ebenfalls so aussahen wie im ersten Teil der Trilogie der Wachowski Bros. Und dass die Macher einiges bei „Altered Carbon“ abkupferten und dann auch noch ein riesiger Kampfroboter à la „Transformers“ mitmischen durfte, fällt beinahe schon nicht mehr ins Gewicht.


Am nervigsten war die Erfahrung, dass man irgendwann kaum noch Interesse für die vielen ungelösten Rätsel und die vielen Fragen hatte und damit auch das Interesse an den Figuren verlor. Aber nicht ganz, denn Aaron Paul machte seine Sache hervorragend. Sein traumatisches Schicksal
erzeugte beim Zusehen Empathie.

Wenigstens das Problem der Identität wurde originell behandelt. So muss sich der renitente Querdenker Caleb der Erkenntnis stellen, dass er von vorne bis hinten konditioniert und manipuliert wurde, dabei sein halbes Leben vergaß, daran glaubte, dass sein bester Freund im Einsatz ums Leben kam, in Wirklichkeit aber von ihm selbst erschossen wurde. Und dass er nun von einer Frau, die eine intelligente und empfindungsfähige Maschine ist, zum neuen Messias auserwählt wird, während er selber voller Zweifel herauszufinden versucht, wer er wirklich ist. Ein ganz schön schwerer Rucksack.
Jede Revolution braucht einen Anführer, stellte Dolores ermutigend fest. Aber ihre Begegnung war kein Zufall, wie Caleb glaubt. Dolores hatte sie inszeniert und Caleb sollte sich in der nächsten Staffel ruhig mal Gedanken darüber machen, ob er nicht das perfekte Opfer ist.


Freier Wille und die Identitätsfrage sind natürlich Schlüsselprobleme der Serie gewesen und zum Teil auch geblieben. Nur verliert man im Gewirr der doppelbödigen Twists schon mal den Überblick. Man sollte sich daher daran erinnern, dass Dolores eigentlich ein Dolores/Wyatt-Hybrid ist und sich fragen, was das bedeutet. Man darf aber auch darüber nachdenken, dass Dolores und Maeve, die sich selbst als befreit wahrnehmen, kaum noch Skrupel haben, ihre Artgenossen nach allen Regeln der Kunst zu unterjochen, zu kontrollieren und zu manipulieren. In der aktuellen Staffel gönnt sich Maeve in einer Simulation das Vergnügen, eine ganze Einheit von deutschen Wehrmachtssoldaten aus purer Lust am Töten unter ihren Willen zu zwingen und mit bloßer Hand zu killen. In diesen Fragen überlassen Nolan und Joy dem Zuschauer das Grübeln und Nachdenken.

Nicht alles war schlecht in der dritten Staffel, aber diese guten Momente reichten nicht. Auch einige US-Kritiker fühlten sich emotional komplett neutralisiert, aber nur einer kam zu der weisen Einsicht, dass „Westworld“ nach der ersten Staffel auserzählt war.
Ganz falsch liegt er damit nicht. Ich hatte in der ersten Review zur dritten Season Ähnliches befürchtet: „In Westworld ging es anfangs niemals nur darum zu erklären, wie Hosts denken und fühlen lernen, sondern wie dies darüber Auskunft gibt, wie wir selbst denken und fühlen. „Westworld“ hatte uns dazu eine Linearität der Erzählung vorgegaukelt, die sich als großes, aber lösbares Rätsel entpuppte, das deshalb so kompliziert konstruiert wurde, damit der Zuschauer nicht nur rational, sondern auch emotional nachvollziehen kann, wie Bewusstsein aus der Erfahrung von Leid und Schmerz und der Erinnerung daran erwächst und wie dies alles zu einer Revolte der Hosts führt.“
 

Und das ist auch der große Unterschied zur 1. Staffel von „Westworld“: das Rätsel des Labyrinths konnte spätestens dann gelöst werden, wenn man sich alles zum zweiten Mal angeschaut hatte. Dabei entdeckte man, dass alles begründet und durchdacht war - und genau das machte die Serie zu einer der besten des neuen Jahrhunderts. Es war nicht zu erwarten, dass dies zu toppen ist. Aber das Gute an der Sache ist, dass man trotz aller Kritik und aller Zweifel immer noch das große Potential erkennen kann, dass diese Erzählung besitzt. 

Noten: BigDoc = 4

 

Westworld – Season 3, HBO 2020 – Showrunner: Jonathan Nolan und Lida Joy – 8 Episoden – D.: Evan Rachel Wood, Aaron Paul, Vincent Cassel, Jeffrey Wright, Thandy Newton, Tommy Flanagan, Hiroyuki Sanada, Angela Sarafyan, Ed Harris

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