Dienstag, 28. Juli 2009

Die Klasse

Frankreich 2008 - Originaltitel: Entre les murs - Regie: Laurent Cantet - Darsteller: (Mitwirkende) François Bégaudeau, Vincent Caire, Rachel Régulier, Anne Langlois - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ohne Altersbeschränkung - Länge: 128 min.

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es in den zurückliegenden Monaten so heftige Diskussionen über einen Film gegeben hat wie dies gestern nach zwei überaus fesselnden Stunden der Fall war. Bis kurz nach Mitternacht wurde verhandelt und debattiert – dies zeigt, dass Kino nicht nur emotional bewegen kann, sondern in einem diskusiven Sinne die Frage an uns richtet: Was tun?
Die Frage ist nahe liegend, allerdings erst auf den zweiten Blick, denn in „Entre les murs“ geht um eine Klasse in einem französischen Ghetto, um Kinder aus Migrantenfamilien, im wortwörtlichen Sinne um Menschen ‚zwischen den Mauern’ sozialer Chancenlosigkeit und sprachlicher Beschränktheit. Und dennoch ist man schnell bei den deutschen Verhältnissen angekommen und damit bei der Frage „Wie gehen wir mit diesen Problemen um? Hat auch unser Bildungssystem versagt? Ist Multi-Kulti gescheitert?“.

Formal sehr authentisch

Worum geht es in „Die Klasse“?
Zunächst zur Form: Die Klasse basiert auf dem Roman „Entres les murs“ des französischen Lehrers François Bégaudeau; an der Verfilmung durch Laurent Cantet war Bégaudeau nicht nur beteiligt (Drehbuch), er spielt auch die Hauptrolle, nämlich den Lehrer François. Natürlich ist „Die Klasse“ fiktional, wobei ich nur en passant darauf hinweisen will, dass nur sehr schlichte Gemüter der Fiktion generell eine geringere Sinnhaftigkeit unterstellen als zum Beispiel dem Dokumentarfilm. Dokumentarische Filme sind genauso konstruiert wie fiktionales Erzählen, was übrigens jeder, der aus mehreren Stunden Material eine 30-minütige Reportage geschnitten hat, schneller begreifen lernt als in einem theoretischen Kino-Workshop.
Sehr praxisnah war hingegen der Workshop, in dem französische Schüler aus dem 20. Arrondissement zusammengezogen wurden, um sich auf ihre Rollen in "Entre les murs" vorzubereiten. Gearbeitet wurde also mit Laiendarstellern, die überwiegend einen Migrationshintergrund haben und die ihre eigenen sozialen Erfahrungen zu diesem Thema einbringen konnten und damit wesentlich an der Rollenentwicklung beteiligt waren. Bei den Dreharbeiten wurde weniger auf Script und Dialogregie wert gelegt. Vielmehr wurde auf der Grundlage realer Vorbilder viel improvisiert, was der Fiktionalität einen direkteren Bezug zur Realität gab, als man es gemeinhin gewohnt ist.
Aufgenommen wurde alles mit drei Kameras, zwei davon mit festen Positionen, so dass sowohl die Perspektive auf den Lehrertisch als auch der Gegenschuss ins Klassenzimmer für eine bruchlose Kontinuität sorgte. Die dritte Kamera war ‚frei’, konnte also für weiteres Material sorgen, z.B. Großaufnahmen etc.

Aus diesem Material entstand ein zweistündiger Film, der im Wesentlichen in den Grenzen des Klassenzimmers spielt und nur gelegentlich das Lehrerzimmer oder den Konferenzraum zeigt, in dem sich später der Disziplinarausschuss der Schule einfinden wird. „Die Klasse“ wirft den Zuschauer nach einem kurzen Prolog, in dem sich zu Anfang des neuen Schuljahrs die Lehrer miteinander bekannt machen, sofort in den Schulalltag der 13- bis 15-Jährigen, der –ganz direkt formuliert- erschreckend ist. François, der in etwa dem entspricht, was bei uns ein Deutschlehrer ist, versucht seinen Schülern die französische Sprache beizubringen. Seine Schüler kommen allerdings von den Antillen oder aus Mali, aus China oder aus Tunesien. Und schon bald wird erkennbar, dass es hier nicht um Sprachunterricht für Kinder geht, sondern um den verzweifelten Versuch, dem zusammengewürfelten Haufen aus aller Herren Länder jenes Französisch beizubringen, dass Sprachwissenschaftler gerne den ‚elaborierten Code’ nennen. Dies ist keineswegs eine Form der Hochsprache, wie sie nur in gutbürgerlichen Kreisen gesprochen wird, sondern der erste Schritt beim Gewinnen einer Sprachkompetenz, die erforderlich ist, um sich auch in der Schriftsprache angemessen artikulieren zu können. Es ist ganz schlicht Teilnahme an einem Wort- und Bedeutungsschatz, über den die anderen verfügen. In der Klasse von François sprechen die meisten 'irgendwie' Französisch, einige mehr schlecht als recht, aber auch bei denen, die fließend sprechen, ist es die Sprache der Straße, reduziert und arm an Worten. So versteht niemand in der Klasse die Bedeutung eines Wortes wie „Herablassung“, obwohl alle, und dies zeigt der Film, das entsprechende Gefühl spüren und damit kennen. Es herrscht der restringierte Code - so nennen dies wiederum die Sprachwissenschaftler, wenn die Erfahrung nicht mehr in Begriffe gefasst werden kann und wenn die fremden Begriffe nicht mehr in Erfahrung und Teilnahme zurückübersetzt werden können. Was zum Teufel soll man mit dem "Tagebuch der Anne Frank" anfangen, wenn man nicht versteht oder spürt, dass Menschen schreiben, um sich mitzuteilen?

Interessiert ist an dererlei Wissensgewinn in der Tat keiner der Jugendlichen. François redet ‚vor die Wand’, während sich seine Klasse gelangweilt mit anderen Dingen beschäftigt oder sogar aggressiv die Zumutungen des Lehrers zurückweist. Eine Lektion über den Konjunktiv Imperfekt macht François klar, dass zwischen ihm und seinen Zöglingen eine unüberwindbare Mauer besteht: „So redet doch niemand!“. Aber dies wisse man doch durch Intuition, erwidert François. „Was ist Intuition?“, lautet die Gegenfrage. Nun weiß man endlich auch als Zuschauer, dass man zwar Worte benötigt, um etwas zu erklären, aber wenn die erklärenden Worte selbst nicht bekannt sind, dann scheitert nicht nur die Sprache, sondern auch das Konzept von Aufklärung und Information.
Dies erschreckt. Überhaupt fällt es schwer zu akzeptieren, was man in "Die Klasse" sieht. Das überwiegend sinnfreie Zerfließen der Zeit, der ständige Kampf zwischen dem Lehrer und seinen überwiegend ablehnenden Schülern erzeugt auch ohne Zuspitzung eine ungeheure Spannung. Regisseur Laurent Cantet hat aber keineswegs auf einen dramaturgischen Plot verzichtet, denn einige Schüler rücken immer mehr in den Mittelpunkt der Handlung: Auf der einen Seite muss François die immer dreister werdenden Provokationen von Esmeralda („Ich bin keine Französin, und wenn doch, dann bin ich nicht stolz darauf!“) und Khoumba parieren (die sich immer mehr zurückzieht und unverhohlen die als diskriminierend empfundenen Sprach-Belehrungen aggressiv kontert), aber er muss sich auch zunehmend mit dem renitenten Marokkaner Souleymane auseinandersetzen, der den von François definierten Disziplincodex immer wieder herausfordert, bis schließlich Blut fließt und der Disziplinarausschuss der Schule zu einer Reaktion gezwungen wird. Dort bleibt der Betroffene sprachlos, nur das, was seine ebenfalls anwesende Mutter vorbringt, übersetzt er lustlos, Ausdruck einer völligen Abwesenheit von ‚Betroffensein’. In „Die Klasse“ geht es somit nicht mehr um soziale Probleme, die man verhandeln kann, sondern um den Verlust der Sprache, einen fundamentalen Verlust, der die Verhandlung sinnlos macht. Ein weiteres Beispiel: Als François zwei Schülerinnen vorwirft, sie hätten sich verhalten wie „Schlampen“, überschreitet er die sprachlichen Grenzen in der falschen Richtung, weil er nicht begreift, dass die Adressaten dieses Wortes es entschieden anders konnotieren als er. Die so Deklarierten wollen keine Huren sein, der Lehrer beteuert, dass das Wort eine andere Bedeutung hat. Und wer besitzt die Deutungshoheit?

Das neue Proletariat wird nicht politisch sein
Spätestens nach der ersten Stunde hatte sich im Filmclub während des Hinschauens bedrückendes Entsetzen breit gemacht, denn diese Schüler sind Loser. Aber befreit sie das von der Verantwortung für sich? Man ahnt es: es ist ihnen egal. Sie werden dieses Problem nicht einmal intuitiv erkennen, da sie nicht wissen, was "Intuition" bedeutet und sie auch nicht spüren können. Sie werden, von einigen Ausnahmen abgesehen, chancenlos am Tropf des Sozialstaates hängen. Vielleicht sind sie auch dabei, wenn in Paris wieder Autos abgefackelt werden und die Türen der Slums einige Nächste lang sperrangelweit offen stehen.
Schade nur, dass für den deutschen Zuschauer hier leider einiges unverständlich bleibt, und es ist eigentlich auch die einzige Schwäche des filmischen Konzepts, dass nämlich der Blick nie über die Mauern gleitet und zeigt, dass diese Pariser Klasse einer Mittelschule (!) im 20. Arrondissement in einem Stadtteil zu finden ist, den seine Bewohner zynisch „das Ghetto“ nennen. Wer dort gelandet ist, kommt nicht mehr raus, das wissen die Jugendlichen, und Wissen ist schon längst nicht mehr ein geeigneter Modus Operandi, der eine soziale Chance bietet, sondern nur noch eine Provokation. Und auch der Lehrer, der seinen Schülern mit unüberhörbarer Ironie klar macht, dass sie dumm sind, ist eine Provokation. Nicht die Dummheit ist für die Schüler das Problem, sondern der Umstand, dass da jemand ist, der beweisen kann, dass sie dumm sind. Der elementare Trieb, mehr zu wissen, um bessere Chancen zu bekommen, ist verschwunden. An seine Stelle ist primitiver Hedonismus und eine herausfordernde Affirmation des Nichtwissens getreten. So gesehen, wird das neue Proletariat nicht mehr politisch handeln können, sondern nur noch anarchistisch reagieren und sich in seinen kulturellen Enklaven abkapseln.

Dies mag provozierend klingen, wenn man sich an die Political Correctness (nicht nur) der Spätsechziger hält, die im Sub-Proletariat der großen Metropolen nur die Opfer eines Bildungssystems erkennen können, das offenbar versagt hat. Tatsächlich, und dies ist das pädagogische Dilemma, verwandeln sich diese Opfer aber in Täter. Und wenn es nicht der Ausbruch von Gewalt ist, der durch sie droht, so ist es doch die Demontage der jämmerlichen Reste von Pädagogik durch diese Unwilligen, die den wenigen, die noch mitmachen wollen, die letzten Chancen nimmt. „Die Klasse“ zeigt dies an Souleymane, der zunehmend wütend und auflehnend reagiert und am Ende von der Schule fliegt, auch wenn dies möglicherweise dazu führt, dass ihn seine Familie zur Strafe zurück nach Marroko schickt: im Lehrerzimmer wird darüber geschwafelt und um den heißen Brei herumgeredet, in Worten, die kaum das Anderssein dieser Schüler beschreiben können, Ausdruck einer Hilflosigkeit, die auch François kennzeichnet. Dieser junge Lehrer ist alles andere als ein geschickter Pädagoge (ich war schon sehr erstaunt, wie positiv ihn einige Kritiker skizziert haben). François ist vielmehr eine Katastrophe: kein Lob ohne Ironie (ein Stilmittel, dass bildungsferne Schüler sowieso nicht verstehen), keine Kenntnisse der soziokulturellen Parameter seiner Schüler, hart in der Durchsetzung disziplinarischer Maßnahmen, dann aber auch voller Zweifel und abwiegelnd, wenn es um die Konsequenzen dieser Handlungen geht. Der Mann ist, sorry, eine einzige Panne und sein kläglicher Versuch, seinen Schülern das „Tagebuch der Anne Frank“ näher zu bringen, ist deshalb so kläglich, weil er sich verzweifelt an die Reste eines Bildungskanons klammert, der schon deshalb scheitern muss, weil seine Schüler nicht einmal elementarste historische Kenntnisse besitzen und allein schon aus diesem Grund keine literarische Empathie entwickeln können.

Ich habe „Die Klasse“ letztendlich als Dokument einer kulturellen Dekonstruktion verstanden, die uns vermutlich auch hierzulande erwartet, wenn sie nicht schon längst eingetreten ist. Die Migrationsproblematik scheint mir dabei nicht einmal besonders entscheidend zu sein. Wenn man sich mit deutschen Lehrern unterhält, erfährt man einiges über die Verzweifelung, mit der unsere Pädagogen auf den zunehmenden Verfall der Sprachkultur reagieren, der auch bei Schülern aus deutschen Familien beobachtet wird. Man kann in diesem Zusammenhang sicher über die zunehmende Bedeutung audio-visueller Medien bei gleichzeitigem Niedergang der Lesekultur sinnieren – Fakt ist, dass Praktiker davon berichten, dass bereits Realschüler sich dem Sprachniveau nähern, das vor 10, 15 Jahren durchweg mittelmäßigen Hauptschülern zugesprochen wurde.

Vielleicht ist es die beängstigend authentische Nähe zu diesem Phänomen, die dafür sorgt, dass „Die Klasse“ eine so starke Reaktion bei uns hervorrief. 2008 erhielt der Film die Goldene Palme bei den 61. Filmfestspielen von Cannes – zunächst sicher etwas erstaunlich, aber verständlich, wenn man diesen Film mit seiner enormen Sogwirkung gesehen hat. Dazu gehören auch die kleinen Details, die verblüffen und verstören und die man fast übersieht. Am Ende des Schuljahrs fragt François seine Schüler, was sie denn gelernt hätten. Zu Einen ist es die gnadenlos sarkastische Esmeralda, die ihrem Lehrer süffisant berichtet, dass sie ein zufällig gefundenes Buch gelesen hat: Platons „Der Staat“. Und sie vermag das Wesentliche in eignenen Worten auszudrücken („Hoffentlich die richtige Lektüre für Schlampen“). Ein schlechter Drehbucheinfall oder das letzte Glimmen einer nicht gemaßregelten Lust am Lernen? Und nach der Stunde ist es eine unscheinbare Schülerin, die allein mit François zurückbleibt. Mit gesenktem Kopf gesteht sie, sie habe nichts gelernt. Wirklich nichts. François versucht sie wortreich vom Gegenteil zu überzeugen. Vergeblich. „Ich will nicht mehr“, sagt das Mädchen. Abspann.


Noten: BigDoc = 2,5, Klawer = 2, Mr Mendez = 3, Melonie = 2

Mittwoch, 1. Juli 2009

Chiko

Deutschland 2007 - Regie: Özgür Yildirim - Darsteller: Denis Moschitto, Volkan Özcan, Moritz Bleibtreu, Fahri Ogün Yardim, Reyhan Sahin, Lilay Huser, Philipp Baltus, Hans Löw, Lucas Gregorowicz - Prädikat: wertvoll - FSK: ab 16 - Länge: 92 min.

Chiko ist ein türkischer Kleindealer, der im Hamburger Kiez lebt, also in einer anderen Welt als der spießig-bürgerliche Schreiber dieser Zeilen, der „Chiko“ deshalb am liebsten dem Science-Fiction-Genre zuordnen möchte. Chiko fährt mit seinen Jungs um den Block. Im Auto hämmert Suburban Hip Hop und die Typen quatschen sich mit „Alder“ und „Digger“ an, was irgendwie schon komödiantisch wirkt. Aber wir sind nicht in „Kebab Connection“, es wird daher auch nicht besonders lustig, denn Chiko (Denis Moschitto) meint es ziemlich ernst. Er will nach oben. Als er einen anderen Dealer ‚abzieht’, gerät Chiko mit dessen Boss aneinander: Brownie (Moritz Bleibtreu) ist als Kiez-Größe ein anderes Kaliber als Chiko und sein Freund Tibet. Aber Chiko hat Glück. Er kann Brownie davon überzeugen, ihn anstelle des verprügelten Zuträgers einzustellen. Nun kann es nach oben gehen.

Zum Score des Films gehört ein Titel von KWA (Kanaken wollen alles) aus ‚Hammerbrooklyn’, und der beginnt mit „Du erkennst kaum dein eigenes Spiegelbild. Du bist zum Scheitern verdammt, bevor das Spiel beginnt.“
Özgür Yildirim, der bislang einige preisgekrönte Kurzfilme gedreht, gelingt in seinem von Fatih Akıns und Klaus Maecks Produktionsfirma Corazón International produziertem Erstling von Anfang an, diese bedrohliche Möglichkeit des Scheiterns am Horizont aufziehen zu lassen, ohne dabei elegisches Noir wie in einem der klassischen französischen Gangsterfilme à la Melville zu zelebrieren. Yildirims Helden sind ungebildet und roh, aber raffiniert und innerhalb ihres Machismos anfällig für Sentimentalitäten. Das sind gute Zutaten für eine dichte, zupackende Gangsterballade. Seine Vitalität bezieht „Chiko“ aus fast dokumentarisch wirkenden Alltags- und Familienszenen, andererseits aus einem rhythmischen Erzähltempo, das nicht nur durch den Score, sondern auch durch einen unruhig machenden, aber keineswegs hektischen Schnitt, langsam, aber unerbittlich gesteigert wird, bis allen, dem Zuschauer und den Protagonisten, keine Luft zum Atmen bleibt.
Das große Vorbild „Mean Streets“ von Martin Scorcese schaut ständig um die Ecke, aber Yildirim zitiert nicht, sondern transportiert das Thema in ein anderes Milieu und liest es neu aus: wie Charlie (Harvey Keitel) kann Chiko aufsteigen und er tut es auch eine Weile und wie Charlies Alter Ego Johnny Boy (Robert de Niro) hat auch Chiko einen Klotz am Bein, seinen Freund Tibet (Volkan Özcan), der heimlich in die eigene Tasche wirtschaftet und danach von Brownie zum Krüppel gefoltert wird und fürderhin als finsterer Todesengel auf Rache sinnt. Wie Charlie hat auch Chiko ‚seine’ Liebe – Meryem, eine Nutte (Lady Bitch Ray alias Reyhan Şahin).
Während in Scorseses Little Italy die katholischen Obsessionen die Sexualität deformieren, geht es bei Yildirim deutlich ungezwungener zu. Aber auch in dieser Parallelwelt geht es wie bei Scorsese um Religion: die Helden gehen in die Moschee und Chiko ist überzeugt seinen Freund Tibet gleich am Anfang davon, dass sein Gott ihm helfen wird, wenn er ihn von seinem Glauben überzeugen kann. Mit solchen kleinen Details erzeugt Yildirim eine enorme atmosphärische Präsenz, die es ihm auch erlaubt, neben dem Kernplot gleichzeitig auch ziemlich souverän das Gender-Problem im deutsch-türkischen Sub-Proletariat abzuhandeln (ziemlich überzeugend dabei: Reyhan Şahin als emanzipierte türkische Nutte).
Chikos Talfahrt beginnt, als er ganz oben angekommen ist: er erinnert an wenig an den dämlichen Henry Hill (Ray Liotta) in „Good Fellas“: großer Schlitten, eigenes Restaurant, Koks und viel Kohle, aber keine Strategie. Aber da ist auch ein Schuss James Cagney in Chiko und das ist dessen virulente Gewaltbereitschaft, die ohne Hoffnung auf Impulssteuerung förmlich explodiert. Tibet schießt auf Brownie, ohne Erfolg, und Chiko soll seinen längst fallengelassenen Freund aus dem Verkehr ziehen. Natürlich endet dies böse und am Ende wissen wir, dass wir lange darauf warten müssen, bis uns der gute alte „Tatort“ so schlimme Geschichten erzählt. Trotzdem rate ich davon ab, den Film ohne echte Milieukenntnisse als realistische Großstadtstudie zu komsumieren. "Chiko" ist wie viele Erstlinge zuerst Stil, also Form, und erst danach Inhalt, wenngleich das Echo des Wirklichen ziemlich laut dröhnt. Und als stilistische Fingerübung stellt "Chiko" locker das Meiste in den Schatten, was hierzulande mit Filmförderungsmitteln in die Kinos gespült wird.

Noten: Mr. Mendez, Melonie, BigDoc = alle 2. Damit hat sich „Chiko“ auf dem geteilten 2. Platz der Halbjahresliste platziert.
Neben diversen Auszeichnungen wurde Chiko für den Deutschen Filmpreis in den Kategorien Bester Spielfilm, Hauptdarsteller (Denis Moschitto), Drehbuch und Schnitt nominiert. Drehbuchautor Yıldırım und Cutter Sebastian Thümler gewannen den Preis.

Pressespiegel:
"Es gibt zwei Möglichkeiten „Chiko“ zu sehen: Als realitätsnahes Abbild dieser Parallelgesellschaft, oder als Gangster-Genrefilm. Liest man ihn als Soziogramm, dann könnte Roland Koch damit die beste Propaganda für die allerhärteste Ausländer-Abschiebe-Politik aller Zeiten machen. Denn ganz ehrlich: Diese Typen sind so widerwärtig, dass der menschenfreundlichste Hippie zum Immigranten-Feind wird. In Interviews ist zu lesen, dass Yildirim vorschwebte einen Gangster-Streifen zu drehen, womöglich im Geiste großer Genre-Meister wie Scorsese, aber dazu fehlt seiner Hauptfigur jene moralische Zerissenheit, die diese Genre-Helden ausmacht. „Chico“ hat weder eine Fallhöhe, noch steckt er in einem moralischen Dilemma, er ist einfach nur ein dummer, skrupelloser Typ, der über Leichen geht" (Sandra Vogell, Bayern 3).

"Chiko wurde just zu dem Zeitpunkt erstaufgeführt, als die polemisch geführte Debatte um kriminelle Jugendliche „mit Migrationshintergrund“ auf ihrem Höhepunkt war. Vor diesem Hintergrund ist es nicht unproblematisch, dass der Film als „authentisch“ beworben wird. Denn so genau und kenntnisreich der Film Milieu und Slang seiner Helden zeigt, so wenig erfährt man über deren Welt als konkreten historischen und sozialen Ort. „Ghetto“ und „Unterwelt“ bleiben hermetische, zeitlose Räume, die immer so waren und immer so bleiben. Und die wenigen Plätze und Menschen außerhalb dieses Kosmos – Chikos Ex-Freundin und ihre gemeinsame Tochter, eine islamische Gemeinde, die den flüchtigen Tibet aufnimmt – stehen fast bezugslos zum Rest des Films... Wenn er Pech hat, nützt er so denen als Anschauungsmaterial, die junge Männer mit Migrationshintergrund für die naturgemäß „gefährlichste Spezies der Welt“ (Der Spiegel) halten" (Maurice Lahde auf critic.de).

"Trotz der Anlehnung an große Vorbilder ist Yildirim etwas ganz Eigenes gelungen. Ein schnörkelloser Genrefilm mit der Wucht eines antiken Dramas. Denn in dem Moment, als Brownie Tibet misshandelt, weiß Chiko, dass er sich irgendwann gegen Brownie stellen muss, der ihn auf der Erfolgsleiter höhersteigen lässt und mit dessen Geld er und seine neue Freundin, die Prostituierte, sich eine schicke Wohnung leisten. Und den Lowrider" (Rudolf Worschech in epd-film).

"So erzählt "Chiko" nebenbei von den schlingernden Grenzverläufen im leicht-, halb- und schwerkriminellen Milieu. Der Film spielt zwar auch in Teestuben und Moscheen, aber eben auch in den Bungalows und Restaurants des neuen freien deutschen Unternehmertums. Anders als der spekulative Kiez-Schocker "Knallhart", mit dem Detlev Buck vor zwei Jahren billiges Futter für die Jugendgewaltdebatte lieferte, lässt sich "Chiko" deshalb weder von Sozialpädagogen noch von Islam-Kritikern instrumentalisieren.
Stattdessen behält Özgür Yildirim bei allem Sinn für Melodramatik einen klaren Blick für die Widersprüche seines Viertels. Denn Hamburg-Dulsberg ist natürlich gar kein richtiger Hexenkessel – es ist nur höllisch unübersichtlich. Glücklich, wem da beim Koksen nicht der Riecher kaputtgegangen ist" (Christian Buß in DER SPIEGEL).