Samstag, 25. Juli 2020

Sløborn – Die ZDFneo-Serie hätte gelingen können

Es war nicht beabsichtigt, aber nun ist die ZDF-Serie „Sløborn“ tatsächlich der erste Corona-Film geworden, obwohl das SARS-CoV-2-Virus gar nicht in der achteiligen Serie vorkommt.
Dafür wütet global und auch auf der Nordseeinsel Sløborn die Taubengrippe. Die Menschen sterben nicht diskret auf Intensivstationen, sondern aus Augen und Nase blutend vor aller Augen. „Sløborn“ ist also nicht zimperlich, hat viele gute und präzise beobachtete Momente, stellt sich am Ende aber durch stereotype Genremuster und ein fragwürdiges politisches Statement ins Abseits.


Die Seuche beginnt nicht in der ersten Folge. Sie ist schon längst da, weltweit gibt es Ausbrüche und auf dem Festland bereits die ersten Fälle, die in der Regel tödlich enden. Auf Sløborn, einer fiktiven Nordseeinsel mit deutsch-dänischer Vorgeschichte, könnte man es wissen. Eigentlich. Denn im Hintergrund laufen ständig Radios oder Fernseher. Und dort hört man viel über H5N1, das Virus und das hämorrhagische Fieber, das den Tod des Infizierten durch blutende Nase und Augen ankündigt. Aber auf Sløborn sind alle Insulaner in den Kokon ihre Probleme und Lebenskrisen eingesponnen. Die Medien ignoriert man, die Seuche ist weit weg. Diese Andeutungen und einige kleinteilige Beobachtungen ergeben kleine stimmige Skizzen am Rande und gehören noch zum Besten, was „Sløborn“ zu bieten hat.
Richtig los geht es, als eine scheinbar herrenlose Yacht an der Küste aufläuft. Das erinnert an das Totenschiff in „Nosferatu“ und verheißt nichts Gutes, Drei Jugendliche entern die Yacht und finden ein totes Ehepaar an Bord. Dass sie danach Überträger der Taubengrippe sind, können die Kids nicht ahnen. Sie werden als Superspreader das Virus auf die Insel einschleppen.


Charakterdrama oder Apokalypse-Thriller?

„Sløborn“ ist eine Serie, die Christian Alvert (u.a. „Tschiller: Off Duty“, „Dogs of Berlin“) für ZDFneo erdacht hat. Für die Exposition nimmt sich Alvert, der auch am Drehbuch beteiligt war, viel Zeit. Die Einführung der Personen ist trotzdem arg konventionell, gerade weil einige nicht interessant sind, aber so rappelvoll mit Drama und existentiellen Krisen aufgeladen wurden, dass man verärgert die Künstlichkeit der Fiktion spürt.
Es sind auch ziemlich viele Protagonisten, was erfahrungsgemäß sehr viel Können und Kreativität nötig macht, um sich im Geflecht der Handlungsfäden nicht zu verirren. Da ist zum Beispiel die fünfzehnjährige Evelin (Emily Kusche), die ein Verhältnis mit ihrem Vertrauenslehrer Milan (Marc Benjamin) hat und herausfinden wird, dass sie von ihm schwanger ist. Evelin wird zur Hauptfigur der Serie, erst recht, als sie sich mit einer Mutation des Erregers infiziert, der in ihr lebensrettende Antikörper produziert. Ist ein Serum in Sicht?

Evelins Eltern Helena (Annika Kuhl) und Richard Kern (Wotan Wilke Möhring) führen eine festgefahrene Ehe. Helena kommt nicht von der Insel los, Richard, ein Virologe, will nicht auf Sløborn versauern, sondern seine Karriere fortsetzen. Hier verblüfft die achtteilige Serie: Wotan Wilke Möhring führt prominent die Darstellerriege an, muss aber bestenfalls eine belanglose Nebenrolle ausfüllen, die streckenweise völlig aus der Handlung verschwindet. Möhrings besonderes Charisma so absichtsvoll zu verschenken, ist schon ein „Kunstgriff“ der besonderen Art. 

Stattdessen konzentriert sich „Sløborn“ auf Figuren wie den koksenden Erfolgsautor und Ingeborg Bachmann-Preisträger Nikolai Wagner (Alexander Scheer), den die Buchhändlerin Merit (Laura Tonke) für eine Lesung auf die Insel gelockt hat. Der Schriftsteller muss in sechs Wochen das Manuskript seines zweiten Romans abliefern, hat aber offenbar eine Schreibblockade und kümmert sich nur noch um seinen Drogenvorrat. Eine Figur, die überflüssig ist wie ein Kropf und die Handlung oft genug ins Leere laufen lässt. Ziemlich erwartbar überwindet er mitten im Pandemie-Chaos seine Krise und legt seiner vom Virus dahingerafften Muse den ausgedruckten Roman aufs Grab.

Interessanter sind da schon die Jugendlichen, vermutlich die Zielgruppe der Serie. Natürlich mobben einige, wenn sie nicht gerade hedonistischen Aktivitäten nachgehen. Oder sie sind Loser, wie der sensible „Herm“ (Adrian Grünwald), der unter seinem gewalttätigen Vater Mikkel (Urs Rechn) zu leiden hat. Der ist dummerweise der Inselpolizist, sodass Herm zumindest bei den Autoritäten keine Hilfe erwarten kann.

Und da ist auch noch der Ex-Kriminelle Magnus (Roland Möller), der mit seiner Mitarbeiterin Freja (Karla Nina Diedrich) und einem Haufen junger Straftäter auf der Insel auftaucht, um in einem Resozialisierungsprojekt einen alten Bauernhof zu renovieren. Dass in der heterogenen Gruppe einige gewaltbereite Intensivtäter stecken, sorgt - ebenfalls erwartbar - in den letzten Episoden für etliche Actionszenen.

So deutet die Exposition nach den beiden ersten Episoden ein gewaltiges, aber auch gewalttätiges Dramapotential an, das etwas soapig ist und sich nolens volens irgendwann entladen muss. Auf diese Weise funktionieren halt die Gesetze des Erzählens: wenn man ein so stark aufgeladenes Figurenensemble auf die Handlung loslässt, kann der serienerfahrene Zuschauer einen Großteil der folgenden Ereignisse locker antizipieren. Man hat schließlich in dystopischen Filmen und post-apokalyptischen Serien entsprechende Narrative bereits abgearbeitet.

Der Serie gelingen allerdings auch einige schöne und originelle Geschichten. Etwa die von „Herm“, der dem Inselbully Fiete (Tim Bülow) dank einer Erpressung näherkommt, bis die beiden beinahe schon eine Freundschaft verbindet und Fiete, den es erwischt hat, dem unerfahrenen Herm zeigt, wie man kurz vor seinem Tod nochmal richtig die Sau rauslässt. Auch Herms zart keimenden Liebesbeziehung zur schüchternen und in einer Endzeitsekte lebenden Yvonne (Linda Stockfleth) wird einfühlsam erzählt. Etwa wenn Yvonne, die sich eigentlich über den Tag des Jüngsten Gerichts und damit über die Rückkehr von Jesus freuen müsste, verzweifelt feststellt, dass Jesus ruhig etwas später kommen solle.
„Sløborn“ gelingt auch viel, wenn der Horror in Details und kurzen, genau beobachteten Einstellungen aufscheint. Da vermittelt das gemeinsame Trinken aus einem Flachmann dem Zuschauer genauso viel Schrecken wie das Teilen einer Zigarette, wenn man weiß, dass einer der beiden Raucher infiziert ist. Damit hat Christian Alvert lange vor Corona dem Detail die tödlichen Konsequenzen zugeschrieben, die wenig später zur Realität wurden.

Der Druck der Gewohnheit

Hat ZDFneo nun den ersten Corona-Thriller auf den Markt geworfen? Produktionsgeschichtlich nicht. „Sløborn“ ist lange vor Corona auf Norderney und im polnischen Sopot gedreht worden, nur in der Post-Produktion haben sich die Macher einige Querverweise gestattet.
So ist dem Autorenteam um Showrunner Christian Alvert durchaus Prophetisches gelungen, denn vieles von dem, was die Serie zeigt, entspricht ziemlich exakt dem, was wir in den letzten Monaten der Corona-Krise erlebt haben: eine zwar breite Zustimmung für Masken und die Abstandsregel, aber auch Ignoranz, Ablehnung und Verdrängung. Mit dem Erfolg der Verschwörungstheorien ist das nicht vollständig zu erklären.
In
„Sløborn“ ist es die Dominanz der persönlichen Lebensdramen, die den Blick auf die Monstrosität der Pandemie verstellt. Es sind auch die dickfelligen Menschen, die einfach keinen Bock haben, die heraufziehenden Gefahren zu erkennen. Auch nachdem es die ersten Toten gegeben hat, sind an sich kluge und gebildete Menschen intensiv damit beschäftigt, die Fakten zu verdrängen. Pfarrer Arne (Arnd Klawitter), der Mann von Merit, beharrt faktenresistent selbst dann noch auf einer richtigen Beerdigung und dem anschließenden gemeinsamen Beisammensein der Trauergemeinde, als auf der Insel längst die Maskenpflicht und die Abstandsregel eingeführt wurden.
Auch der Bürgermeister der Insel setzt sich gegen die Erkenntnis zur Wehr, dass die Taubengrippe längst seine Insel erreicht hat, während die eingeflogene Virologin Dr. Bachmann (Hannah Ehrlichmann) elendig daran scheitert, ihm die elementaren epidemiologischen Regeln in so einem Szenario beizubringen.
Ein Kommunikationsdesaster. Aber in diesen Szenen zeigt die Serie sehr überzeugend, warum der Wunsch nach Normalität wider alle Fakten virulent bleibt.


In solchen Szenen gelingt es „Sløborn“ also, das Kernproblem einer Pandemie nachzuzeichnen: viele Menschen können sich das Unvorstellbare nicht vorstellen, sie sind trotz gesicherten Informationslage und den explodierenden Hotspots auf dem Festland immer noch mitten im Leben, in ‚ihrem‘ Leben mit all seinen Gewohnheiten, die offenbar schwerer wiegen als alle Fakten.
Mit den Fakten ist es so eine Sache: so kommen die Medien schlecht weg in Alverts Serie. Sie übernehmen in
„Sløborn“ die Funktion der desinformierenden Social-Media-Kanäle und titeln schon mal reißerisch: „Das Virus existiert nicht.“ So überrascht es nicht, dass auch in „Sløborn“ nicht ganz klischeefrei durchdekliniert wird, was seit dem Mittelalter während Pandemien geschah, nämlich die Suche und „Bestrafung“ der Schuldigen, die alles eingeschleppt haben. Auf der Insel sind es nicht die Juden, sondern die Jungkriminellen aus Magnus‘ Rehaprojekt, die nächstens von einem fackelschwingenden Mob heimgesucht werden.

Es bleibt ein schäbiger Nachgeschmack

Am Ende mutiert aber nicht nur das Virus, sondern auch die Serie. Nach sechs Episoden sind viele der Protagonisten tot, die Bundeswehr hat die Kontrolle übernommen und jagt Fliehende, denn alle Insulaner sollen evakuiert und in eine zentrale Schutzeinrichtung gebracht werden. Die ist aber das Todesurteil für die Insulaner.

Dies hat die mittlerweile infizierte Evelin zuvor gründlich erfahren. Auch sie findet sich in einem Auffanglager wieder, das den völligen Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung dramatisch vorführt. Ärzte brechen mitten auf dem Flur blutend zusammen, die Sterbenden liegen wahllos in Zimmer und Gängen, Gesunde und Kranke werden zusammen eingepfercht, sozusagen zum gemeinsamen Verrecken.
Die ultimative epidemiologische Strategie lautet offenbar, jeden potentiellen Überträger ohne Aussicht auf medizinische Hilfe zu isolieren und seinem Schicksal zu überlassen. Dass die Bundesrepublik damit vor dem moralischen Shutdown steht, zeigt „Sløborn“ exemplarisch mit Bildern von Bundeswehr-Soldaten, die Menschen brutal misshandeln und jederzeit von ihrem Schießbefehl Gebrauch machen können. Hier kommt „Sløborn“ endgültig im Horrorgenre an.

Zum Schluss wird „Sløborn“ also ziemlich genreaffin und zieht auch kräftig vom Leder, als die Insulaner den bewaffneten Widerstand organisieren. Den inszenieren die Macher überraschend lieblos. Aber der Zuschauer wird zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr auf der Seite der kollabierenden Staatsmacht stehen, deren Repräsentanten durch Inkompetenz und Amoralität glänzen. So schlägt sich die Serie klammheimlich auf die Seite der rechten Verschwörungstheoretiker, zumindest unterbreitet sie dem Zuschauer, der es genauso sehen und verstehen will, die entsprechenden Angebote. 
Dass „die da oben“ sich in der Tradition des amerikanischen Paranoia-Thrillers gegen ihr Volk verschwören, ist zwar ein gängiger Genretopos und auch aktueller Zeitgeist, hat aber aufgrund der Distanzlosigkeit, die „Sløborn“ auf diese Weise heraufbeschwört, und trotz allem, was zuvor richtig gemacht wurde, einen billigen und schäbigen Nachgeschmack.

Note: BigDoc = 3,5

Sløborn – Deutschland 2020 – ZDFneo – 8 Episoden – Showrunner: Christian Alvert – Buch: Christian Alvart, Erol Yesilkaya, Henner Schulte-Holtey, Siegfried Kamml, Arend Remmers – D.: Wotan Wilke Möhring, Alexander Scheer, Emily Kusche, Laura Tonke, Roland Møller, Annika Kuhl, Adrian Grünewald, Tim Bülow, Urs Rechn, Marc Benjamin, Linda Stockfleth. Karla Nina Diedrich, Arnd Klawitter u.a.