Sonntag, 21. Juni 2020

The Vast of Night (Die Weite der Nacht)


„The Vast of Night“ ist ein Independent-Film, den niemand zeigen wollte. Erst beim Slamdance Film Festival 2019 konnte Andrew Patterson seinen Debütfilm zeigen. Steven Soderbergh, der auf dem Festival seinen mit dem iPhone gedrehten Film High Flying Bird vorstellte, war hingerissen. Doch erst, als Amazon Pattersons Sci-Fi-Geschichte ins Programm aufgenommen hatte, was sicher, dass diese kleine Perle des Genrekinos nicht in einem schwarzen Loch verschwinden würde.



Auf der Suche nach einer Geschichte

Meistens weiß man ja dank Internet doch eine Menge über die Filme, die man sich ansehen möchte. Ist es dann soweit, sieht man immer seltener etwas, was man nicht erwartet hat. Und wenn das mal doch geschieht, dann löst es komischerweise nicht immer Begeisterung aus. Hinter den dann in Foren auftauchenden Klagen über einen „stinklangweiligen Film“, bei dem man „auf der Stelle“ eingeschlafen ist, versteckt sich das plebiszitäre „Was soll das?“ - als ultimative Antwort auf die Versuche, Geschichten auf unerwartete Weise zu erzählen. Jim Jarmusch kann ein Lied davon singen.

In Andrew Pattersons Science-Fiction-Film „The Vast of Night“ schlendern ein Junge und ein Mädchen durch die Stadt. Sie treffen Bekannte, aber dann dreht sich alles um ein Tonbandgerät, das dem Mädchen gehört. Und die 16-jährige Fay Crocker (Sierra McCormick) will unbedingt wissen, wie es funktioniert. Dafür hat sie den geeigneten Kandidaten gefunden, den coolen und ziemlich barschen Everett „The Maverick“ Sloan (Jake Horowitz), der in der lokalen Radiostation die Platten auflegt, übers Wetter berichtet und sich launige Sachen einfallen lässt, um die Zuhörer bei Laune zu halten. Nach Science-Fiction sieht das zunächst nicht aus.


Wir sind in den 1950er Jahren, im fiktiven Chayuga in New Mexico. Wir sehen die Geschichte einer Nacht und wissen, dass „The Vast of Night“ ein Science-Fiction-Film werden soll. Aber nichtd weist darauf hin.
Man wartet lange, die Story will nicht so recht in Gang kommen und die Kamera schleicht den beiden Protagonisten hinterher. Meist in langen Totalen, die gelegentlich aus der Untersicht geschossen werden. Wie ein Akteur aus einem Willen heftete sie sich an die beiden, während Everett versucht, seine Begleiterin dazu zu ermuntern, spontane Interviews zu führen. Viele Gelegenheiten bieten sich nicht, denn die Einwohner des kleinen Kaffs sind mehrheitlich in der Sporthalle, wo das lokale Team ein Match austrägt. 
Und überhaupt: Fay traut sich nicht. Sie redet zwar wie ein Wasserfall, aber Interviews? Da fällt ihr nichts ein. Etwas ängstlich ist sie schon, weiß dafür aber etwas anderes zu berichten. Sie hat in einem Magazin gelesen hat, dass es irgendwann in ferner Zukunft Telefone geben wird, die man mit sich herumträgt und die kleine Videofenster besitzen. So kann man seinen Gesprächspartner beim Telefonieren sehen und wenn der mal nicht einen Anruf annimmt, wüsste man, dass er tot ist. Das ist nun wirklich Science-Fiction.


Everett hält weder das Gerät noch seinen fatalen Nutzwert für realistisch. Man trennt sich und Fay begibt sich in die Telefonzentrale, wo sie Menschen per Hand miteinander verbindet. Fay stöpselt ein und aus. Und irgendwann hört sie ein merkwürdiges Geräusch, ein Blubbern und Plappern im Äther, das sie noch nie gehört hat. Dann ruft eine panische Frau an, auf deren Anwesen sich etwas Unheimliches abspielt. Bevor sie mehr sagen kann, bricht die Verbindung ab. Aber Fay hat in ihrem Kopfhörer gehört, was auch die Anruferin gehört hat: das Blubbern und Plappern. Dann brechen auch andere Verbindungen ab.
Nun ahnt man dunkel, dass Aliens oder Monster oder was auch immer in Chayuga aufgetaucht sind.
 Da auch in dieser Szene die Kamera ohne jeglichen Schnitt und völlig unbewegt zuschaut, ahnt man auch, dass es für Sierra McCormick nicht leicht gewesen ist, diese lange Einstellung in einem Stück hinzukriegen. Und endlich beginnt die Science-Fiction in einem Film, der so aussieht wie ein Genrefilm, aber in Wirklichkeit auf der Suche nach einer originären Geschichte ist.

Erst Stil, dann Story

Andrew Patterson hatte es schwer mit seinem Debütfilm. 18 Festivals sagten ab, erst auf dem Slamdance Film Festival konnte Patterson seinen Film zeigen. Und prompt den Best Narrative Feature Audience Award 2019 gewinnen. Das reicht meistens, um danach wenigstens in der direct-to-DVD-Schiene vermarktet zu werden.
Doch dann wurde Amazon auf den Film aufmerksam und nahm ihn in sein Streaming-Angebot auf – ein kleines Wunder für einen Film, der sonst wohl nie eine breitere Öffentlichkeit erreicht hätte.
Das Wunder hat der skurrile Film auch verdient. Denn Andrew Pattersons Film zwingt den Zuschauer, einige Erwartungen über Bord zu werfen und genau hinzusehen. Es gibt dabei einiges zu entdecken. Zum Beispiel, dass man erst über den Stil in diesem Film die Story erreicht.
Die lässt Patterson am Anfang als Schwarz-Weiß-Episode des „Paradox Theatres“ auf einem alten Röhrenfernseher vor sich her flimmern, ehe die Kamera des Chilenen M.I. Littin-Menz in ein farbig werdendes Bild hineinfährt. Dieses Stilmittel geht über ein normales Framing hinaus, denn auch mitten im Film wird es gelegentlich wiederholt und das „Paradox Theatres“ erinnert dabei an Rod Serlings Anthologieserie „Twilight Zone.“

Das TV-Im-Film-Framing ist eine augenzwinkernde Hommage an diesen TV-Kultklassiker der 1950er Jahre, aber zum Glück dosiert Patterson, der nicht in den Credits auftauchen wollte und das Drehbuch unter einem Pseudonym verfasste, seine Referenzen und Anspielungen. Auch wenn sich Fay und Everett anfänglich wie in alten Screwball-Komödien von Howard Hawks rasante Wortgefechte liefern, bleiben weitere Verweise immer diskret unter dem Schwellenwert eines plumpen Zitats. 

Trotzdem dachten einige Kritiker an „It Came From the Outer Space“, „Them!“ (dts. Formicula), „The Blob“ oder „Invasion of the Body Snatchers“, aber diese Filme haben vielleicht atmosphärisch Pate gestanden, erzählerisch sind die Verbindungen zum Supernatural Horror eines H.P. Lovecraft und erst recht zu den X-Files deutlich größer.

Patterson selbst war an einer intensiven Einheit von Zeit und Schauplatz interessiert und orientierte sich an Filmen wie „‘71“ von Yann Demange. Die lange Einstellung in der Telefonzentrale, so erklärte er in einem Interveiw, ist dagegen eine Hommage an eine ähnliche Szene aus David Finchers „Zodiac“ und das Vorbild für die endlosen Gespräche zwischen Fay und Everett sind nicht die Filme von Howard Hawks, sondern eher die von Richard Linklater und seinem „Before Sunrise.“

Von den X-Files und den klassischen Sci-Fi-B-Movies der 1950er Jahre unterscheidet sich „The Vast of Night“ durch einen für H.P. Lovecraft typischen Erzähltrick, nämlich das Böse und Bedrohliche vor dem inneren Auge des Lesers zu verbergen, es wie etwas Unaussprechliches zu behandeln und den Horror der Geschichte aus der Atmosphäre der fauligen Landschaften, der verrotteten Orte und verfallenen Häuser, den makabren und uralten Riten einiger degenerierter Hinterwäldler oder den archäologischen Funden aus fürchterlichen Vorzeiten herauswachsen zu lassen. Treten die Figuren dann dem Unaussprechlichen gegenüber, dann ist es sowieso zu spät. Und denen, die entkommen, versiegelt es den Mund für immer.

So es in Andrew Pattersons Film nicht die Visualisierung des Horrors von Bedeutung, sondern die düstere Anwesenheit des Bedrohlichen, die allein durch stilistische Mittel ausgedrückt wird. Natürlich ist das in einem Low-Budget-Film, der mit 700.000 US-Dollar produziert wurde, anders auch nicht möglich, aber Patterson löst es geschickt. Mitten im Film rast die Kamera von M.I. Littin-Menz in einem tracking shot wie entfesselt durch das leere, nächtliche Chayuga. Die Fahrt beginnt in der Telefonzentrale, fliegt förmlich in die Sporthalle, verlässt sie und eilt zu Everett in seiner kleinen Radiostation. 

Erzählerisch macht diese teilweise mit einem Go-Kart gedrehte Irrsinnsfahrt keinen Sinn, atmosphärisch aber schon, denn die Kamera wird zu einem autonomen Akteur in dem Geschehen und ihre Absichten bleiben geheimnisvoll und unerklärlich. 

Steven Soderbergh, der „The Vast of Night“ beim Slamdance Festival sah, war von diesen stilistischen Mitteln restlos begeistert, weil er noch einen Debütfilm gesehen hatte, der Erzählung, Performance und Kamera so talentiert verbinden konnte wie es Andrew Patterson gelang. Der macht übrigens im Hauptberuf keine Filme, sondern Werbung.

People in the Sky

Aber jenseits des Stils ist da immer noch eine Geschichte zu erzählen. Ein nostalgischer Hauch der 1950er Jahre streift „The Vast of Night“, nachdem Fay endlich auch Everett von ihrem Erlebnis erzählt. Der wittert eine Story und fragt seine Hörer nach dem Geräusch. Kurz danach ruft ein Mann an, der sich Billie nennt und als Mitglied der Army an einem geheimen Einsatz teilnahm, bei dem ein merkwürdiges Objekt eine wichtige Rolle spielte. Die Soldaten konnten es nie sehen, aber in den Folgejahren wurden alle krank.
Auch Billie (Bruce Davis) bekommt man nicht zu sehen, aber zu hören. Und er bekommt unglaublich viel Screentime, um Everett seine Geschichte erzählen zu können. Am Ende räumt er fast entschuldigend ein, dass er „schwarz“ ist und plötzlich erinnert man sich, dass man in dem verschlafenen Chayuga bislang keinen Farbigen gesehen hat. Billies Wahrheitsliebe wirkt wie ein Menetekel, das Andrew Pattersons ganz nebenbei in seinem Film platziert hat. Wir sind im tiefweißen Teil der USA und alle aus Billies Einheit, die ihren fatalen Job erledigt haben, waren schwarz und wurden krank.


Am Ende sind Fay und Everett, ein Pärchen ohne love interest, wieder zusammen. Sie fahren immer noch durch die gleiche Nacht zu einer alten Frau. Mabel Blanche (Gail Cronauer) will alle Geheimnisse lüften, sie liest etwas von einem Zettel in Alien-Sprache vor, aber eigentlich erfahren Fay und Everett kaum mehr, als das es „people in the sky“ sind, die gelegentlich zurückkehren und sich Menschen holen. Und dann sehen Fay und Everett ein riesiges Raumschiff am Himmel über Chayuga…


Am Ende also dann doch die X-Files. Doch Fay und Everett sind nicht Scully und Mulder, sie sind überwältigt und haben keine Theorie oder gar deren Widerlegung. Sie umarmen sich und irgendwann zeigt die Kamera Fays Tonbandgerät, das von einer dicken Staubschicht bedeckt ist.
Es sind nicht nur die X-Files, die „The Vast of Night“ herbeizitiert. Es ist auch Roswell, es sind auch die alten Drive-In-Billigfilme der 1950er Jahre, die nicht nur Schrecken, sondern auch Lachen auslösten. Es sind die spinnerten TV-Shows, die auch heute noch existieren und die Tür zum Paranormalen öffnen wollen. All das ist Andrew Pattersons Film, der nichts erklärt, weil es wahrscheinlich am klügsten ist, nichts über die Motive der Aliens zu wissen. Daher ist alles möglich in einem Film, bei dem der Stil zur Story führt und dann wieder von der Story zum Stil. Andrew Patterson erfindet das Genre nicht neu, aber er zeigt, wie man neugierig in einen Film eintauchen kann, der an viele andere Filme erinnert und doch vieles ganz neu macht.


Note: BigDoc = 2


The Vast of Night (Die Weite der Nacht) – Amazon Studios 2019 – Laufzeit: 89 Minuten - Regie, Buch: Andrew Patterson – Kamera: M.I. Littin-Menz – D.: Sierra McCormick, Jake Horowitz, Gail Cronauer, Bruce Davis u.a.


Postskriptum

Manchmal überfällt es einen. Man kramt in den Regalen und sucht sich eine DVD mit einem 1950er Jahre-Genrefilm raus, wobei die Sci Fi-Perlen dieser Dekade die schönsten sind. Eigentlich paradox, denn die meisten B-Movies wurden sparsam produziert. Auch die Technik stieß aber auch bei ambitionierteren an ihre Grenzen, manchmal glaubt man die Drähte zu sehen, an denen die UFOs im Studio aufgehängt wurden. 

Wer die technischen Limitierungen dieser Zeit nicht historisch als state of the art eben dieser Zeit lesen kann, erhält wenigstens das Privileg des wohlwollenden Lachens über die scheinbare Primitivität der Filme, in denen die Aliens und Monster zwar nicht immer, aber doch sehr oft so aussahen, als seien sie aus Latex, Pappmaché und Stoffresten zusammengebastelt worden. „Aus heutiger Sicht wirkt er behäbig und technisch simpel“, schreibt das „Lexikon des internationalen Films“ über „It Came from Outer Space“ (1953).


Von productions values muss man im Rückblick also nicht reden. Die Geschichten mussten daher die Limitierungen der Trickspezialisten ausbügeln und witzig, ironisch, aber auch schreckhaft und etwas paranoid erzählt werden. Aber auch da gingen die B-Movies gelegentlich in die Knie, denn die Geschichten waren eher stereotyp, die fiktiven Figuren waren es auch und Stars gab es auch nicht sehen, es sei denn, sie wurden es später, etwa wie Steve McQueen, der in „The Blob“ reüssierte.
Und mal ganz ehrlich: die Dutzendware von damals kann man sich heutzutage sowieso nicht ansehen, zu kaufen gibt es allenfalls die Premiumfilme wie „Invasion of the Body Snatchers“ oder alte Jack Arnold-Streifen.


Und die Geschichten? Jeder Filmstudent im ersten Semester kann aus dem Stand aufsagen, dass die Sci Fi-Filme der 1950er Produkte des Kalten Kriegs waren, die die Angst vor den Sowjets und dem Kommunismus widerspiegelten und gelegentlich ein Reflex auf die McCarthy-Ära waren, dabei aber nie Roswell und die UFOs aus den Augen verloren haben. Auch durch Atomenergie zu Monstern mutierte Tiere waren sehr beliebt, deshalb taucht auch heute noch Godzilla in regelmäßigen Abständen in unseren Kinos auf, ohne dabei auf die damals handfest existierende Angst vor der atomaren Bedrohung zu stoßen.


Alles nur Schund?
Im Kern ist das eine kolonialistische Sicht auf die Filmgeschichte. Der überlegene Blick auf die vermeintlichen Schund- und Billigfilme entpuppt sich als Überlegenheitsgetue, das sich über die primitiven Vorfahren der heutigen Blockbuster amüsiert. Ein unreflektierter Blick, der einfach nicht wahrhaben will, dass viele aktuelle Filme keineswegs bessere Geschichten erzählen, sondern dank FX und CGI einfach mehr zu zeigen haben.
Und dieses hochnäsige und gönnerhafte Grinsen über Tarantula und Co. will ebenfalls nicht wahrhaben, dass sich die Kinogänger der 1950er eben doch angesichts der Latex-Pappmaché-Monster zu Tode erschreckten, weil die halt ausreichten, um archetypische Ängste freizusetzen.


Die Überlegenheitsgefühle haben einen dauerhaften Mythos fabriziert. Die Fakten sehen mal wieder anders aus. Einige Genrefilme der 1950er waren nicht nur state oft the art, sie waren auch innovativ und bahnbrechend. Für „Destination Moon“ (1950) bauten 100 Mitarbeiter über zwei Monate ein Studiopanorama der Mondoberfläche. Und um den Raketenstart möglichst realistisch darzustellen, entwickelte der Make-up-Spezialist Webster Philips ein Verfahren, mit dem man zeigen konnte, wie sich die Gesichtshaut der Astronauten aufgrund der G-Kräfte langsam zurückzog. Und überhaupt: alles sollte so glaubwürdig wie möglich sein.

Doch die kolonialistische Sicht auf die alten Filme hat sich in unseren Köpfen eingenistet. Über Jack Arnolds „The Incredible Shrinking Man“ (1957) schrieb der Katholische Filmdienst damals: „Zweitklassige Trickaufnahmen, viele hilflose Phrasen, törichte Gesamtgestaltung.“ Tatsächlich war Arnolds Film ein aufwändiges Beispiel für innovative Tricktechnik und kreative Ausleuchtung, eine klug erzählte Geschichte, die man sich auch heute noch anschauen kann, ohne das die Auge Schaden nehmen.
Filmgeschichte ist also keine Geschichte des unendlichen Progress. Sie steckt voller Sprünge nach vorne, aber voller trauriger Rückschritte. Auch heute sieht man vieles, was man erwartet hat und selten etwas, was man nicht erwartet hat. Über jeden Film, der verärgert, weil er nicht so ist, wie man es gehofft hat, sollte man sich daher grundsätzlich freuen. Wenn der erste Schreck vorbei ist…