Sonntag, 22. April 2018

The Handmaid’s Tale

Margaret Atwoods Roman The Handmaid’s Tale (1985, dts. Der Report der Magd) gehört zu den großen dystopischen Romanen der jüngeren Literaturgeschichte. 1990 hatte sich bereits Volker Schlöndorff an einer Verfilmung versucht, aber ausgerechnet dem relativ kleinen Video-on-Demand-Anbieter Hulu gelang 2017 mit einer zehnteiligen Serienadaption der große Wurf, und zwar lange vor MeToo.

Die Frauen werden in die neue Welt hineingeschleudert


Im Cold Open der ersten Episode „Offred“ (dts. Desfred) befindet sich die Hauptfigur June Osborne (Elisabeth Moss) mit Mann und Tochter auf der Flucht. Ihr Auto kommt ins Schleudern, June flieht mit dem Kind in einen Wald, sie hört Schüsse, kann nicht entkommen. Sie wird überwältigt, Hannah, ihre Tochter, wird verschleppt. June landet im „Roten Zentrum“, einem von den sogenannten „Tanten“ sadistisch geleiteten Umerziehungscamp, das sie einige Wochen später, in einen roten Mantel gehüllt, verlässt. Sie trägt nun eine weiße Haube („Flügel“), die verhindert, dass man ihr ins Gesicht sehen kann, und sie hat nur einem Zweck zu dienen: sie soll von ihrem „Kommandanten“ geschwängert werden. 

June heißt nun Desfred, eine Namensgebung, die das Besitzverhältnis klärt: Fred Waterford (Joseph Fiennes) heißt ihr Besitzer, sie ist also die Magd ‚des Freds‘ (engl. Offred) und soll Kinder gebären. Denn nicht nur Gilead, so heißt der neue repressive Staat auf amerikanischem Boden, leidet darunter, dass gebärfähige Frauen immer seltener werden. Schuld daran ist die Vergiftung der Umwelt, erklären die
neuen Machthaber, die sich „Söhne Jakobs“ nennen. Damit ist auch Gottes Schöpfung bedroht.
 Desfreds Überlebensgarantie besteht also nur noch aus ihrer Fertilität. Die muss aber unter Beweis gestellt werden. Und so wird Desfred, pünktlich am Tag ihres Eisprungs, der „Zeremonie“ unterzogen. Der zynische Euphemismus beschreibt jenen zeremoniellen Koitus, der nach einem freundlosen Schema abläuft: Desfred bettet ihren Kopf in den Schoß von Waterfords Frau Serena Joy (Yvonne Stahovski), während der Kommandant sie möglichst lustlos besteigt. Selten sah man Sex so mechanisch, so roboterhaft.

Acht Emmys und zwei Golden Globes gewannen Hulu und Showrunner Bruce Miller mit der Geschichte über unterdrückte und versklavte Frauen in einer faschistischen Diktatur und Hauptdarstellerin Elisabeth Moss („Mad Men“, „Top of the Lake“) wurde endgültig zur Ikone der weltweiten feministischen Bewegung.
In Deutschland sicherte sich die Telekom als Erster die Serie für ihr TV-Entertain-Angebot, Amazon und andere VoD-Anbieter zogen nach. Seit Mitte März liegt die Erfolgsserie auf DVD und Bluray vor. Der Start der zweiten Staffel folgt am 25. April 2018. 


„Spekulative Fiktion“ nannte Margaret Atwood ihren Roman. Vielen Rezensenten erscheint der fiktive Staat Gilead mit seinem christlich-fundamentalistischen Programm dagegen sehr real, zumindest denkbar. Gerade im Zusammenhang mit den Weinstein-Enthüllungen und der rasch aufkommenden MeToo-Bewegung gilt die 2017 gestreamte Hulu-Serie mittlerweile als geradezu prophetisch. So war es nicht überraschend, dass „The Handmaid’s Tale“ sich förmlich aufdrängte, als direkter Kommentar zu den aktuellen politischen Ereignissen gelesen zu werden – von Donald Trump zu Harvey Weinstein, von der Alt Right-Bewegung bis zu den Vertretern des Christlichen Rekonstruktionismus.
„Die Welt, wie wir sie kennen, ist nicht für immer garantiert“, kommentierte die Süddeutsche alarmiert.
 

In der neuen Welt spielt Elisabeth Moss die Rolle der Unterworfenen mit ihrer typischen Zurückhaltung und nuanciertem Mienenspiel wieder einmal ziemlich exzellent. Gelegentliche Anflüge eines renitenten Lächelns deuten Widerstand an. Später wird sie allerdings toben, wüten, schreien.
Die Anpassungsleistungen ihrer Figur sind dennoch enorm, zumindest am Anfang. Neben vollständiger Devotion, einem züchtigen und nach unten gerichtetem Blick, wird auch eine universelle Einförmigkeit des Geistes von den Mägden verlangt. Dazu gehört auch die Formelhaftigkeit der Sprache, überhaupt scheinen die Frauen im Laufe der Zeit Opfer einer umfassenden Infantilisierung zu werden. Ihre Anpassung lässt sich mit dem Stockholm-Syndrom vergleichen.
Wenigstens June aka Desfred kann sich im Off Luft verschaffen, wenn sie ihre neue Herrin ein „frömmelndes Stück Scheiße“ nennt oder ihre Unterwerfung kommentiert: „Ich will schreien. Ich will das nächste Maschinengewehr greifen!“

Wie in vielen dystopischen Szenarien werden die Figuren in die neue Welt förmlich hineingeschleudert.
Ohne Junes Off-Kommentare und ohne die Flashbacks, in der ihre Vorgeschichte erzählt wird, könnte die Serie nicht funktionieren - die unterdrückten Frauen würden schnell hinter ihren grotesken Uniformen und der einförmigen Sprache verschwinden und buchstäblich gesichtslos werden. Die Flashbacks konfrontieren dagegen die neue christliche Diktatur permanent mit dem, was Menschen zuvor in einer zivilen Gesellschaft waren, bevor sie unterworfen wurden. Auch Männer haben es in der neuen Klassengesellschaft nicht leicht: wer unten gelandet ist, darf nicht heiraten und muss niedere Dienste verrichten.


„Als wir irgendwann von unseren Telefonen aufblickten, war es zu spät"


„The Handmaid’s Tale“ verzichtet zunächst auf eine vollständige Rekonstruktion der politischen Verwerfungen, die zum Zusammenbruch der USA geführt haben. 
Die Gründe für den Kollaps werden später bruchstückhaft zusammengesetzt. Es war keine Partei, sondern eine ‚Bewegung‘, die in allen Bundesstaaten Einfluss gewann und über para-militärische Einheiten verfügte. Die Machtübernahme erfolgte schnell und brutal: Der US-Kongress wurde in einem brutalen Gewaltakt ausgelöscht, ebenso der Oberste Gerichtshof. Die Taten schreibt man Terroristen zu und von einem Tag auf den anderen werden plötzlich die Konten der Frauen gesperrt, die kurz danach auch ihre Jobs verlieren. Massenproteste auf den Straßen werden mit Maschinengewehren zusammengeschossen.

June ist eine gut gebildete Intellektuelle, aber offenbar völlig unpolitisch. Sie bereut dies: „Als wir irgendwann von unseren Telefonen aufblickten, war es zu spät." Die neuen Machthaber haben eine explizit frauenfeindliche Agenda, errichten in Windeseile eine Gesellschaft mit einer Klassenstruktur, in der auserwählten Männern die vollständige Entscheidungsgewalt gehört und in der den Frauen nicht nur das Lesen verboten wird – es ist auch gefährlich, lesen zu können.

Alles folgt einer vorgeblich wahrhaftigen biblischen Auslegung, einer fundamentalistischen Auslegung, die Frauen nur einen einzigen Wert zugesteht: sie müssen gebärfähig sei. „Gesegnet sei die Frucht“ und „Unter seinem Auge“ sind die Grußfloskeln, die nun von den versklavten Frauen verwendet werden müssen. Frauen, die sich nicht fügen, verlieren eine Auge, jene, die schreiben, wird eine Hand abgeschlagen, Lesben werden aufgehängt oder, falls sie gebärfähig sind, einer vollständigen Genitalverstümmelung unterzogen. Öffentliche Hinrichtungen gehören zur täglichen Routine. Homosexuelle, egal ob männlich oder weiblich, werden ebenso gehenkt wie katholische Priester. Auch katholische Kirchen werden niedergerissen. Und die Mägde? Sie haben das Privileg, Missetäter rituell umzubringen. Sie steinigen sie. Auch die Erinnerung an Kultur und Geschichte soll wie bei Orwell komplett ausgelöscht werden. Das, was von den USA übriggeblieben ist, wirkt so, als hätten die Taliban das Land übernommen.

Dieses Horrorszenario bricht in der Serie also herein wie eine Naturkatastrophe. Es spiegelt aber die grundsätzliche Schwäche von Dystopien wider: den Verzicht auf eine klare Analyse der gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen, die zum Kollaps einer liberal-aufgeklärten Gesellschaft führen können. In „The Handmaid’s Tale“ erfährt man nur am Rande, dass Gilead offenbar von der Weltgemeinschaft mit Sanktionen belegt wird. Vielen Verfolgten gelingt es trotz engmaschiger Kontrollen ins demokratische Kanada zu fliehen, das die Refugees human behandelt – sie werden nach festgelegten Quoten auch von kooperierende Staaten übernommen. 

Ansonsten liegt „The Handmaid’s Tale“ lange unter einer erzählerischen Blase. Die Handlung findet, abgesehen von den Flashbacks, indoor statt. Der klaustrophobische Druck wird auf diese Weise verstärkt, die neuen Verhältnisse erlebt der Zuschauer als gegeben und unüberwindbar. 
So zeigt die Hulu-Serie, dass es Männer mit automatischen Waffen sind, die auf den Straßen patrouillieren und für den Machterhalt sorgen, unterstützt von einem gut funktionierenden Geheimdienst, der Widerstand und Häretiker ausschaltet.

Der Verzicht auf eine historisch relevante Vorgeschichte verstärkt den Horror, den die Serie mit enormer Wucht etabliert, er sorgt auch für eine straffe Erzählökonomie, verzichtet aber zunächst darauf, das zu analysieren, was Kathleen Hildebrand in der „Süddeutschen“ nur behaupten konnte: „…die Zeit vor der Diktatur, an die Offred sich erinnert, ist unsere allernächste Zukunft.“

Tatsächlich orientiert sich „The Handmaid’s Tale“ eher an Margaret
Atwoods mittlerweile über 30 Jahre alten Roman. Es ist eine prä-digitale Revolution, deren Zeuge wir werden und es fällt schwer, sich vorzustellen, dass moderne Fundamentalisten auf Twitter und Facebook verzichten würden.

Widerstand oder Gewöhnung?


Ob Kathleen Hildebrands pessimistische Einschätzung zutrifft? „The Handmaid’s Tale“ interessiert sich wie viele andere Dystopien weniger für Analysen, vielmehr wird die innere Dynamik einer repressiven Gesellschaft nachgezeichnet. Am spannendsten ist dabei die Frage, ob ein brutaler Unterwerfungsprozess unweigerlich Widerstand auslösen wird oder seine Opfer zwingt, ihre neue Rolle mit innerer Überzeugung anzunehmen. Zumindest Desfred findet am Ende eine Antwort: „Sie dürfen uns nicht in Uniformen stecken, wenn sie nicht wollen, dass wir eine Armee sind.“
Dass
auch ohne Widerstand die Revolution ihre Kinder selbst auffrisst und ein reaktionäres System zwangsläufig auf Widersprüche und ein kollektives Systemversagen hinauslaufen wird, deutet der von Ralph Fiennes gespielte Kommandant an. Fiennes spielt diese Rolle mit Bravour. Als frömmelnden Eiferer zeigen ihn die Flashbacks, aber Fiennes Darstellung deutet schnell an, dass seine introvertierte Figur als andere als eindimensional ist. Denn Waterford beginnt sich zunehmend für seine „Magd“ zu interessieren und lässt sie durch seinen Fahrer Nick Blaine (Max Minghella) nachts in sein Arbeitszimmer bringen. Dort spielt er mit Desfred Scrabble (was natürlich verboten ist, da Frauen, die nicht lesen dürfen, auch nicht gestattet werden kann, Wörter zusammenzusetzen – eine schöne Metapher).
Für Desfred, die bei diesen Treffen zunehmend selbstbewusster auftritt und eigene Pläne zu haben scheint, eine lebensgefährliche Situation.
 Doch Waterford handelt keineswegs altruistisch, wenn er Desfred großzügig Modemagazine schenkt. Bigotterie ist das Privileg der Mächtigen. Als Waterford Desfred von der Genitalverstümmelung einer anderen Magd berichtet, zeigt sich sein kaltes Ego: „Wir wollen die Welt besser machen (…) Besser bedeutet nicht besser für alle, es bedeutet immer: schlechter für manche.“

Ralph Fiennes legt seine Rolle damit sehr differenziert aus: Mimisch irgendwo zwischen schmerzvoll-sensibel und moralisch korrupt. Er wird Desfred zu seiner Mätresse machen. Gemeinsam besuchen sie ein illegales Bordell, in dem die Mächtigen ihre Phantasien ausleben. Szenen, die an Pier Paolo Pasolini erinnern und alles andere als klischeefrei sind. Man hat so etwas erwartet. Und vielleicht macht es die Serie den Zuschauern auch etwas zu einfach, wenn sie die Bordelle der Mächtigen zeigt, in denen Orgien mit versklavten ehemaligen Anwältinnen, Journalistinnen und Professorinnen stattfinden.

Im Übrigen ist
The Handmaid’s Tale“ aber eine Geschichte über starke Frauen. Erst spät wird in Flashbacks nacherzählt, welche Rolle Waterfords Frau Serena Joy (Yvonne Strahovski) in der Bewegung als wichtige Aktivistin gespielt hat. Eine kompromisslose rechte Intellektuelle war sie, die Bücher über „häuslichen Feminismus“ geschrieben hat. Die dürfen allerdings nach der Revolution nicht mehr gelesen werden. „Wir haben ihnen zu viel Freiraum gelassen“, konstatiert ein Verschwörer. „Diesen Fehler werden wir nicht wiederholen.
Nach der Machtergreifung wird Waterford ein wichtiger Wirtschaftsexperte in Gilead. Serena Joy erfährt dagegen, dass die Marginalisierung der Frauen auch sie erfasst hat. Ihre Bücher landen im Müll. Die einzige Vision, die überlebt hat, ist ein Kind.
Serena Joy
verkuppelt ihre ‚Leihmutter‘ Desfred deshalb mit Nick. Sie ahnt, dass ihr Mann offenbar steril ist.
Die entmachteten Frauen  verlieren ihren Einfluss also nicht vollständig. Aber auch das zeigt „The Handmaid’s Tale“: Frauen sind die härteren Fundamentalisten und sie schlagen erbarmungslos zurück, wenn Männer die Integrität der Bewegung bedrohen. 

Yvonne Strahovski macht daher den blonden Racheengel Serena Joy zur heimlichen Hauptfigur der Serie: faszinierend gespielt als Frau, die entscheidend die Revolution vorangetrieben hat und nun von ihr aufgefressen wird. Ihre kalte Wut wird gelegentlich von frömmelnder Empathie durchbrochen, aber der brutale und gewalttätige Machtkampf zwischen ihr und Desfred wird zeigen, dass die Antwort auf die Frage „Widerstand oder Gewöhnung“ nicht nur für die Mägde entscheidend sein wird.

Zwischen Nick, der tatsächlich der Geheimpolizei angehört und als „Auge“ seinen Kommandanten ausspäht, und Desfred entwickelt sich danach eine Beziehung, die Desfred nutzt, um Nick zu verführen. Frei gewählte Sexualität als Akt der Selbstbestimmung: Ist dies die einzige Form des Widerstands? Es wird nicht reichen.


Die politische Instrumentalisierung der Serie


Zur spannenden Rezeptionsgeschichte von „The Handmaid’s Tale“ gehört die politische Instrumentalisierung der Serie. Sie fiel verblüffend aus.
Elisabeth Moss
signalisierte nach ihrer Auszeichnung als „Beste Darstellerin“ bei den Emmy Awards und den Golden Globes, dass die Serie eine menschliche Geschichte erzählt, „weil Frauenrechte Menschenrechte sind.“ 
Der anschließende Shitstorm wütender Feministinnen zwang die Schauspielerin dazu, die Serie dann doch als „feministische Geschichte“ zu etikettieren.
Political Correctness, wir lernen es daraus, ist eben in ihrem Furor nicht immer von dem zu unterscheiden, was aus ehrenwerten Gründen ‚korrigiert‘ werden soll. Dass ausgerechnet die bekennende Scientologin Elisabeth Moss, von der gemunkelt wurde, sie solle von der Kirche mit Tom Cruise verkoppelt werden, Objekt einer feministischen Ikonisierung wurde, ist allerdings ein spannendes Phänomen. Denn Margaret Atwood hat ihr 1985 geschriebenes Buch nie als feministische Bibel betrachtet. Daran ändert auch nichts die Rezeptionsgeschichte, die aus „The Handmaid’s Tale“ ein Kultbuch der Frauenbewegung machte. Im Gegenteil. Atwood sah im militanten Feminismus durchaus ein doktrinäres Element, das gnadenlos mit Abweichlerinnen umsprang.
Elisabeth Moss kann ein Lied davon singen.
Eine feministische Geschichte erzählt die Serie trotzdem, aber das ist nicht alles. „The Handmaid’s Tale“ ist im Kern eine Geschichte über den Faschismus im Gewand einer christlich-fundamentalistischen Revolution, die über das konservative Rollback, das wir in Teilen von Europa derzeit erleben, entschieden hinausgeht.
Neu ist das nicht: Eine frauenfeindliche Agenda gehörte historisch betrachtet schon immer zu den manifesten Bestandteilen einer faschistischen Diktatur. Auch der deutsche Nationalsozialismus („Lebensborn“) funktionierte Frauen zu Gebärmaschinen um. Eine konsequente ideologiekritische Auseinandersetzung sollte diese Zeichen der Zeit lesen können. Auch wenn „The Handmaid’s Tale“ die Unterwerfung der Frauen in den Mittelpunkt stellt, ist dies nur ein Aspekt eines viel wichtigeren Themas.

Die Instrumentalisierung der Serie folgte aber auch einer politischen Agenda, die man zunächst nicht erwartete: nämlich das Margaret Atwoods Roman und die Serienadaption etwas anderes bedeuten sollen – man müsse „The Handmaid’s Tale“ ‚eigentlich‘ als explizite Kritik des fundamentalistischen Islam und seines repressiven Frauenbildes lesen.

Es könnte witzig sein, wenn es nicht so traurig wäre: Linke und Frauenrechtlerinnen bestehen auf einer Lesart, die keine Alternativen zulässt. Neokonservative stülpen der Serie ihren eigenen Kanon über, obwohl jeder, der auch nur eine Folge gesehen hat, ziemlich schnell erkennen kann, dass auch dies völliger Unsinn ist.

Umdeutungen wie diese sind heutzutage leider en vogue. Was nicht passt, wird passend gemacht. Warum dies Humbug ist, lässt sich schnell erklären: „The Handmaid’s Tale“ erzählt davon, wie eine faschistische Diktatur funktioniert, die eine neue Herrenkaste etabliert und seine Macht festigt, indem sie innere und äußere Feinde definiert. 
Misogynie passt gut dazu.
In der fiktiven Welt von Gilead ist das Vehikel der christliche Fundamentalismus, der auf eine lange Vorgeschichte zurückblickt. Die Parallelen zum fundamentalistischen Islam sind erkennbar, aber die Hulu-Serie zeigt eben, dass diese Programmatik auch ziemlich gut mit einer repressiven Bibelauslegung funktioniert. 
Als Instrument einer generalisierenden Islam-Feindlichkeit taugt „The Handmaid’s Tale“ jedenfalls nicht, obwohl der salafistische Islam und die erzreaktionären Fundamentalisten im Namen Gottes im Kern am gleichen Strang ziehen. Wer dies ausblendet, hat nicht nur nichts verstanden, sondern konterkariert auch die Essenz der Serie, die generell davor warnt, dass die Traditionen eines demokratischen und liberalen Laizismus schneller zerstört werden können, als man denkt.
„Als wir irgendwann von unseren Telefonen aufblickten, war es zu spät."

Es ist dabei nicht ganz so wichtig, ob die christlichen Fundamentalisten in „The Handmaid’s Tale“ glauben, was sie sagen, oder ob sie Ideologie lediglich als Werkzeug der Macht benutzen. Beides ist der Fall, das haben historisch auch andere Diktaturen gelehrt. Auch in der Hulu-Serie gibt es Puristen, die ihren Mitstreitern die Hand abhacken lassen, wenn sie gegen die rigide Moral der Bewegung verstoßen.
Interessanter sind daher die aktuellen Querverweise. Kathleen Hildebrand verweist zu Recht auf den amerikanischen Vize-Präsidenten Mike Pence, der sich hartnäckig weigert, sich mit Frauen allein in einem Raum aufzuhalten – es sei denn, es ist seine Frau. Pence, der damit der fundamentalistischen Billy-Graham-Regel folgt (Vermeidung von Unzucht), ist zudem konsequent homophob und musste sich dafür sogar Donald Trumps Spötteleien anhören: angeblich möge sein Vizepräsident keine Frauen und wolle alle Schwulen aufhängen, witzelte der nicht gerade als feministischer Hardliner bekannte US-Präsident.

Wie sehr jede Form von Fundamentalismus eine Gesellschaft aushöhlen kann, kritisierte bereits vor Jahren der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter, der aus der „Southern Baptist Convention“ austrat. Carter griff die Allianz aus evangelikalen Fundamentalisten und Neokonservativen danach hart an. Gemeint waren vor allen Dingen evangelikale Bewegungen, Sekten und Kirchen, die von autoritären Männern geführt werden, die nicht nur Frauen beherrschen, sondern auch die liberale Gesellschaft umformen wollen. Alles auf der Grundlage eines manichäischen Weltbilds, in dem ein Kampf zwischen dem Licht und der Finsternis tobt.

Nur verbreiten jene im Licht leider auch sehr viel Dunkelheit, und das schon vor Beginn der Neuzeit. Klassenstrukturen, asketische Prinzipien und extreme Sexualfeindlichkeit, Verachtung der Frauen, Bekämpfung Andersgläubiger als Feinde, Verteufelung von Scheidung, Ehebruch, Abtreibung und Homosexualität sowie die Aufhebung der Trennung von Staat und Kirche sind eine Programmatik, die über 2000 Jahre alt und die Carter in den evangelikalen Bewegungen seines Landes wiederentdeckte. Dazu gehört auch die Verklärung des Krieges: „God is pro-war“, stellte der bekannte christliche Fundamentalist Jerry Falwell fest.

Diese moralische Schizophrenie ist beunruhigend. „The Handmaid’s Tale“ kann also als eine dystopische Beschreibung dessen gelesen werden, was wir zu erwarten haben, wenn christliche Fundamentalisten ihr Gesellschaftsmodell umsetzen können. Diese rektionäre Utopie entspricht auch sehr exakt den Vorstellungen des sogenannten Christlichen Rekonstruktionismus, der in den UA keine unwichtige Rolle spielt.
Die Bewegung um ihren calvinistischen Vordenker Rousas John Rushdoony ist ausdrücklich anti-demokratisch („Christianity and democracy are inevitably enemies“), fordert nicht für Homosexelle die Todesstrafe, sondern auch für eine Reihe anderer Häresien, leugnet den Holocaust und hat eine theokratische Gesellschaft im Sinn, die nicht weit von dem entfernt ist, was „The Handmaid’s Tale“ erzählt. 

Herrschen soll eine „spirituelle Aristokratie“, Bürgerrechte, Gewerkschaften und öffentliche Schulen sollen abgeschafft werden, Frauen gehören an den Herd und sollen am besten auch nicht das Haus verlassen. Die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong brachte dies konsequent auf den Punkt: der Christliche Rekonstruktionismus ist kaum noch von einer faschistischen Bewegung zu unterscheiden.
Das, was in der Hulu-Serie zu sehen ist, entspricht in fast allen Punkten dem Programm dieser Bewegung - Steinigung inklusive. Und Mike Pence gilt als das Trojanische Pferd, das die Fundamentalisten in die Trump-Administration eingeschleust haben.


„American Girl“


Am 25. April geht es weiter. 13 Episoden soll die zweite Staffel von „The Handmaid’s Tale“ erhalten. Eigentlich ist die Geschichte auserzählt, denn die erste Staffel endet in etwa so wie Margaret Atwoods Roman. Also ziemlich schlüssig. Aber was heißt auserzählt? Bruce Millers Serie ist längst Kult, es muss also weitergehen.

Das ist auch o.K., denn „The Handmaid’s Tale“ gehört trotz der enormen Serienflut im Peek TV zu den Highlights des vergangenen Jahres. Nicht nur wegen der beklemmenden Geschichte. Die Serie macht kaum etwas falsch. Überragend ist der exzellente Cast, der bis in die Nebenrollen sorgfältig besetzt wurde. Etwa mit Ann Dowd („The Leftovers“) als „Tante Lydia“, die für ihre Rolle als sadistische und hingebungsvoll gläubige Ausbilderin der Mägde einen Emmy erhielt (Outstanding Supporting Actress) und auf verstörende Weise zeigte, wie eine völlig neue christliche Empathie und brutale Gewalt eine symbiotische Beziehung herstellen können, die bei Zuschauen einen Würgreiz auslöst.

Bemerkenswert sind auch die Settings: Architektur und Ausstattung spiegeln das Selbstverständnis der neuen Führungskaste kongenial wider - altmodisch, bieder und auf verklemmte Weise luxuriös. Auch für das Production Design erhielt die Serie einen der vielen Emmys.

Den Vogel schoss „The Handmaid’s Tale“ aber mit seinem brillanten Soundtrack ab. Adam Taylors Score tastet sich wie einem Horrorfilm mit minimalistischen Mitteln und auf bedrohliche Weise langsam an die Figuren heran, eine unterschwellige und wellenartige Musik, die bedrohlich an ‚Nordic Noir‘-Filme erinnert. Taylor verwendete nicht nur Streicher und andere klassische Instrumente, sondern auch Synthesizer, um seine Klangteppiche zu entwickeln.

Hart kontrastiert wird Adam Taylors Score durch die Songs, die einige Schlüsselszenen illustrieren: „Don‘ You Forget About Me“ von den Simple Minds ist zu hören, wenn Desfred zum ersten Mal von Waterford in sein Arbeitszimmer bestellt wird. Peaches singt „Sucking on my titties like you wanted“ aus „Fuck The Pain Away“, Blondies „Heart of Glass“ ist ein sarkastischer Kommentar, wenn June und ihre Freundin Moira nach der Machtergreifung protestierend durch die Straßen ziehen und dann das Feuer auf die Frauen eröffnet wird. Und wenn Emily aka Ofglen (Alexis Biedel) operativ die Genitalien verstümmelt werden, ist Jay Retards punkiges „Waiting For Something“ zu hören.

Waterfords und Desfreds Besuch von Jezebel’s Club, dem Bordell der neuen Herrenmenschen, wird von Jefferson Airplay mit „White Rabbit“ auf den Punkt gebracht, denn der „Abschaum“ (Waterford), mit sich die mächtigen Männer amüsieren, hat freie Auswahl über alle denkbaren Drogen.

Einen Schlusspunkt setzt dann Nina Simones „Feeling Good“ in der letzten Episode, wenn die Mägde zum ersten Mal revoltieren, bevor in den Credits Tom Petty and the Hartbreakers mit „American Girl“ die erste Staffel beenden: „Well, she was an American girl, raised on promises. She couldn't help thinking that there was a little more to life somewhere else.“

In einer Gesellschaft, in der jedwede Kultur vernichtet wurde und in der keine Bücher und keine Musik mehr existieren, beseitigt die Musik dieses lärmende Schweigen. 


Eine Besprechung der zweiten Staffel gibt es hier.

The Handmaid’s Tale – Hulu, USA 1017 – 10 Episoden - nach dem Roman „The Handmaid’s Tale“ von Margaret Atwood – Showrunner: Bruce Miller – Musik: Adam Taylor – D.: Elisabeth Moss, Joseph Fiennes, Yvonne Strahovski, Max Minghella, Alexis Biedel, Ann Dowd, Samira Wiley.