Sonntag, 26. Februar 2023

The Handmaid’s Tale – Staffel 5: Die Rache ist mein.

Showrunner Bruce Miller und sein Writer’s Room hatten ein Problem. Das Zentrum des Erzählraums war nicht mehr Gilead, sondern Kanada. Und June Osborn ist nun in Kanada und trägt bereits seit der 4. Staffel nicht mehr die rote Haube einer Magd. Würde ihr nach dem letzten Staffelfinale ein Weg zurück in die Normalität gelingen?

Natürlich nicht. Junes Mission ist noch nicht beendet. In Staffel 5 gelingt es den Machern von „The Handmaid’s Tale“ die Erzählorte Kanada und Gilead geschickt in einen Plot zu integrieren, der als Rachefeldzug beginnt. Und ein neues Thema wurde im Writer's Room auch gefunden. Die neue Staffel ist von Magenta zu Amazon gewandert und erzählt auch die Geschichte von drei Frauen, die um ihre Kinder kämpfen. Dabei durchläuft die Hauptfigur eine Entwicklung, die mit einem unerwarteten Cliffhanger endet.

„Die Rache ist mein, ich will vergelten“, spricht der Herr

Alttestamentarisches und Traumatologie rücken in der 5. Season von „The Handmaid’s Tale“ ins Zentrum der Geschichte von June Osborne (Elisabeth Moss). In der vierten Staffel gelang der von ihren Unterdrückern Offfred genannten Hausmagd die Flucht nach Kanada und am Ende sogar die blutige Rache am Gilead-Commander Fred Waterford (Joseph Fiennes). Zusammen mit anderen Opfern des religiös-faschistischen Männerstaats tötete June zusammen mit bloßen Händen den Mann, der sie im selbsternannten Gottesstaat zeremoniell vergewaltigt hatte. Tatsächlich geschwängert wurde sie aber von Waterfords Chauffeur, dem „Auge“ Nick Blaine (Max Minghella).
Junes Rache an Waterford war nur möglich, weil der zwischen allen Fronten taktierende Commander Lawrence (Bradley Whitford) und Nick einen Gefangenenaustausch anders abwickelten als geplant. Fred Waterford, der mit seiner Frau nach Kanada entführt wurde, hatte Insider-Wissen an die Behörden geliefert. Aber statt in ein sicheres Exil ausgeflogen zu werden, sollte er an Gilead ausgeliefert werden. Dort drohte ihm ein Prozess. Aber bereits im Niemandsland zwischen Gilead und dem freien Kanada wartete der Tod auf ihn.

Mit der Rache ist es so eine Sache. Hat man sie vollzogen, stellt man fest, dass die Euphorie ausbleibt. Stattdessen: innere Leere. Auch June braucht einige Zeit, um sich nach der Tat das Blut aus dem Gesicht und von den Händen zu waschen. Danach Wut, Desorientierung.
Die Befreiung ihre Tochter Hannah ist in weite Ferne gerückt und Serena Waterford (Yvonne Strahovski) ist immer noch am Leben. Die Frau des toten Commanders hat mit den Kanadiern und Mark Tuello (Sam Jaeger), dem Vertreter der US-amerikanischen Rest-Regierung, einen Deal vereinbart und erfreut sich im Gastland einer zunehmenden Schar von Anhängern, die querdenkend und devot das Gilead-Modell dem Willen Gottes zuschreiben. Völlig unerwartet wurde Serena in Toronto schwanger – für das faschistische Regime Gileads ist die Frau des Verräters eine interessante strategische Option im PR-Kampf geworden.
Für June ist die kühl kalkulierende Frau dagegen das nächste Ziel. Die Vergeltung will sie nicht Gott überlassen.

Für eine grandiose Schauspielerin wie Elisabeth Moss ist es keine Herausforderung, den eskalierenden Hass einer vergewaltigten Frau zu spielen. Und der präsentiert sich am besten, wenn die Kamera von oben ein Closeup filmt und die hasserfüllten Augen Junes von unten ins Objektiv starren. Da ist der Wahnsinn nicht allzu fern. Allerdings auch nicht die Befriedigung eines archaischen und alttestamentarischen Gerechtigkeitsgefühls angesichts der Brutalität eines selbsternannten Gottesstaats, der Frauen als Gebärmaschinen missbraucht oder als Haussklavinnen hält. Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Die schauspielerische Leistung von Elisabeth Moss ist auch in der neuen Staffel überragend. Da bewährte Regisseure und Regisseurinnen wie Mike Barker und Kari Skogland in der 5. Season nicht mehr an Bord waren, führte Moss, wie auch in der 4. Staffel, in den ersten beiden Episoden „Morning“ und „Ballet“ und in der letzten Episode selbst die Regie. Auch das gelang ihr recht gut. Moss spielt die von Hass zerfressene Frau entsetzlich glaubhaft, auch wenn sie gelegentlich knapp am Outrieren vorbeisegelt. Aber die Emotionalität der Figur ist ist das Ergebnis eines schweren Traumas und auch wegen der kommenden Ereignisse keine Überraschung. Trotzdem hofft ihr Mann Luke (O.T. Fagbenle), dass June in Kanada zurück in die Normalität findet. Das wird nicht so schnell geschehen. Denn Traumata kommen, um zu bleiben. 

Überzeugende Figurenentwicklung

Dass sich die 5. und vorletzte Staffel auf die Auseinandersetzung zwischen June und Serena konzentriert, ist folgerichtig, aber nicht unproblematisch. Das dramatische Potential dieses Themas ist begrenzt und würde zehn Episoden nicht tragen. Für die Erzählung ist die Verschiebung der Handlungsachse nach Kanada allerdings logisch, aber die brachiale Wirkung der Serie bestand für die Zuschauer in den ersten drei Staffeln aus dem Horror, der durch die brutal-realistische Darstellung eines misogynen und bigotten Systems entstand. Nun ist Gilead fern und die Zuschauer müssen sich neu orientieren.

Showrunner Bruce Miller und seinen Writer’s Room standen dramaturgisch also vor einer Herausforderung. Der Kernplot war im Wesentlichen auserzählt, neue Spannungsbögen mussten entwickelt werden. Gelöst wurde das Problem durch einige Subplots in Gilead und eine Konzentration auf die Charakterentwicklung der Figuren.

Ein Subplot führt zurück nach Gilead und erzählt die Geschichte von Esther Keyes (Mckenna Grace) weiter. Die 14-jährige Ex-Frau eines Kommandanten unterstützte in Staffel 4 die Widerstandsbewegung Mayday, nachdem sie Opfer einer Gruppenvergewaltigung durch andere Kommandanten wurde. Ihre Strafe war hart: Esther wurde eine Handmaid und von „Tante“ Lydia (Ann Dowd), der sadistischen Ausbilderin der Handmaids, später der Obhut von Janine Lindo (Madeline Brewer) überlassen.
Janine war zuvor mit June geflohen, wurde aber von den „Augen“ gefangengenommen und zurück nach Gilead gebracht. In Ep 2 „Ballet“ vergiftet Esther sich und Janine. Beide überleben die suizidale Aktion nur knapp.
Zwischen Janine und Tante Lydia entwickelt sich in der Folge eine überraschend emotionale Beziehung, die auch der exzellenten Performance von Ann Dowd zu verdanken ist. Man sieht, wie
Tante Lydia qualvoll ihre Empathie wiederentdeckt und nach Erklärungen sucht, weil sie im Begriff ist, die jungen Frauen als Menschen wahrzunehmen. Sie entwickelt angesichts der Gewaltexzesse des Regimes eine unerwartete Empathie für ihre Zöglinge und besonders für Janine, ohne dabei das System Gileads generell in Frage zu stellen. Eine Dialektik, die nicht funktionieren kann. Aber man merkt: Im Gottesstaat ist der Wurm drin.

Auch der von Bradley Whitford gespielte Commander Lawrence verändert sich unerwartet. Lawrence, der als Witwer und damit als unverheirateter Mann eine Außenseiterrolle in Gilead spielt, hatte zuvor nicht nur June geholfen, sondern auch mit der femininen Untergrundbewegung Mayday kooperiert.
In der 5. Staffel entwickelt er sich zu einem moderaten Reformer, der Gilead den Schrecken nehmen will. Mit seinem Projekt „New Bethlehem“ sollen nach Kanada geflüchtete Frauen und ihrer Familien zurückgeholt und in einer liberalen „Freidenker“-Zone angesiedelt werden („Dort dürfen Frauen auch Bücher lesen“). Lawrence, der zu den Gründervätern Gileads gehörte, holt sich die dafür erforderliche Macht mit der brutalen Liquidierung eines politischen Gegners zurück und versetzt damit die anderen Kommandanten in Angst und Schrecken.
Bradley Whitford spielt sehr nuanciert eine Figur mit einer dissoziativen Persönlichkeit. Lawrence ist nicht bereit, die Kernidee Gileads aufzugeben, weiß aber, dass es so nicht weitergehen kann: Gileads Elite ist zu korrupt. Lawrence erkennt auch aus politisch-strategischen Gründen, dass der Terror des Regimes durch Gegenterror bekämpft werden muss, damit sich etwas ändert.
So wird Lawrence der Robespierre von Gilead: Terror gegen das Verbrechen verschafft der Zukunft Gileads, so hofft Lawrence, auch außenpolitisch mehr politische Sicherheit. Vor den Augen seiner Frau wird daher ein Kommandant, der eine Handmaid vergewaltigte und als Entschuldigung mit seinen sexuellen Privilegien prahlte, von Nick erschossen. Die Witwe des Toten zwingt Lawrence später zu einer Eheschließung. Danach ist Lawrence die Nummer eins in Gilead. Ob er einen durch und durch dogmatisch-fundamentalistischen Religionsstaat reformieren kann, bleibt eine offene Frage. Wir wissen ja, was mit Robespierre geschah...

Es geht um die Mütter

Plottechnisch ist das raffiniert genug, um den Spannungsbogen nicht abreißen zu lassen. Zwar ist das Pacing in den ersten vier Episoden langsam, aber das war es in früheren Staffeln auch. In der zweiten Hälfte nimmt die 5. Staffel dann spürbar mehr Fahrt auf. Und auch das emotionale Thema der Staffel wird immer deutlicher: es geht um die Mütter.
Nicht nur um June, die immer noch hofft, ihre zwölfjährige Tochter Hannah retten zu können, die mittlerweile für eine bevorstehende Ehe ausgebildet wird. Es geht auch um Janine, deren devote Unterwürfigkeit nur dem Zweck dient, in die Nähe ihrer eigenen Tochter zu gelangen. Und es geht um Serena, die schwanger nach Gilead zurückkehrt, dort aber nicht die erwünschte politisch Rolle spielen kann.
„Sie sind eine ungewöhnliche Frau. Und wir haben nicht die geeignete Infrastruktur dafür, dass ungewöhnliche Frauen in unseren Grenzen leben könnten“, erklärt ihr Lawrence zynisch. Und so landet Senena plötzlich in der Familie eines Kommandanten, dessen Frau sich auffällig für Serenas Schwangerschaft interessiert.

Deutlich nach oben zeigt die Spannungskurve ab der 5. Episode „Fairytale“. Dass June und Luke sich nach Gilead begeben, um dort von einer Widerstandsbewegung wichtige Informationen über den Aufenthaltsort Hannahs zu erhalten, ist ein nicht gerade plausibler Plot-Twist. Er gehört zu den Erzähltricks, bei denen man den Kopf schüttelt, aber genannt zuschauen muss. Ziemlich erwartbar werden daher June und Luke von den „Augen“ gefangengenommen. Aber überraschend ist dann doch, dass es ausgerechnet die hochschwangere Serena ist, die June vor der Exekution rettet und mit Hilfe der verhassten Gegenspielerin ihr Kind in einer Scheune zu Welt bringt.

Showrunner Bruce Millers Plotline wirkt in der Geschichte von Serena und June etwas überkonstruiert, aber wenigstens führt dies zu spannenden Dialogen über weibliche Solidarität, die keineswegs voraussetzt, dass man sich mag. Man spürt förmlich, wie es in den Köpfen der beiden Frauen zu ticken beginnt. Dies gibt den beiden Frauen einige neue Facetten mit auf den komplizierten Weg, gerade weil der Zuschauer nie weiß, was dabei Taktik, Lüge, Charade und Ehrlichkeit sind.
Zumindest June erhält nach ihrer langen Hassphase ihre Empathie zurück. Auch die Action zieht das Tempo an, denn nach ihrer gemeinsamen Flucht landet Serena in Kanada als illegale Immigrantin im Knast und wenig später erneut in Gilead, nur um zu erfahren, dass ihre Gastgeber, die Familie des Kommandanten Wheeler (Lucas Neff), es auf ihr Baby abgesehen haben.
Erniedrigt und gedemütigt findet sich Serena plötzlich in der Rolle einer Handmaid wieder, die zudem der ziemlich soziopathischen Frau Wheelers (Genevieve Angelson) ausgeliefert ist. Aber sie hält ans Junes Rat, sich nämlich scheinbar zu unterwerfen, um heimlich an einem Rachekomplott zu arbeiten. Aber vor der Rache kommt das Fegefeuer. Hier hatte man im Writer’s Room wohl die Idee, Serena eine Lektion zu erteilen. Den Zuschauer wird’s freuen.

Keine neue Heimat: Xenophobie in Kanada

Auch wenn die Plotline einige Stolpersteine nicht vermeiden kann, ist es Bruce Miller und seinen Autoren gelungen, der Geschichte in der zweiten Staffelhälfte mehr Dramatik und Drive zu geben. Ein langweiliges Familien- und Dialogdrama, das sich in den ersten Folgen anzubahnen schien, wurde damit vermieden.
Getragen wird die Serie aber nicht nur durch den facettenreichen, nicht immer unkomplizierten Plot, sondern noch mehr als zuvor von einer brillant aufspielenden Elisabeth Moss. Als June erlebt sie eine emotionale Berg- und Talfahrt aufgrund ihrer Liebe zu zwei Männern, Luke und Nick, die auch die Väter ihrer Kinder sind. Sie muss auch die Erfahrung machen, dass sie im vermeintlich liberalen Kanada den Tod fürchten muss. Zweimal überlebt sie Anschläge und in beiden Fällen sind es xenophobe Kanadier, die sie erschießen oder mit dem Auto überrollen wollen.

Denn auch in Kanada hat sich einiges geändert. Die zeigen drastisch die verstörenden Bilder von Gilead-Fans, die Serena Waterford wie einen neuen Heiland feiern. Auch misogyne Männer, die Gilead als gesellschaftliche Alternative begrüßen, werden lebensgefährlich. Zudem hat sich in der kanadischen Gesellschaft der Ausländerhass breitgemacht. Der Mob protestiert auf den Straßen, auf den Pappschildern werden Sprüche hochgehalten wie „Make Canada great again“ oder „Amis go home!“, ein Hass, den die Behörden nicht mehr ignorieren wollen. Die nach Kanada geflüchteten Amerikaner müssen erneut fliehen und verlassen in „Safe“, der zehnten und letzten Episode, in Scharen das Land.

Mit solchen Bildern, die von Kamerafrau Nicola Daley mit entsättigten Farben und ziemlich düsteren und damit realistischen Bildern fotografiert wurden, gelingt es „The Handmaid’s Tale“ das Erzähllevel hochzuhalten. Und auch politische Kommentare vor dem Hintergrund einer denkbaren Dystopie abzugeben. Wie Opfer einer Seuche scheinen scheinbar normale Menschen urplötzlich primitiven Hass und eine Nähe zum Autoritarismus zu entwickeln.
„Zu kurz denkende Leute, die ihr Ego über Solidarität stellen oder die im Krieg in der Ukraine auf die Propaganda einer Diktatur hereinfallen, als hätte es den Nationalsozialismus in Deutschland nie gegeben, Opfer und Täter verwechseln und einem Diktator Zugeständnisse machen würden für einen falschen Frieden“, schrieb Matthias Halbig für rnd.de.

Ob man die Analogien der Serie auf den Ukraine-Krieg ausweiten muss, kann man bezweifeln. Aber ganz falsch ist das nicht, denn im Kern zeigt „The Handmaid’s Tale“, dass die Conditio humana eine sehr fragile Natur besitzt. Die Geschichte um June Osborne ist also längst nicht auserzählt. Erst recht nicht, weil sich am Ende der letzten Episode June und Serena in einem Zug voller verzweifelter Flüchtlinge zusammen mit ihren Kindern gegenüberstehen. Auch ohne viele Worte wird dieser Cliffhanger von Elisabeth Moss und Yvonne Strahovski schauspielerisch herausragend gespielt. Zwei Frauen ohne Heimat, zwei Mütter, die einfach nur noch überleben wollen.

Note: BigDoc = 2

„The Handmaid’s Tale“ – USA 2022 - Network: Hulu – Produktion: MGM Television - Staffel fünf, zehn Episoden – Nach Motiven des Romans von Margaret Atwood - Showrunner: Bruce Miller - Regie: Elisabeth Moss, Bradley Whitford, Natalia Leite, Eva Vives, Dana Gonzales - D.: Elisabeth Moss, Yvonne Strahovski, Ann Dowd, Max Minghella, Bradley Whitford, Madeline Brewer u.a.

Blogarchiv